Ein Nachbarschaftszentrum in Barcelonas Altstadt. Der Veranstaltungssaal ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Auf der Leinwand sind Polizisten zu sehen, die sich vor einer Schule positionieren. Ihnen gegenüber, auf dem Schulhof: Dutzende Menschen die mit erhobenen Armen "Som gent de pau" skandieren: "Wir sind friedliche Leute".
Es sind Bilder vom 1. Oktober, dem Tag des katalanischen Unabhängigkeitsreferendums. Aufgenommen von denjenigen, die am Wahltag die Schule besetzt hatten, um dort die, für Madrid rechtswidrige, Abstimmung durchzuführen. Als das Treppenhaus der Schule gezeigt wird, holt Roser tief Luft. In einer Sequenz ist auch sie zu sehen, wie sie gemeinsam mit Dutzenden anderen versucht, den Zugang zum Wahllokal zu blockieren. Polizisten zerren eine Frau an den Haaren heraus, schubsen eine andere die Treppe herunter.
"Wenn ich das sehe, kommen in mir ganz widersprüchliche Gefühle hoch. Auf der einen Seite werde ich richtig wütend, auf der anderen Seite bin ich stolz. An dem Tag haben wir alle uns kennengelernt und haben einen neuen Weg beschritten. Aber natürlich schlagen mir diese Bilder auch auf den Magen."
Auseinandersetzung über eine neue Republik
Die 63-Jährige wägt ihre Worte vorsichtig ab. Sie war diejenige, der damals jemand die Schlüssel zur Grundschule zugespielt hatte. Jemand anderes brachte frühmorgens die Wahlurnen. "Wir alle gemeinsam haben das Referendum möglich gemacht", sagt sie. Manel, auch er Anfang 60, nickt. "An dem Tag haben wir uns den Respekt der Welt verdient", ist der schmale Mann mit der Nickelbrille überzeugt.
Für ihn war es das erste Mal, dass er sich politisch für die Unabhängigkeitsbewegung engagierte. Seitdem treffen sich er, Roser und zwei Dutzend andere Anwohner des Altstadtviertels Sant Pere einmal in der Woche beim "Komitee zur Verteidigung der Republik". Dort planen sie Proteste, debattieren darüber, wie die neue Republik aussehen soll.
"Ich war schon als junger Mann 'independentista'. Als Anarchist war ich gegen jede Form von Grenzen und habe an eine kommende weltumspannende Gemeinschaft aller Arbeiter geglaubt. Aber mit der Zeit habe ich gemerkt, dass die einzige Internationalisierung, die voranschreitet, die der großen Multis ist - und dass man als Arbeiter in seinem eigenen, also dem katalanischen Rahmen kämpfen muss."
Im Gegensatz zu Manel ist Roser, von Beruf Lehrerin, erst in den vergangenen Jahren zur Unabhängigkeitsbefürworterin geworden.
"Als junge Frau, während des Wandels von der Diktatur zur Demokratie, dachte ich, dass Spanien ein modernes, demokratisches Land werden kann. Ich habe das tatsächlich geglaubt. Aber als der Staatsterror gegen die baskischen Separatisten der ETA anfing, habe ich gesehen, dass auch die Sozialisten Teil des Staatsapparates wurden. Dann kam die Rezentralisierung unter der konservativen Volkspartei, und als dann tatsächlich ganz normale Spanier auf Initiative der PP Unterschriften gegen das katalanische Autonomiestatut gesammelt haben, hat es bei mir Klick gemacht."
Kritik an unverhältnismäßigen Repressionen
Das "Erbe des Faschismus", die "Repression des Staates": Diese Schlagworte tauchen auch an diesem Abend immer wieder auf. Von der "ungleichen Verteilung der Steuerlast", von fehlenden Investitionen – vor einigen Jahren noch das bekannteste Argument der Unabhängigkeitsbewegung – spricht kaum einer mehr.
Auf Rosers Handy blinkt eine Nachricht auf. Fünf junge Männer und Frauen von anderen "Komitees zur Verteidigung der Republik" sind in Polizeigewahrsam, weil sie während eines Streiks Gleise blockiert haben. Roser schüttelt den Kopf.
Immer schlechter sei es um die Demokratie des Landes bestellt. Neulich habe man ihr eine Strafe aufgebrummt, weil sie – als Zeichen der Solidarität mit den inhaftierten katalanischen Politikern – eine gelbe Schleife um einen Laternenpfahl gebunden hat. Auch sie hat gestreikt, um den Traum von der Republik wahr zu machen. Denn die Politiker hatten damals keinen Plan, wie sie ihr Versprechen von einem unabhängigen Katalonien realisieren wollten.
"Am Generalstreik am 3. Oktober hätten wir die Chance gehabt, tatsächlich die Kontrolle über das Territorium zu übernehmen, aber dazu braucht es einen Politiker, der das in die Hand nimmt. Und unsere Politiker waren psychologisch einfach nicht vorbereitet. Wir schon. Das ist heftig. Ja, sie haben uns belogen, weil sie keine Strategie für eine Unabhängigkeit hatten. Trotzdem zolle ich ihnen Respekt. Wir haben zum ersten Mal Politiker, die für uns ins Gefängnis oder ins Exil gehen. Das verpflichtet uns."
Und zwar zu kontinuierlichem Protest: Egal, was "die da oben machen". Von der neuen Regierung in Barcelona erhoffen sie sich Standfestigkeit. Und von der neuen Regierung in Madrid? Roser zieht skeptisch die Augenbrauen hoch. Nur gewaltiger Druck von außen könne dazu führen, dass sich Spanien in der Katalonienfrage bewegt. Manel ist ein klein wenig optimistischer.
"Wir wollen die Republik und wir werden sie bekommen. Aber natürlich möchten wir einen befriedenden Prozess. Dass jemand von der anderen Seite sich mit uns hinsetzt und verhandelt. Ich bin jetzt zwar sehr sauer auf diese ganzen Leute, auf diesen Testosteronstaat, aber ausschließen will ich Entspannung nicht."