"Sacre du Printemps" ist mehr als eine revolutionäre Tanzproduktion. Mehr als ein wirkungsmächtiges Musikstück. Es ist, wie man so oft hört, ein "Meilenstein der Moderne", an dem sich die Moderne in ihrer ganzen Vielschichtigkeit zeigt. Der zentrale Aspekt des "Opfers", die ideen- und kulturgeschichtlichen Zusammenhänge von "Modernismus und Primitivismus" sowie die formalen Verbindungen von "Abstraktion und Ornament" bildeten den Rahmen für die viertägige Durchleuchtung des Phänomens "Sacre".
Während der Politikwissenschaftler Herfried Münkler die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die Rezeption des "Sacre" und anderer zeitgenössischer Kunstwerke verdeutlichte und damit der Kunst einen geschichtstheoretischen Horizont eröffnete, verwies Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter auf die Ambivalenzen, die eine Auseinandersetzung mit dem "Sacre" auch für uns heute noch interessant machen.
Gabriele Brandstetter: "Das eine ist ein ästhetischer Schock, dass Avantgarde im Tanz- und Musiktheater zusammen kommen und völlig neue Wege gegangen werden mit Strawinskys Musik und Nijinskys Choreographie auf der einen Seite, dass aber auch, das Thema, das da verhandelt wird – es geht um das Opfer einer jungen Frau und es geht um das Thema einer Erneuerung der Kultur aus der Natur heraus – dass das Themen waren, die damals Künstler, Intellektuelle und auch Wissenschaftler interessiert haben – diese Ambivalenz der Moderne, die sich in diesem Stück, auch ganz klar in diesem Rückwärtsgewandten auf der einen Seite und in diesem vollkommen neuen Vokabular in der Formensprache und in der Ästhetik auf der anderen Seite zeigt."
Gabriele Brandstetter hat diese Konferenz organisiert – mit viel Gespür für die sich gegenseitig befruchtenden Verschränkungen von Theorie und Praxis. So wurde die Reihe von Aufführungen von einer Rekonstruktion eröffnet: die Theater Osnabrück und Bielefeld haben mit einem Rekonstruktionsteam die Sacre du Printemps-Fassung von Mary Wigmann aus dem Jahre 1957 wiederauferstehen lassen – so originalgetreu wie möglich. Angesichts des weihevollen Schreitens auf der Bühne, der dramatisch gen Himmel gehobenen Arme, überhaupt des ganzen hohepriesterlichen, zeremoniellen Gebahrens fühlt sich der Zuschauer wie bei einem Besuch im Museum.
Komplex, schwierig und ungeheuer modern
Das anschließende Gespräch verdeutlichte allerdings genau die Unterschiede zu dem museal gut darstellbaren Erbe der Kunstgeschichte: denn die Rekonstruktion eines Tanzstücks, so genau und detailverliebt sie sein mag, kann niemals das Original sein. Nicht nur, weil es, wie im Fall Mary Wigmanns, keine filmische Aufzeichnung gibt und die Choreographie anhand von Fotos, Notizen und den oft nebulösen Erinnerungen von Zeitzeugen rekonstruiert wurde. Sondern auch weil vor allem die "Instrumente" heute ganz andere sind. Madeline Ritter, Leiterin des Tanzfonds Erbe:
"Es muss ja getanzt werden, es sind Tänzer, die aus der heutigen Zeit kommen und die eine Verbindung herstellen zu der Körpertechnik von Wigmann, die aus einer ganz anderen Zeit kommt. Und der Prozess des Erarbeitens ist das eigentlich Spannende und der Zuschauer guckt am Ende drauf und fragt: Ach, ist das das Wigmann-Stück? Das ist die Frage, die am meisten gestellt wird und wie viel Prozent Wigmann ist denn das vom Original."
Für das Thema Rekonstruktion sind die Choreographin Millicent Hodson und der Kunsthistoriker Kenneth Archer die Experten. Zusammen mit Tänzern von Sasha Waltz führten die beiden auf der Konferenz vor, wie so eine Rekonstruktion in der Praxis Stück für Stück entsteht. Nijinskys Choreographie, oder das, was wir dafür halten, wurde unter ihren Händen wie ein Korpus in seine Glieder unterteilt, auseinander genommen und in Segmenten von den Tänzern erlernt. Millicent Hodson erklärte die einzelnen Schritte, ließ die Tänzer in verschiedenen Phasen vormachen und sie zum Schluss alles noch einmal zur Musik tanzen.
Diese großartige Vorstellung gab nicht nur Aufschluss über den Prozess der Annäherung und Aneignung eines Werkes der Vergangenheit, sondern machte noch einmal ganz besonders deutlich, wie komplex und schwierig und auch wie ungeheuer modern Nijinskys Choreographie gewesen ist.
Tänzer sind irgendwas zwischen Mensch und Tier
Von den zeitgenössischen Varianten des "Sacre" ist besonders die von Laurent Chétouane hervorzuheben: "Sacré Sacre du Printemps". Auch in der Fassung des französischen Theatermachers finden sich die ewigen Insignien des Originals: platte Füße, Stampfen, kantige Armbewegungen, der Kreis als Bewegungseinheit. Doch selbst Tanz erfahrenen Zuschauern bleibt hier alles unverständlich: seine fünf Tänzer mit ihren angedeuteten Gesichtsbemalungen sind irgendwas zwischen Mensch und Tier, primitiven Zwitterwesen und modernen Individuen. Ihre Motivationen, Gesten und Handlungen, ob gelöst oder angespannt, können einfach nicht enträtselt werden. Sie bleiben schlichtweg fremd – und genau diese nicht zu dechiffrierende Fremdheit ist ein wichtiger Aspekt des Sacre, wie Theaterwissenschaftler Nikolaus Müller-Schöll hervorhob:
"Das bei der Uraufführung 1913 mit großer Ablehnung und Unverständnis aufgenommene, zugleich aber Epoche machende Stück wird als eines begriffen, dass das Fremde, welches in die Gesellschaft hineinholt, zugleich seiner 'eigentlichen Fremdheit beraubt'. Die Frage, die Chétouane daher zum Gegenstand seiner Choreographie macht, lautet: Wie kann das Fremde fremd bleiben?"
Es sind genau diese Ergänzungen von Praxis und Theorie, von sinnlicher Wahrnehmung und intellektueller Durchdringung, von Vorträgen, Debatten und Aufführungen, die diese vier Tage "Tanz über Gräben" so interessant gemacht haben. Mit der Ausrichtung solcher Konferenzen geht die Kulturstiftung des Bundes in die bestmögliche Richtung: Statt wie auf einem Festival schauen, meckern und Sekt trinken gilt hier: schauen, zuhören, hinterher mehr wissen und besser verstehen.