Konflikte in Europa
Schulz: Europäische Strukturen haben den Krieg gebannt

Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, hat sich trotz der zunehmenden Eskalation in der Ostukraine für diplomatische Lösungen ausgesprochen. Man müsse jetzt verstärkt nach gemeinsamen Interessen zwischen dem Westen und Russland suchen, sagte er im Interview der Woche des Deutschlandfunks.

Martin Schulz im Gespräch mit Jörg Münchenberg |
    Martin Schulz gestikuliert, während er spricht.
    Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments, plädiert für weiteren Dialog mit Moskau (Alessandro Di Marco, dpa picture-alliance)
    Münchenberg: Herr Schulz, jetzt sind es noch gut sechs Wochen bis zu den Europawahlen, die eine wichtige Neuerung beinhalten: Erstmals treten die Parteien mit eigenen Spitzenkandidaten an. Es sind also Wahlen, die sind viel stärker personalisiert, sie haben ein Gesicht. Es gibt einen richtigen europäischen Wahlkampf. Wie ist denn bislang Ihre Bilanz? Kommt das beim Wahlvolk an? Nehmen die Bürger das auch an? Wird das registriert?
    Schulz: Wir sind in einer Phase des Wahlkampfs, wo ich zunächst mal nur über meine eigene Wählerschaft urteilen kann. Und da muss ich sagen: Das kommt sehr gut an. Wir haben als Sozialdemokraten in Europa ja ohnehin bei Europawahlen immer das Problem, dass unsere Wählerschaft weniger mobilisiert ist, als die konservative Wählerschaft. Es hat ja keinen Zweck, dass man das unter den Tisch kehrt. Jetzt ist es so, mit einem gemeinsamen Kandidaten, einem relativ verdichteten Programm, merke ich, dass der Mobilisierungseffekt in unseren Reihen steigt. Das macht mich optimistisch, dass wir einen richtig guten Wahlkampf hinbekommen.
    Münchenberg: Nun hat Europa seit ein paar Wochen eine schwere außenpolitische Krise zu bewältigen. Die Annexion der Krim durch Russland, die anhaltenden Unruhen jetzt auch in der Ostukraine. In wieweit spielt das bei dem Wahlkampf eine Rolle? Kriegen Sie da schon so ein Feedback auch, dass das die Bürger interessiert?
    Schulz: Ganz sicher. Ich glaube, dass für ganz viele Menschen zum ersten Mal sichtbar geworden ist seit langer Zeit, dass wir mit den Strukturen, die wir in Europa geschaffen haben, den Krieg gebannt haben. Aber die Kriegsgefahr ist nicht von diesem Planeten verschwunden. Und ich finde, man muss da auch das Wort in den Mund nehmen. Wir reden dann immer so ein bisschen verschwurbelt von "Ende der diplomatischen Lösungen" oder "militärischer Konfrontation" oder "bewaffnete Auseinandersetzung" – das sind andere Termini für Krieg. Und deshalb, dass der Krieg auch weiterhin möglich ist, das haben zum ersten Mal Menschen jetzt wieder real empfunden. Und aus diesem Gefühl heraus gibt es eine Wahrnehmung. Die Europäische Union ist eine Rechtsgemeinschaft, die sich gebildet hat auf der Grundlage der Stärke des Rechts. Was wir gerade an ihren Rändern erleben, ist das Recht des Stärkeren. Und ich glaube, dass das im Bewusstsein vieler Menschen doch eine gewisse Gestalt jetzt angenommen hat, wie wertvoll Europa ist.
    Wo haben wir gemeinsame Interessen?
