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Konflikt in Kaschmir
Gewaltsamer Kampf für die Unabhängigkeit

Die Region Kaschmir ist seit fast 70 Jahren zwischen Pakistan und Indien geteilt. Seit dem Tod eines jungen muslimischen Kämpfers im indischen Teil Kaschmirs erlebt die Region wieder schwere Unruhen. Für die indische Regierung war der Mann ein Terrorist - viele junge Kaschmiris verehren ihn als Märtyrer.

Von Sandra Petersmann |
    Die Familie von Burhan Wani hat ein großes Banner aufspannen lassen.
    Die Familie von Burhan Wani hat ein großes Banner aufspannen lassen. (Deutschlandradio/Sandra Petersmann)
    Das Haus im südlichen Kaschmirtal, in dem kleinen Örtchen Tral, ist von einer Backsteinmauer umgeben. Über dem Eisentor, das in die Mauer eingelassen ist, hat die Familie von Burhan Wani ein großes Banner aufspannen lassen. Darauf steht: "Burhan Wani - der Stolz der Nation". Gemeint ist die kaschmirische Nation. Burhan ist auf dem Banner links und rechts zu sehen: ein gutaussehender, junger Mann in Tarnuniform, die Kalaschnikow trägt er lässig auf der Schulter.
    "Er war ein freundlicher, lustiger Junge. Er war auch sehr modebewusst und hat sich viermal am Tag umgezogen", berichtet seine Mutter Mahimana lächelnd. Wie eine gebrochene Frau wirkt sie nicht. Sie betont mehrfach, wie stolz sie ist. Auf die Frage, ob sie versucht hat, ihren Sohn aufzuhalten, als er mit 15 Jahren in den bewaffneten Untergrund ging, reagiert sie erstaunt.
    "Warum hätte ich ihn aufhalten sollen? Ich habe ihn mit meiner Milch genährt, wir haben ihn zu einem guten Moslem erzogen, er hat sich für den Weg Gottes entschieden."
    Kampf für ein unabhängiges Kaschmir
    Burhan Wani wurde nur 22 Jahre alt. Bis zu seinem Tod am 8. Juli postete er regelmäßig Videos auf Facebook. Sein Kampf fand vor allem in den sozialen Medien statt, um andere Jugendliche gegen Indien zu mobilisieren. Seine Eltern haben nicht nur ihn verloren. Im vergangenen Sommer war bereits Burhans älterer Bruder Khalid von Sicherheitskräften erschossen worden. Für den indischen Staat waren die beiden Wani-Brüder Terroristen.
    "Ich fühle mich gut", sagt Vater Mohammed Muzaffar Wani, als er vor dem Grab seiner beiden Söhne steht. "Hier treffen sich die beiden Brüder, das macht mich glücklich und stolz, ich danke Gott."
    Vater Wani ist Mathe-Lehrer und ein tief religiöser Mann, der sich ein islamisches Kaschmir wünscht. Indien ist hinduistisch geprägt. Wani leitet eine weiterführende Schule für etwa 300 Kinder. Seine toten Söhne Burhan und Khalid seien sehr gute Schüler und begeisterte Cricket-Spieler gewesen, berichtet er. Heute steht auf ihren Grabsteinen, dass sie als Märtyrer gestorben sind.
    Der Vater des ermordeten Kämpfers Burhan Wani.
    Der Vater des ermordeten Kämpfers Burhan Wani. (Deutschlandradio/ Sandra Petersmann)
    "Im Koran steht, dass derjenige, der im Namen Gottes stirbt, ein Märtyrer ist. Unser Kampf wird weitergehen, bis wir unsere Unabhängigkeit von Indien erreicht haben", erklärt Vater Wani.
    Gewaltsame Proteste
    Die kaschmirische Jugend sei "durch Burhans Tod aufgewacht aus ihrem mentalen Schlaf."
