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Konfessionslose und Katholikentag
"Leben mit und ohne Gott" in Leipzig

Leipzig ist eine Stadt mit einem Katholikenanteil knapp unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde. Katholiken bezeichnen diese Minderheitensituation als Diaspora. Die meisten Ostdeutschen sagen: Mir fehlt nichts. Dennoch widmen sich in Leipzig 40 von 1.000 Veranstaltungen den Konfessionslosen. Viele von ihnen sagen: "Religiös? Atheistisch? Ich bin normal."

Gert Pickel im Gespräch mit Andreas Main |
    Gert Pickel, Professor für Kirchen- und Religionssoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig.
    Gert Pickel, Professor für Kirchen- und Religionssoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. (imago / CommonLens)
    Wie Kirchenmitglieder und Konfessionslose ticken - das erforscht seit Jahrzehnten der Leipziger Religionssoziologe Gert Pickel. Er ist Professor am Institut für Praktische Theologie der Universität Leipzig. Er hat auch den Katholikentag in Regensburg vor zwei Jahren wissenschaftlich begleitet. Seine These: Katholikentage sind - wie der Evangelische Kirchentag - ein Treffen der Hochengagierten. Die meisten kommen primär, um Gleichgesinnte zu treffen. Das hat für ostdeutsche Katholikentags-Besucher eine besondere Relevanz, weil sie sich fast nie als Masse erleben. Katholikentage sind gemeinschaftsstiftend und identitätsbildend. Darüber allein zu berichten, ist aber für Medienvertreter nicht ausreichend interessant. Deswegen konzentrieren sie sich auf politisch heiße Eisen und auf Prominente.
    Andreas Main: Orientierungshilfe für die Gesellschaft – ist es das, was Katholikentags-Besucher wirklich wollen? Wie ticken die? Einer, der es wissen muss, ist jetzt bei mir im Ü-Wagen. Es ist Gert Pickel. Er ist Professor für Religionssoziologie am Institut für Praktische Theologie der Universität Leipzig. Guten Morgen, Herr Pickel.
    Gert Pickel:. Guten Morgen.
    Main: Sie leben und lehren in Leipzig, Sie sind Protestant. Sie haben gerade eine Studie vorgelegt – mit Ergebnissen zum 99. Katholikentag in Regensburg. Was suchen Menschen, die zum Katholikentag kommen?
    Pickel: Sie suchen in der Tat Selbstvergewisserung, sie suchen Gemeinschaft und sie suchen andere Menschen, die so ähnlich denken wie sie selbst auch. Bei Katholikentagen haben wir – das ist so ein bisschen ähnlich auch zu den evangelischen Kirchentagen – die Personen, die zivilgesellschaftlich besonders engagiert sind. Deswegen ist natürlich, was wir gestern Abend gehört haben, auch genau an dieses Klientel gerichtet. Diejenigen, die aktiv sind, die in der Kirche aktiv und die darüber hinaus aktiv sind und in die Gesellschaft hineinwirken.
    Main: Also Hochengagierte. Sie kennen das Programm des Katholikentags. Womit rechnen Sie – was wird das große Thema bei Teilnehmern und in der veröffentlichten Meinung?
    Pickel: Zwei Punkte werden sich wahrscheinlich in den Vordergrund rücken. Das eine ist natürlich durch den Ort auch offensiv gewählt: die Auseinandersetzung und als Ziel natürlich auch der Dialog mit Nicht-Religiösen, Konfessionslosen – was ja nicht unbedingt Nicht-Religiöse sein müssen, das ist immer so zumindest die Hoffnung. Das wird ein Punkt sein, der ganz stark ist - und da hat man auch sehr stark in die Stadt hinein sich ja geöffnet und hofft darauf, dass es zu Kommunikationsprozessen kommt. Ein zweiter wird natürlich vor dem Hintergrund der Integrationsdebatte sehr, sehr stark die Debatte sein, wie gehen wir damit um und vor allem mit Menschen und Personen um, die da dagegen sind. Denn beim Katholikentag werden hauptsächlich diejenigen sein, die in der Flüchtlingshilfe aktiv sind, also die dem positiv gegenüberstehen. Man hat ja gerade schon im Vorfeld, als es dazu kam, dass man die AfD nicht eingeladen hatte, gesehen, dass hier scheinbar eine Kontroverse bis tief in die katholische Kirche auch hineingeht, sich durchzieht. Und das wird sicherlich ein Schwerpunkt auch sein.
    "AfD überstrahlt einiges"
    Main: Wir Journalisten suchen ja immer nach dem heißen Eisen und steigen dann auf genau solche Themen ein, rücken Flüchtlinge, Islam und AfD in den Mittelpunkt. Inwieweit beißt sich das mit dem, was die Katholikentagbesucher suchen?