    Münchenberg: Nun ist es vollkommen unklar, wie dieser Machtkampf, auch um die Ukraine, ausgehen wird. Und letztlich sind dem Westen ja auch ein Stück weit die Hände gebunden. Man hat gesagt: Die militärische Option – Sie haben das auch gerade erwähnt – steht natürlich nicht zur Verfügung, wirtschaftliche Sanktionen hat man an einen festen Mechanismus gekoppelt – erst wenn Russland jetzt erneut einmarschieren sollte, will man diese Option ziehen. Auf der anderen Seite sieht man ja, Russland setzt auf eine Art Zermürbungstaktik in der Ostukraine. Agiert hier Europa nicht trotzdem letztlich zu vorsichtig? Kommt man jetzt nicht auch zu einem Punkt, wo man sieht, das, was man bislang gemacht hat, reicht nicht aus?
    Schulz: Die Vorgänge in der Ostukraine aktuell zu bewerten, ist nicht ganz einfach. Ob das tatsächlich eine Massenbewegung ist oder ob das eine vereinzelte Aktion ist, das muss man noch mal genau bewerten und beurteilen. Mein Gefühl ist, es handelt sich noch nicht um eine Massenbewegung. Wenn dem so ist, dann ist der Schritt, den wir unternehmen müssen der, dass eine neugewählte Regierung in Kiew – wir haben ja auch dort am 25. Mai Präsidentschaftswahl und Parlamentswahl – unter allen Umständen von uns finanziell und politisch unterstützt werden muss. Um die Gräben, die es im Lande gibt – die übrigens zu einem ganz großen Teil auch soziale Gräben sind –, zu überwinden. Das Land zusammenzuhalten, geht durch wirtschaftliches Wachstum und durch eine Perspektive für die Regierung, das genau zu erzeugen. Und da muss die EU ansetzen. Im Übrigen, ich fand den Satz von Präsident Obama, den er hier in Brüssel gesagt hat: "Da ist noch Raum für diplomatische Lösungen" insofern eine Ermutigung, als Diplomatie immer mit einem Punkt beginnt, nämlich: Gibt es gemeinsame Interessen? Was wir im Moment machen, ist immer gemeinsam darüber nachzudenken: Wo sind die Konfrontationslinien? Ich rate dringend auch dazu, darüber nachzudenken: Wo haben eigentlich die Russische Föderation und die Europäische Union nachhaltige gemeinsame Interessen? Wenn wir die definieren und es schaffen würden, dort verstärkt zusammen zu arbeiten, würden sich, meiner Meinung nach, die Spannungen um die Ukraine deutlich reduzieren lassen.
    Münchenberg: Trotzdem muss man ja festhalten, es gibt ja diverse Gesprächsangebote des Westens, auch der Europäischen Union an Russland. Man hat aber nicht den Eindruck, dass Herr Putin auf diese Angebote wirklich zurückgreifen will?
    Schulz: Wie wir alle wissen, sind das hochkomplexe Vorgänge, die einer gewissen auch Beruhigung bedürfen, wenn turbulente Zeiten zur Konfrontation geführt haben. Wir haben jetzt erst mal gesagt: Russland ist kein G8-Staat mehr. Dass die da nicht Standing Ovations klatschen, kann ja jeder nachvollziehen. Wenn wir gleichzeitig sagen: Ihr seid nicht mehr in der G8, aber wir wollen mit euch reden, dann sind Begegnungen derart, wie sie Kerry und Lawrow jetzt in London gehabt haben, ein erster Schritt. Und dem muss dann eben auch ein Dialogschritt zwischen Vertretern der EU und Russland folgen. Und ich bin dann ziemlich sicher, dass wir schnell feststellen werden, wo diese gemeinsamen Interessen liegen. Ich nenne Ihnen einmal zwei: Russland braucht Devisen und wir brauchen Energie. Das ist ein gemeinsames Interesse, das man entwickeln kann. Russland braucht die Devisen – das ist der zweite Schritt –, um die enorme Infrastruktur in seinem Lande zu verbessern, also brauchen Sie Auslandslandsdirektinvestitionen. Daran ist unsere Industrie hochinteressiert – wir haben gerade Siemens in Moskau gesehen. Es gibt eine Menge gemeinsamer Interessen. Ich glaube, der alte Satz von Willy Brandt, dass der Wandel durch Annäherung erreichbar ist, da bin ich nach wie vor fest von überzeugt.
