Julia schließt die Tür zu ihrer Wohnung auf. Ihr Mann Ignasi ist noch im Büro. Vielleicht ganz gut, sagt Julia. Die 45-jährige mit den halblangen brünetten Haaren schlüpft aus ihrem Businesskostüm in einen bequemen Morgenmantel, setzt sich auf den Balkon und schenkt zwei Gläser Wein ein.
Sehr allein habe sie sich in den vergangenen Monaten gefühlt, sagt Julia. Denn der Streit um Kataloniens Unabhängigkeit hat die größte Krise ausgelöst, die das Paar je erlebt hat.
"Für Ignasi ist der Traum von der Unabhängigkeit der Antrieb seines Lebens. Für ihn und seine ganze Familie ist das ein unheimlich wichtiges Thema. Sie waren schon immer katalanische Nationalisten. Als wir uns vor zwölf Jahren kennengelernt haben, wussten wir natürlich, dass wir politisch anderer Meinung sind, auch wenn ich gar keine so dezidierte politische Meinung habe. Aber damals lagen die Nerven noch nicht so blank."
Als spanische Nationalistin beschimpft
Julia nimmt einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette. Als "spanische Nationalistin" sei sie beschimpft worden, dabei käme sie nie auf die Idee eine spanische Fahne vom Balkon zu hängen und spricht Katalanisch genauso gut und gern wie Spanisch. Bei den Wahlen hat sie ihr Kreuzchen meist bei den Sozialisten gemacht. Als sich für die Wahlen im September 2015 linke und rechte katalanische Parteien zu einem Pro-Unabhängigkeitsbündnis zusammenschlossen, hat sie die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, erinnert sie sich.
"Das Wichtigste ist für sie doch immer das nationale Gefühl gewesen, der Rest, das Wirtschaftssystem, Gesellschaftsreformen, alles das ist sekundär. Ich halte es für einen großen Fehler, wenn mit Gefühlen Politik gemacht wird. Aber genau das macht der Nationalismus. Mir ist es egal, wo jemand geboren worden ist. Ich gehöre zu keiner 'Erde'. Es ist mir einfach nicht wichtig, woher jemand kommt."
"Katalane ist, wer in Katalonien lebt und arbeitet", hat der ehemalige katalanische Regionalpräsident Jordi Pujol einmal gesagt. Julia lacht trocken auf.
"Das stimmt nicht. Katalane ist, wer hier lebt und arbeitet - und eine bestimmte Haltung teilt. Wir anderen gehören nicht dazu."
Alle haben um Julias "Nein" geworben
Julia blickt in den Hof ihres Wohnblocks. Im Schwimmbecken planschen Kinder, der Hausmeister harkt ein paar Blätter vom sorgsam gestutzten Rasen. Die Vila Olimpica ist ein Viertel für Gutverdiener. Die Chemikerin arbeitet im Außenhandel für einen Duftstoffhersteller: "Ich war die erste aus meiner Familie, die studieren konnte", sagt sie. Und: "Mich hat nie etwas in meiner Freiheit beschränkt". Auch deswegen ärgert es sie so sehr, wenn die Independentistas von "Repression" oder von Spanien als "faschistischem Staat" sprechen. Auch in ihrer eigenen Familie hat man sie als "undemokratisch" bezeichnet. Weil sie sich weigerte, an dem vom Verfassungsgericht verbotenen Referendum teilzunehmen. Ihre Familie wollte unbedingt, dass sie wählen geht, auch wenn sie mit "Nein" stimmen würde.
"Bei vielen unserer Streitereien ging es um mein angeblich 'mangelhaftes Demokratieverständnis'. Es war ja klar, dass die Nein-Stimmen instrumentalisiert werden würden. Sie waren einfach notwendig: Wenn die eine Hälfte wegbleibt, macht ein Referendum keinen Sinn. Ignasi, befreundete Familien aus der Schule: Alle haben um mein Nein geworben."
Julia und Ignasi haben eine gemeinsame Tochter. Wenn Julia die siebenjährige Mar morgens zur Schule bringt, passieren die beiden eine Kampfzone der Symbole: Stromkästen, die an einem Tag als Zeichen der Solidarität mit den inhaftierten Katalanen gelb besprüht worden sind, am nächsten mit roten Rändern zur spanischen Fahne werden. Ein trotziges "Free Junqueras" mit dem Konterfei des Ex-Vizepräsidenten an einer Hausfassade, über das am nächsten Tag jemand rote Gitterstäbe gemalt hat. Die Mutter versucht, so wenig wie möglich mit ihrer Tochter über Politik zu sprechen. Aber natürlich wisse Mar Bescheid.
Tagespolitik bleibt in der Ehe außen vor
"Unsere Tochter sagt immer: Redet nicht über Politik, Politik ist doch Mist. Weil wir ebenso viel darüber streiten. Gleichzeitig macht sie sich darüber lustig. An Sant Jordi, dem Namenstag des katalanischen Schutzpatrons, beschenkt man sich mit Rosen, und als Ignasi dann eine gelbe Rose gekauft hat, meinte sie: 'Deine Rose für die Freiheit lässt aber ganz schön ihren Kopf hängen.'"
Ignasi ist nach Hause gekommen, schnippelt in der Küche Gemüse. Die beiden begrüßen sich mit Küsschen, scherzen über den anstehenden Besuch beim Chiropraktiker. "Deinetwegen gehe ich dahin", sagt er. "Dank mir", korrigiert sie. Die Tagespolitik bleibt außen vor.
Als die Balkontür wieder zu ist, ein Seufzer. Ganz gleich, was die Zukunft bringt: Dass sie mit ihrem Mann jemals wieder ganz sachlich über die Lage der Nation diskutieren kann, glaubt sie nicht.
"In der westlichen Gesellschaft, in der es keine großen existenziellen Probleme gibt, haben viele ihren Lebenssinn darin entdeckt, einen Grund, für den es sich für sie zu kämpfen lohnt. Wenn man wie die Unabhängigkeitsbefürworter auf einer Demonstration mit einer Million Menschen teilnimmt, fühlt man sich als Teil des Ganzen. Als Individuum zu handeln, ist dagegen verdammt schwer."