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Konflikt um Bergkarabach
Türkei zielt auf Korridor bis zum Kaspischen Meer

Es gehe der Türkei im Konflikt um Bergkarabach auch um Zugang zu den Gas- und Ölvorkommen im Kaukasus, meint der Politikwissenschaftler Hakan Günes. Auch Deutschland sei an diesen Ressourcen interessiert und erhoffe sich Zugang über die Türkei. Deutschland werde sich daher eher nicht direkt einmischen.

Von Marion Sendker |
Ölfelder außerhalb von Aserbaidschans Hauptstadt Baku am Kaspischen Meer im März 2019
Ölfelder außerhalb von Aserbaidschans Hauptstadt Baku am Kaspischen Meer im März 2019 (AFP / Mladen Antonov)
Aserbaidschanische Soldaten, türkische Kampfpiloten und Bomben, die armenische Panzer zerreißen. Dazu erklingt ein nationalistisches Lied: "Wirf die Feinde um, die Dein Land besetzten wollen! Schreibe Deine Geschichte mit Ehre, mein Sohn."
Das türkische Verteidigungsministerium hat einen Videoclip mit diesem Lied veröffentlicht. Offensichtlich mit demselben Zweck wie all die anderen Videos, die der Staat in Kriegszeiten teilt; Propaganda, um die türkische Bevölkerung von den eigenen Problemen abzulenken, schätzt Hakan Günes, Dozent für internationale Beziehungen an der Istanbul Universität:
"Die Türkei geht wirtschaftlich durch sehr harte Zeiten. Und die Außenpolitik läuft auch nicht gut, Ankara steckt gerade viele Niederlagen ein, zum Beispiel in Libyen. Das ist ein Grund. Ein anderer: Die türkische Rüstungsindustrie kann so mehr bewaffnete Drohnen verkaufen."
Dieses Bild stammt aus Aufnahmen, die das aserbaidschanische Verteidigungsministerium am Sonntag, dem 27. September 2020, veröffentlicht hat, und zeigt den Start einer aserbaidschanischen Rakete von einem Raketenwerfer an der Kontaktlinie der selbsternannten Republik Berg-Karabach, Aserbaidschan. 
Ein historisch stark aufgeladener Konflikt
Im Kaukasus ist der seit langem schwelende Konflikt um Bergkarabach eskaliert. Auf die Region zwischen Armenien und Aserbaidschan erheben beide Seiten Anspruch. Russland und die Türkei haben sich in den Konflikt eingeschaltet.
Türkischer General: Konflikt trage Moskaus Handschrift
Der Krieg in Bergkarabach komme Ankara zwar sehr gelegen, die Türkei habe ihn aber nicht angefangen oder heraufbeschworen. Das sei Russland gewesen, meint der Politikwissenschaftler. Denn Armeniens pro-Europa-Politik störe Moskau schon lange. Ein hochrangiger türkischer General, der namentlich nicht genannt werden möchte, teilt diese Ansicht. Der Konflikt trage die Handschrift Moskaus. Nach seiner Analyse habe der Kreml außerdem Ankara ganz bewusst in diesen Krieg hineinziehen wollen: Denn wenn die Türkei in Bergkarabach aktiv sei, könne sie sich nicht mehr so sehr um das syrische Idlib kümmern, wo sich Russland und die Türkei gegenüberstehen. Für Ankara kämpfen dort unter anderem auch syrische zum Teil islamistische Söldner. Der General bestätigt Medienberichte, wonach die Türkei mehrere Tausend von ihnen abgezogen und in den Kaukasus geschickt hat. Der Politikwissenschaftler Günes meint: Bergkarabach sei der Türkei gerade wichtiger als Idlib.
"Die Einmischung im Kaukasus sichert Ankara einen Sitz am Verhandlungstisch mit Moskau. Und ein intensives Verhältnis zwischen der Türkei und Russland ist für Ankara immer einen Vorteil bei Verhandlungen mit dem Westen – der ja gegen Russland ist."
Aserbaidschan, Stepanakert: Ein Mann geht an einem Haus vorbei, das von der aserbaidschanischen Artillerie durch Beschuss zerstört wurde.
Politologe: "Türkei und Russland entscheiden nicht, wann dieser Krieg zu Ende geht"
Der Konflikt um Bergkarabach habe sich mit dem Eingreifen der Türkei grundlegend verändert, sagte der Politologe Stefan Meister von der Böll-Stiftung im Dlf. Ein echter Waffenstillstand sei kaum möglich.
Gas- und Ölvorkommen im Kaukasus für Ankara von Interesse
Im Konflikt um Bergkarabach verfolge Ankara auch noch ein anderes Interesse. Es gehe um einen Korridor – von der Türkei bis zum Kaspischen Meer. Günes zeigt auf eine Landkarte: Im Südosten der Türkei gibt es eine 17 Kilometer lange Grenze mit Aserbaidschan. Dahinter liegt die Autonome Region Nachitschewan, eine Exklave Aserbaidschans in Armenien. Etwa 50 Kilometer weiter östlich kommt die Republik Nagorno-Bergkarabach. Diese 50 Kilometer wären wohl keine große Hürde mehr für die Türkei, wenn Aserbaidschan in Bergkarabach das Sagen zurückbekomme.
"So können die Gas- und Ölvorkommen im Kaukasus erreicht werden. Das ist einer der wichtigsten geopolitischen Gründe der Türkei in der Regierung, auch wenn so ein Korridor schwer umsetzbar ist. Es ist ein sehr idealistisches Anliegen der Türkei – und auch des Westens. Denn so ein Korridor kann Europa, den Balkan, Anatolien, den Kaukasus und Zentralasien verbinden."
Blick auf einen LKW in dem mehrere Soldaten sitzen
Der Krieg lenkt von den Krisen ab
Der wiederaufgeflammte Konflikt um die Region Bergkarabach bewegt die Menschen in Armenien und Aserbaidsschan gleichermaßen. Die Position der anderen Seite wird dabei jeweils kategorisch zurückgewiesen. Für die Regierungen beider Länder hat das Vorteile.
Experte: Deutschland wird sich wohl nicht in Konflikt einmischen
Zugang zu den Energieressourcen im Kaukasus sei auch ein deutsches Anliegen – und zwar seit Bismarck. Für Berlin würden aber nur zwei Wege dorthin führen: Über Russland – und das ist kaum machbar – oder über die Türkei. Auch deswegen würde sich Deutschland nicht besonders in den Bergkarabach-Konflikt einmischen, vermutet Günes. Dabei setze Armenien gerade alles daran, die Türkei so schlecht und böse aussehen zu lassen, wie nur möglich. Der türkische Staatspräsident Erdogan wolle den Genozid an den Armeniern nun fortsetzen, empörte sich zum Beispiel Armeniens Regierungschef Paschinjan und warnte auch Europa, dass die Türkei bald wieder vor Wien stehen werde.
Türkei - Image als starker Player aufpolieren
Für Günes inszeniert sich Armenien bewusst als Opfer der Türkei, um internationale Unterstützung zu generieren: "Sie brauchen eine externe Rechtfertigung für den Krieg. Deswegen übertreiben sie die Rolle der Türkei." Doch auch das dürfte Ankara am Ende in die Karten spielen: Denn die Türkei als Aggressor im Kaukasus darzustellen, führt dazu, dass die Regierung Erdogan im In- wie im Ausland stärker aussieht, als sie ist.