    Münchenberg: Nun hat ja dieser Konflikt auch eine bemerkenswerte Beschleunigung sozusagen der europäischen Außenpolitik erbracht. Also Europa spricht hier ja doch mit einiger Stimme, was normalerweise eher nicht der Fall ist. Die europäische Außenpolitik führt eher ein Schattendasein. Könnte das auch einen neuen Impuls bedeuten, dass viele Länder – vielleicht auch gerade Großbritannien – jetzt verstanden haben, wie wichtig es ist, auch außenpolitisch an einem Strang zu ziehen?
    Schulz: Ich hoffe, dass das so ist. Die Außenpolitik der Europäischen Union leidet nicht darunter, dass die Union nicht Willens wäre, eine einheitliche Außenpolitik zu betreiben, sondern immer dann, wenn Lady Ashton zum Beispiel, als hohe Beauftragte, eine bestimmte einheitliche Linie definiert hat, hat sie das Problem, dass in ganz bestimmten Hauptstädten – meistens den gleichen – andere Strategien erwogen werden. Und das wird dann anschließend der Union in die Schuhe geschoben. Das ist dann ein bisschen unfair. Es ist nach wie vor schwierig, aber ich gebe Ihnen Recht, wir haben mit der Ukrainepolitik – finde ich – einen großen Schritt nach vorne gemacht.
    Münchenberg: Nun könnte das ja auch noch eine andere Folge haben, dass sich manche Staaten in Osteuropa stärker an die Union auch anbinden wollen, vielleicht auch angebunden werden sollen – Moldawien etwa. Könnte also dieser Konflikt in der Ukraine auch so eine Art Katalysator sein für eine neue Erweiterungsrunde, mittelfristig zumindest?
    Schulz: Ich bin sehr vorsichtig in der Bejahung dieser Frage, weil wir zwei Dinge miteinander versöhnen müssen. Sie haben völlig zu Recht beschrieben, dass es diese Katalysatorenfunktion gibt. Moldawien, Georgien, die Ukraine selbst, sind Länder, die sagen: Der beste Schutz für uns ist die Mitgliedschaft in der EU. Es ist im Übrigen auch das beste Mittel, wirtschaftliche Stabilität herzustellen. Auf der anderen Seite wissen wir alle – denken wir an die Türkei, denken wir an den westlichen Balkan –, wie schwierig die Erweiterungspolitik im Moment ist. Weil es in der EU selbst und vor allen Dingen bei den Bürgerinnen und Bürgern eine Erweiterungsmüdigkeit gibt. Viele Menschen haben ja den Eindruck, wir hätten die letzte Erweiterung noch nicht verkraftet. Und diese beiden Dinge müssen wir unter einen Hut bringen. Ich glaube nicht an schnelle Erweiterungen. Und deshalb glaube ich, dass wir eine Intensivierung der Nachbarschaftspolitik betreiben müssen, in der wir die ökonomischen Perspektiven und die stabiltätserzeugende wirtschaftliche Zusammenarbeit verstärken müssen, ohne dass das sofort zu Beitritten führt. Mein Gefühl ist nämlich, wenn wir über enge ökonomische Kooperation zu einem Gewöhnungseffekt kommen, dann ist die Erweiterung unproblematischer.
    Die Troika an sich ist kein Problem
    Münchenberg: Im Interview der Woche des Deutschlandfunks heute Martin Schulz, Spitzenkandidat der Europäischen Sozialdemokraten für die Europawahl und damit eben auch Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten. Herr Schulz, Sie haben neulich in einem Essay geschrieben, Europa sei in einem schlechten Zustand. Es gibt die hohe Jugendarbeitslosigkeit, es gibt die schleppende wirtschaftliche Erholung in vielen Mitgliedsländern. Auf der anderen Seite gibt es ja auch Fortschritt. Ich nenne einmal ein paar: Die Bankenunion, die man ja wirklich in erstaunlich kurzer Zeit auf den Weg gebracht hat, Irland und Spanien aus dem Programm entlassen, aus den Hilfsprogrammen, Griechenland erzielt wieder einen Haushaltsüberschuss vor Zinsen, geht jetzt wieder an den Kapitalmarkt. Zählen diese Erfolge in Ihren Augen nicht?