    Pickel: Es ist in der Tat ein bisschen problematisch – das überstrahlt natürlich sehr vieles, was im Kleinen hier passiert. Oder was auch gar nicht mal so im Kleinen passiert. Wir haben viele Podien, in den ganz konkrete Fragen von Sterbehilfe – was ja auch sehr wichtige Fragen sind – debattiert werden unter unterschiedlichen Positionen. Auch eigentlich heißt politische Eisen, die aber dann irgendwie untergehen vor so einem Hintergrund. Und auch diese Bandbreite wird dann häufig nicht so erreicht.
    Main: Juden, Christen und Muslime – eine andere Gruppe wird darüber oft vergessen. Auch wenn es in dieser Sendung schon angeklungen ist. Es geht um die Konfessionslosen. Beim Katholikentag hier in Leipzig soll der Dialog mit Konfessionslosen im Zentrum stehen. 40 von 1.000 Veranstaltungen in Leipzig widmen sich der Konfessionslosigkeit. Ein solcher Programmschwerpunkt – was schätzen Sie, welche Auswirkungen könnte der haben?
    "Die Gruppe der Konfessionslosen wächst am schnellsten"
    Pickel: Er hat natürlich deutliche Auswirkungen. Es ist ja durch die Mischung des Ortes und des Schwerpunktes, das in den letzten zehn Jahren noch mal an Dynamik gewonnen hat. Wir haben einfach schlicht und ergreifend bei den großen Volkskirchen starke Verluste zu sehen, und wir haben eine deutliche Zunahme der Konfessionslosen. Wir reden über Muslime, aber eigentlich ist die Gruppe der Konfessionslosen, die die am stärksten gewachsen ist in den letzten Jahren – das muss man sich ja vor Augen führen. Und somit ist natürlich klar, dass man hier in eine Kommunikation, in einen Dialog auch hinein gehen muss, vor allem in der Hinsicht, dass man sich wechselseitig erst einmal zu verstehen lernt. Dadurch, dass es auch Ortsdifferenz noch ist - also in Ostdeutschland viel mehr Konfessionslose, das ist dort eine deutliche Mehrheit, in Westdeutschland immer noch eine deutliche Mehrheit von Konfessionsmitgliedern - haben wir natürlich auch manchmal Verständnisprobleme. Das wird dann auch miteinander vermengt.
    Main: Kann das nicht auch als Missionsversuch verstanden werden – wenn ich mich hineinversetze in einen ostdeutschen Konfessionslosen?
    Pickel: Das ist immer das Problem. Man muss natürlich offen miteinander umgehen. Man muss zu verstehen lernen: Was denkt der andere - und ist der vielleicht genauso wie ich? Das ist ja häufig, was in ganz normalen Kontakten herauskommt. Aber in dem Moment, wo es missionierend wird, dann gibt es eine sofortige Abschottung. Jeder Ostdeutsche wird da sehr allergisch reagieren. Aber umgekehrt hat sich die Lage der letzten zwanzig Jahre etwas entspannt. Man hat gemerkt, mit den Missionsversuchen zu Anfang - das hat dann aufgehört, und jetzt können wir auch mal darüber reden, jetzt kann man auch mal nachfragen, was ist denn das überhaupt. Aber es ist natürlich auch schwierig, denn es fehlt auch wenig die Anschlussfähigkeit an das, was letztendlich Christen dann sagen. Man hat nicht dieselbe Sprache an vielen Stellen, und manches ist dann auch ein bisschen verwirrend.
    Sonderfall Leipzig
    Main: Sie leben hier, Sie erforschen dieses Phänomen als Religionssoziologe. Der Katholikenanteil zum Beispiel hier in Leipzig liegt bei 4,3 Prozent, aber die Tendenz ist steigend. Wie ist dieser Anstieg zu begründen?
    Pickel: Leipzig ist ein bisschen ein Sonderfall. Das kann man allerdings auch sehen, dass aktive, agile Gemeinden vor allem sehr stark auf eine Gemeinschaft setzen, die sehr stark eben auf den Menschen setzen, das passt sehr gut hier dazu, häufig erfolgreich sind. Da ist auch die Gruppe, die wir hier beim Katholikentag häufig sehen, die sozial miteinander etwas tun, das ist im Katholizismus und um den Katholizismus angesiedelt. So ist es eher unüblich, dass zum Beispiel Gottesdienstbesucher ansteigen – selbst das ist hier ein bisschen mäßig - aber dass man halt aktiv in seiner Kirche und zu verschiedenen Fragen arbeitet, das merkt man hier sehr deutlich.
    Main: Der Blick über Leipzig hinaus – Sie haben in Interviews von einer Kultur der Konfessionslosigkeit gesprochen und von einem sozialen Bedeutungsverlust von Religion. Wird uns das deutschlandweit erhalten bleiben oder sogar noch stärker prägen – Katholikentage hin oder her?
    Pickel: Das wird uns prägen. In den nächsten Jahren werden wir davon ausgehen, dass in Westdeutschland sich die Situation eher stärker Ostdeutschland annähert und dass diejenigen, die vorsichtig der Religion insgesamt gegenüberstehen, stärker in den Vordergrund treten.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.