    Das Kaschmirtal brennt vor Wut. Vor allem der Süden rund um Tral, der Heimat der Wanis, beklagt viele Opfer. Junge, männliche Demonstranten greifen Sicherheitskräfte, staatliche Gebäude und Zivilisten an, die sie als Gegner empfinden. Mit Steinen, Molotow-Cocktails und brennenden Reifen. Die Sicherheitskräfte schießen mit Tränengas, Blendgranaten und auch mit Pellet-Gewehren. Die kaschmirische Journalistin Sumaiya Yousuf berichtet täglich über die Gewalt. Sie ist 24 Jahre alt.
    "Indien setzt seine Truppen hier in einem solchen Ausmaß ein, dass ich betonen möchte, dass diese Truppen missbraucht werden. Die politische Elite in Indien versteht einfach nicht, was hier passiert. Indien verliert den Kampf um die Herzen und Köpfe."
    Sumaiya ist ein Kind der 90er-Jahre. Sie ist unter einer massiven indischen Militärpräsenz aufgewachsen, die viele Kaschmiris als Besatzung empfinden.
    "Für Kaschmiris war Burhan kein Terrorist, sondern ein Held, der gekämpft hat. Das Kaschmir-Problem ist seit Jahrzehnten ungelöst. Indiens kalter Krieg mit Pakistan geht immer weiter. Kaschmir ist ein Ziel und ein Opfer. Wir sind ein geteiltes Volk in einer geteilten Region."
    Konflikt zwischen Indien und Pakistan nimmt kein Ende
    Das früher unabhängige Fürstentum in der Himalaya-Region ist seit 1947 geteilt. Damals zerfiel das britische Kolonialreich in die verfeindeten Länder Indien und Pakistan. Um Kaschmir haben die beiden Atommächte zwei ihrer bisher drei Kriege geführt. Indien macht Pakistan für islamistischen Terror in Kaschmir verantwortlich. Früher sickerten regelmäßig Kämpfer aus dem pakistanischen Teil Kaschmirs in den indischen ein. Heute entscheiden sich im indischen Teil selber immer mehr junge Kaschmiris für den bewaffneten Kampf.
    Seit Burhan Wani’s Tod sollen dutzende ihre Familien verlassen haben, um sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen, berichten Sicherheitskreise in Kaschmir.
    "Das ist eine völlig neue Herausforderung für uns. Das hat etwas mit den Schulen, mit den Eltern, mit der sozialen Führung zu tun. Die Unruhen jetzt sind nicht nur ein politisches oder administratives Versagen. Das ist ein soziales Versagen", sagt Waheed Ur Rehman. Der 28-jährige Politiker leitet den Jugendflügel der regierenden Demokratischen Volkspartei PDP. Waheed hat sich gegen den politischen Boykott Indiens entschieden, den kaschmirische Separatisten-Gruppen propagieren. Er steht unter Polizeischutz und kann zurzeit sein Haus kaum verlassen – wie die meisten kaschmirischen Politiker, die an indischen Wahlen teilnehmen. Ihnen schlägt die geballte Wut der Jugend entgegen.
    "Kaschmir hat zwei Jahrzehnte Gewalt hinter sich. Gewalttätige Menschen gelten als Helden", sagt Waheed. "Die, die Gewalt ablehnen, gelten als Feiglinge. Die Kinder hier glauben, dass du bewaffnet sein musst, um mutig zu sein. Burhan Wani steht für den bewaffneten Kampf, das zieht andere Jugendliche an, die sich auch stark fühlen wollen."
    Der 16-jährige Naweed liegt nach einer gewalttätigen Demonstration verletzt im Krankenhaus. Sein Gesicht ist übersäht mit Pelletwunden. Die Sicherheitskräfte feuern mit den schrotähnlichen Kugeln auf die jugendlichen Demonstranten, um sie auseinanderzutreiben. Naweed ist auf einem Auge blind. Sein Smartphone ist voll mit Videos von Burhan Wani.
    "Burhans Tod bedeutet uns viel. Er ist für Kaschmir gestorben. Ein Burhan ist tot, aber 10 neue Burhans werden kommen", versichert Naweed innbrünstig.