    Schulz: Doch, natürlich zählen die. Und das sind sicher Silberstreife am Horizont, aber wir müssen nüchtern eines sehen: Zwischen dem, was wir hier in Brüssel als Resultate feststellen und dem, was Bürgerinnen und Bürger erleben, gibt es einen großen Graben. Wir haben 27 Millionen Arbeitslose, in machen Regionen Europas haben wir eine extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit, die regional über 50 Prozent liegt. Das heißt, jeder zweite Jugendliche hat keinen Job. Wir müssen uns hüten davor, statistische Ergebnisse als real greifbare Erfolge zu bewerten. Die Menschen, die das Gefühl haben, Spekulanten machen Milliarden Gewinne und zahlen dafür keine Steuern, aber wenn sie Milliarden Verluste machen, müssen die Steuerzahler für sie eintreten. Das ist das Bauchgefühl jetzt, sechs Wochen vor der Europawahl, das ich in vielen Ländern, übrigens auch in den erfolgreichen Ländern erlebe, das Empfinden von Ungerechtigkeit. Und deshalb, es gibt Anzeichen dafür, dass wir die Krise überwinden können, aber wenn wir das Leben der Menschen, von denen ich gerade gesprochen habe, nicht nachhaltig verbessern. Wenn wir keine Arbeit finden – übrigens eine der ganz großen Gefahren ist: Wirtschaft springt wieder an, aber die Arbeitslosigkeit sinkt nicht, das sehen wir zu Zeit in einigen Ländern –, dann ist die Krise absolut nicht beendet.
    Münchenberg: Weil Sie gerade schon von einem Bauchgefühl sprachen – auf der anderen Seite kann die Troika ja auch durchaus Erfolge vorweisen. Ich war kürzlich in Griechenland und da ist auch durchaus zu hören, dass manche sagen: Gäbe es die Troika nicht, die die Reformen quasi erzwungen hat, dann stünde Griechenland heute viel besser (Anmerkung der Redaktion: Gemeint ist schlechter) da. Nun haben aber ja auch gerade die europäischen Sozialdemokraten die Arbeit der Troika scharf kritisiert – muss man nicht trotzdem auch ein Stück weit diese Arbeit lobend anerkennen, so schwierig sie dann auch in der Umsetzung ist?
    Schulz: Wir haben nicht die Arbeit der Troika an sich kritisiert. Der Troika-Bericht ist übrigens kein sozialdemokratischer Bericht, sondern ist im Europaparlament von einem christdemokratischen Vizepräsidenten – Ottmar Karas – und einem sozialdemokratischen Berichterstatter – Ngoc, ein vietnamesischstämmiger, französischer Kollege – verfasst und vorgelegt worden und hat eine überwältigende Mehrheit quer über alle Fraktionsgrenzen gefunden. Deshalb muss ich das jetzt mal zurückweisen, dass es eine sozialdemokratische Kritik sei, ...
    Münchenberg: Das habe ich auch nicht behauptet. Es ist nicht nur sozialdemokratisch ...
    Schulz: ... sondern es ist die Kritik ... und es war auch keine Kritik an der Troika. Die Troika an sich ist kein Problem – sie hat ein Ziel, die Troika: Sich selbst überflüssig zu machen, nämlich wenn die Troika–Maßnahmen erfolgreich sind, brauchen wir sie nicht mehr. Ich finde, das ist auch gut so. Die Troika – da gebe ich Ihnen Recht – hat auch sehr viel Positives erreicht, nämlich die Bewegung zu strukturellen Reformen, die wir brauchen. Und deshalb ist in dem Bericht über die Troika auch nicht die Troika, also die drei Leute, diese institutionelle Kombination aus EZB, Kommission und Internationalem Währungsfonds kritisiert worden. Sondern ich greife mal ein Beispiel raus, über das wir auch eben geredet haben. In dem Zeitpunkt, wo wir in Griechenland die Renten kürzen, die Löhne senken, die Abgaben erhöhen, können zur gleichen Zeit die reichsten Griechen in Berlin oder London die teuersten Wohnungen kaufen.
    Münchenberg: Was ein marktwirtschaftlicher Vorgang ist...
    Schulz: Nein, was ein Defizit im Kampf gegen die Steuerflucht ist. Es kann ja nicht sein, dass die kleinen Menschen in Griechenland zur Kasse gebeten werden und richtige Milliardäre, milliardenschwere Leute in der Krise ungezählte Milliarden aus dem Land rausbringen können in irgendwelche Steueroasen. Und das ist zum Beispiel so ein Punkt, wo wir sagen in dem Troika-Bericht, wir hätten uns schon auch gewünscht, dass die Troika auf ein europäisches Steuerflucht-Abkommen gedrängt hätte. Ich glaube, dass das zum Beispiel die Wahrnehmung von Menschen ist, dass es etwas gerechter zugeht, dass die Schwachen alles bezahlen müssen und die Reichen nichts zahlen, gar nichts zahlen. Das geht nicht.
    Münchenberg: Nun war ein anderer Kritikpunkt mangelnde Transparenz bei der Arbeit auch der Troika. Was würde denn ein Kommissionspräsident Martin Schulz fordern – er kann das ja nicht umsetzen, das machen dann die Finanzminister – was würde er denn fordern, wie die Troika in Ländern wie Griechenland zum Beispiel, anders auftreten soll, anders arbeiten soll?
    Schulz: Noch mal, hier müsste man ins Detail einsteigen. Ich glaube, dass sie bei den strukturellen Reformvorschlägen, bei der Aufbrechung bestimmter Monopolstrukturen, bei Reformen bestimmter klientilistischer Strukturen, die es gab, da hat die Troika, glaube ich, gute Arbeit geleistet. Was die Gerechtigkeit bei der Lastenverteilung angeht, da hätte ich andere Akzente gesetzt. Ich finde, Olli Rehn hat einen psychologisch schweren Fehler gemacht, als er auf die Frage: "Wem ist die Troika eigentlich rechenschaftspflichtig?" gesagt hat: "Na ja, die EZB, ihrem Verwaltungsrat, der IWF, also der Internationalen Währungsfonds, dem Aufsichtsrat des IWF und ich den Mitgliedsstaaten". Ein Kommissionsrepräsentant ist zunächst einmal dem Europäischen Parlament gegenüber verantwortlich. Ich würde die Rolle der Europäischen Kommission viel stärker anbinden an das Europäische Parlament.
    Münchenberg: Auf der anderen Seite ist die Funktion der Troika, die Reformen zu überwachen. Und ich meine, man ist ja hier vor allen Dingen erst mal den Mitgliedstaaten auch verantwortlich, die ja letztlich die Garantien auch zur Verfügung stellen. Also in erster Linie sind die Ansprechpartner natürlich die Mitgliedstaaten und nicht das Europäische Parlament – weil Sie gerade sagten, die Troika soll sich doch auch vor dem Europäischen Parlament verantworten?
    Schulz: Ja, aber es geht um die Frage: Wo schafft man Sichtbarkeit und Hörbarkeit politischer Vorgänge für die Bürgerinnen und Bürger in Europa? Und der Ort ist das Europäische Parlament. Natürlich kann ich als Kommissar sagen: Moment mal, ich bin Frau Merkel verantwortlich – ja gut, dann rede ich mit Frau Merkel. Deutschland hat aber 82 Millionen Einwohner und nicht nur die Bundeskanzlerin. Und die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland haben sicher auch einen Anspruch darauf, dass der Deutsche Bundestag, aber eben auch das Europäische Parlament diese Maßnahmen diskutiert. Es geht ja nicht darum, dass wir in den Vertrag gucken und sagen: Ja, nein, da bin ich eigentlich nur verpflichtet, dem Bescheid zu sagen. Es geht in der Demokratie um Sichtbarkeit und Transparenz für alle. Und deshalb glaube ich, ein Defizit der Troika waren weniger ihre Inhalte, als das Gefühl von Menschen 'Wir wissen gar nicht, was die tun, wer sie beauftragt und warum sie das tun, was sie tun'. Und da war mein Vorschlag – und das würde ich als Kommissionspräsident auch jederzeit so machen –, offen mit diesen Dingen in das Europäische Parlament zu gehen, um damit eine europäische Öffentlichkeit und eine Debatte herzustellen.
    Reformen unideologisch diskutieren
    Münchenberg: Bleiben wir noch mal bei den Wackelkandidaten. Da rücken ja ein bisschen jetzt Frankreich und Italien in den Brennpunkt. Manche sagen schon, das könnten die nächsten Krisenstaaten werden, die natürlich eine ganz andere Bedeutung haben, wegen ihrem wirtschaftlichen Schwergewicht, was sie in der Eurozone spielen. Nun gibt es ja einen noch schwelenden Konflikt: Die neue französische Regierung hat jetzt angedeutet oder manche Politiker, sie würden ganz gerne eine Verlängerung haben, um die drei Prozent Defizitgrenze wieder einzuhalten. Sie unterstützen das, obwohl Paris schon zweimal eine Fristverlängerung bekommen hat?
    Schulz: Zunächst einmal bin ich Ihnen dankbar für die Frage, weil da kann man ja auch mal etwas klarstellen. Wenn die Regierung in Paris tatsächlich diese Reformen, die sie jetzt angekündigt hat, in Gesetzesform umwandelt und die Nationalversammlung das beschließt, dann haben wir einen, wie ich finde, großen Fortschritt gemacht. Wenn die dann sagen: Wir ziehen jetzt ein drastisches Reformprogramm durch und brauchen dafür ein Jahr länger Zeit, um es durchzusetzen, dann sind wir alle gut beraten, darüber zu diskutieren. Weil, was wollen wir? Dass Frankreich reformiert wird oder dass das unbedingt in drei Jahren durchgepeitscht wird? Und darum geht es doch. Wir haben 2004 in Deutschland doch Folgendes erlebt: Die Reformen der Agenda von Gerhard Schröder fanden statt zu einem Zeitpunkt, wo Gerhard Schröder ein Defizitverfahren aus Brüssel bekam. Wir alle wissen, wenn in der damaligen Situation die Bundesregierung von Gerhard Schröder die Reform hätte durchführen müssen, die ja so schon hochumstritten war und für die Gerhard Schröder am Ende die Wahl verloren hat. Wenn damals zusätzlich auch noch die Renten hätten gekürzt werden müssen, die Gehälter abgesenkt werden müssen, die Steuern erhöht werden müssen, glaube ich nicht, dass diese Reform geklappt hätte. Alle sagen aber – wenn ich das hinzufügen darf –, dass diese Reformen – das sagt vor allen Dingen die Bundeskanzlerin – die Voraussetzung dafür waren, das Deutschland wirtschaftlich heute so erfolgreich ist. Deshalb glaube ich, sollten wir das unideologisch diskutieren. Wenn die wirklich diese Reformen machen, dann glaube ich, muss man mit allen Mitteln sie dabei unterstützen.
    Münchenberg: Trotzdem, Regeln sind ja auch dazu da, dass man sie einhält. Nun kann man ja nicht sagen, dass Frankreich nicht genug Zeit gehabt hätte, auch Reformen umzusetzen. Insofern stellt sich ja schon die Frage: Wenn man hier ständig einem Land auch entgegen kommt, bis es sich dann endlich mal bequemt, die Reformen auch umzusetzen, wie glaubwürdig sind dann noch diese Spielregeln eigentlich? Franst das nicht trotzdem aus?
    Schulz: Nein, ich bin manchmal ein bisschen, nicht ein bisschen, ich bin manchmal schockiert über die Art und Weise, wie wir diskutieren. Die Vereinigten Staaten von Amerika lassen die Notenpresse laufen ohne Ende – und was machen wir? Wir schauen in einer geradezu theologischen Art und Weise auf die Verträge. Worum geht es uns denn? Haben wir ein Interesse daran, dass jetzt endlich in Frankreich strukturelle Reformen durchgeführt werden? Ja! Ich nenne Ihnen mal eine der strukturellen Reformen: Kürzungen der Gehälter im Öffentlichen Dienst. Das waren ja strukturelle Reformen, die die Regierung angekündigt hat. Wenn sie diese jetzt auch noch kombinieren mit drastischen sonstigen Staatskürzungen, Leistungen des Staates, bei gleichzeitiger Erhöhung von Steuern und Abbau von sonstigen Leistungen. Oder Leistungen gegen Gebühren und das auch noch mit einem Defizitverfahren kombinieren, bei dem innerhalb einer ganz bestimmten Zeit das Defizit des Staates noch weiter abgebaut werden muss – also zu den ohnehin bereits vorhandenen drastischen Kürzungsmaßnahmen weitere hinzufügen –, dann bin ich ziemlich sicher, dass die Regierung dafür im Parlament möglicherweise keine Mehrheit mehr hat. Dann tritt etwas ein, was wir alle ja gar nicht wollen, nämlich dass die Reformen nicht durchgeführt werden können. Deshalb, ich finde eine Regierung, die jetzt 306 Stimmen bekommen hat im Parlament – also eine deutliche Mehrheit –, mit der Ankündigung des Premierministers: Wir führen diese Reform jetzt durch, und sie bereit ist, das in Gesetzesform zu gießen. Das also verbindlich zu machen – ich würde zunächst einmal abwarten, ob das geschieht –,wenn das geschieht, dann soll die Regierung mit der Kommission reden und dann sollten wir entscheiden. Was ich nicht richtig finde ist, dass wir vorab schon sagen: Kommt überhaupt nicht in die Tüte!
    Kein Automatismus, sondern ein Entwicklungsprozess
    Münchenberg: Im Interview der Woche des Deutschlandfunks heute Martin Schulz, der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten für das Amt des Kommissionspräsidenten. Herr Schulz, dann würde ich zum Schluss dann gerne noch einmal auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen. Es gibt ja keinen Automatismus, dass der Wahlsieger gleich Kommissionspräsident wird, das soll ja im Licht der Europawahlen entschieden werden. Die Staats- und Regierungschefs werden da auch ein gewichtiges Wörtchen mitreden wollen. Warum soll eine christdemokratische Bundeskanzlerin zum Beispiel, einen Sozialdemokraten unterstützen, dass er ein solches Spitzenamt bekommt?
    Schulz: Das tut sie ja nicht. Frau Merkel will ja, dass Jean-Claude Juncker Kommissionspräsident wird – das ist auch nachvollziehbar. Im Übrigen, es gibt für gar nichts im Leben einen Automatismus. Es gibt nicht mal einen Automatismus, dass unsere Sendung hier gesendet wird. Es gibt übrigens auch kein Automatismus, dass jemand, der als Spitzenkandidat bei einer Bundestagswahl – oder Kandidatin – antritt, anschließend Bundeskanzler wird. Einen Automatismus gibt es nie in einer Demokratie, sondern da gibt es Mehrheiten, die man erwerben muss für ein Mandat. Und Sie haben recht, das Europäische Parlament hat nach dem Lissabon-Vertrag das erste und das letzte Wort. Es muss konsultiert werden, 'Wer ist euer Kandidat? Dann macht der Rat seinen Vorschlag und dann muss das Parlament abstimmen. Und das ist kein Automatismus, sondern ein Entwicklungsprozess. Dem geht eines voraus: eine Wahl! Und derjenige oder diejenige bei der Wahl im Parlament, der dann anschließend eine Mehrheit der Abgeordneten hinter sich bringt, hat meiner Meinung nach gute Chancen, der nächste Kommissionspräsident oder -präsidentin zu werden. Und da wir ja auf europäischer Ebene eher in einem föderalen System leben, ist es wie in Deutschland: Sie haben ganz selten eine absolute Mehrheit und meistens müssen irgendwelche Kompromisse zwischen den unterschiedlichen Institutionen getroffen werden. Und ich glaube, so wird es nach der Europawahl auch hier sein.
    Münchenberg: Ist es für Sie vorstellbar oder wäre das auch ein Weg, dass nicht letztlich der Rat dann doch vielleicht, weil es eine Art Patt geben könnte – es sind ja Christdemokraten und Sozialdemokraten gleichauf –, dass man doch quasi einen dritten Kandidaten für das Kommissionsamt aus dem Hut zaubert und der Rat letztlich dann doch wieder entscheidet im Hinterzimmer?
    Schulz: Die drei Fraktionschefs der drei größten Fraktionen hier im Haus – Herr Daul für die Europäische Volkspartei, das ist die CDU in Deutschland, Herr Swoboda für die Sozialdemokraten und Herr Verhofstadt für die Liberalen – haben sich ja festgelegt. Das sind rund 500 der 750 Abgeordneten, die die repräsentieren. Nur einer der Kandidaten, der von den europäischen Parteifamilien nominiert worden ist, bekommt im Parlament eine Mehrheit. Natürlich kann der Rat hingehen und sagen: Ja was, Schulz, Juncker, interessiert uns alles nicht, jetzt schlagen wir mal – was weiß ich – Emmy Maier vor. Nur, Emmy Maier kriegt im Europaparlament ganz sicher keine Mehrheit. Und man muss auch in der Demokratie die Wählerinnen und Wähler ernst nehmen. Es haben zwölf sozialdemokratische und elf christdemokratische Regierungschefs und vier liberale Regierungschefs sich auf ihren Parteitagen auf europäischer Ebene für die Kandidaten Juncker, Schulz und Verhofstadt ausgesprochen und das sind 28 Regierungschefs. 27 davon haben in unterschiedlichen Stärken für einen dieser drei Kandidaten sich ausgesprochen. Und dass die dann alle 27 anschließend sagen: Ja, meine Damen und Herren, das war ein Aprilscherz, wir nehmen jetzt jemanden anderen ... Wenn man dem Gefühl, das es in Europa sowieso gibt, es ginge nicht demokratisch zu und alles würde nur hinter verschlossnen Türen ausgekungelt, richtig noch Unterstützung geben will, dann muss man so vorgehen. Wenn man aber ein Stück verloren gegangenes Vertrauen von Bürgerinnen und Bürgern zurückgewinnen will. In die Tatsache, dass sie auf die Europapolitik, die in ihr Leben eingreift, jeden Tag, selbst auch ein Stück Einfluss haben, dann, finde ich, muss man diese Wahl, wo Kandidaten sich zum ersten Mal für diese exekutive Funktion des Kommissionspräsidenten bewerben, auch ernst nehmen. Und deshalb war ich froh, dass – zum Beispiel ich war nicht froh, dass Frau Merkel jetzt gesagt hat: Ich bin für Juncker, es wäre besser gewesen, sie hätte sich für mich ausgesprochen – aber das kann ich jetzt nicht erwarten, dass die die SPD wählt. Aber dass Frau Merkel das in Dublin gesagt hat und auch mal vorigen Samstag in Berlin: Das ist mein Kandidat für den Kommissionspräsidenten und dass die französische Regierung oder Matteo Renzi sagt: Schulz ist unser Kandidat für die Kommissionspräsidentschaft. Das tun die nicht als Regierungschefs, das hat Frau Merkel als CDU-Chefin getan. Damit hat sie sich politisch festgelegt – und das finde ich gut so.
    Münchenberg: Herr Schulz, vielen Dank für das Gespräch.
    Schulz: Danke Ihnen.