Fast 25 Jahre lang wurde in Deutschland erbittert gestritten über die Reform des Strafrechtsparagrafen 218, der Schwangerschaftsabbrüche nur in bestimmten, genau definierten Ausnahmen erlaubte. Es war ein Gesetz aus dem 19. Jahrhundert, das immer schon an der Realität vorbei ging, denn nie in der langen, elenden Geschichte der Abtreibung ließ sich ungeborenes Leben gegen die Entscheidung der Mutter schützen. Frauen trieben ab, auch wenn sie mit Gefängnis - bis Mitte der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts sogar Zuchthausstrafen - rechnen mussten. Illegale Abtreibungen wurden sehr häufig verpfuscht. Frauen gefährdeten so ihre eigene Gesundheit und oft genug auch ihr Leben. Die Gründe lagen klar auf der Hand: Existenzängste.
Denn bis vor wenigen Jahrzehnten wurden ledige Mütter diskriminiert. Sie galten als Schande für ihre Familien und wurden oft erbarmungslos vor die Tür gesetzt. Viele von denen, die nicht abtrieben, brachten das Kind heimlich zur Welt und gaben es nach massivem Druck zur Adoption frei. Depressionen bis hin zu Selbstmorden waren oft die Folge.
Ingrid Matthäus-Maier erinnert sich noch gut daran, wie sie und viele Mitstreiterinnen schon in den späten 1960er-Jahren aus all diesen Gründen mit Unterschriftenlisten für eine Reform des Paragrafen 218 warben:
"Hier kamen alte Frauen an den Stand, zum Teil mit einem Stock und sagten: Kinder, wo kann ich hier unterschreiben? Ihr sollt es besser haben als wir. Ich habe sieben Mal oder fünf Mal oder vier Mal abgetrieben. Das Leid dieser Frauen, die unzähligen Frauen, die verstorben sind auf dem Küchentisch, das war ein solches Leid. Und dass wir das heute nicht mehr haben, ist ein enormer Fortschritt."
Doch der ließ noch bis zum Jahre 1992 auf sich warten. Nach einer 16-stündigen Marathonsitzung verabschiedete der Bundestag gegen 1 Uhr in der Nacht des 26. Juni 1992 in Bonn die Fristenregelung. Das bedeutete: Schwangerschaftsabbrüche blieben während der ersten zwölf Wochen nach vorhergehender Beratung straffrei. Der amtierende Bundestagspräsident Helmuth Becker verkündete dem erschöpften Plenum in dieser schwülwarmen Sommernacht im "Wasserwerk", dem provisorischen Bundestag, das Ergebnis:
"Abgegebene Stimmen 657, ungültige Stimmen keine. Mit Ja haben gestimmt 357, mit Nein haben gestimmt 284, Enthaltungen gab es 16. Der Gesetzentwurf ist damit in 3. Lesung angenommen."
Das war ein erstaunlich klares Ergebnis, mit dem so kaum jemand gerechnet hatte. Es dauerte dann allerdings noch einmal drei Jahre, bis das sogenannte "Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz" in Kraft treten konnte, weil die Bayerische Staatsregierung die Fristenregelung durch das Bundesverfassungsgericht stoppen lassen wollte. Zum zweiten Mal in der Geschichte des Paragraf 218 griffen die obersten Richter korrigierend ein und zwangen das Parlament zu Änderungen. Sie entschieden, Schwangerschaftsabbrüche auch während der ersten zwölf Wochen seien rechtswidrig, sollten aber straffrei bleiben nach einer Pflichtberatung mindestens drei Tage vor dem Abbruch. Schlimmer war, dass nach diesem Urteil nur noch Abbrüche nach der kriminologischen, der medizinischen oder embryopathischen Indikation von den Krankenkassen bezahlt werden durften.
Abbrüche nach einer Vergewaltigung, wegen der Gefahr für das Leben der Mutter oder wegen schwerer Behinderungen des Kindes machen aber nur einen äußerst geringen Anteil aus. Die Folge ist, dass seither viele Frauen in einer massiven Notlage sich verschulden oder beim Sozialamt betteln gehen müssen. Denn auf die an der Schwangerschaft beteiligten Männer können sie häufig nicht zählen. Ingrid Matthäus-Maier:
"In den meisten Fällen sind es die Männer, die sagen: Was, Du bist schwanger? Das geht nicht, wir haben kein Geld. Die praktisch die Frauen zur Abtreibung drängen."
Gesellschaftspolitisch entscheidend aber war nicht dieses einschränkende Gerichtsurteil, sondern das überraschend klare Bekenntnis einer Parlamentsmehrheit im Juni 1992 zur Fristenregelung. Es war eine denkwürdige Debatte, die bei aller Leidenschaft überwiegend mit Respekt vor den jeweils anderen Meinungen geführt – und von den Frauen aller Parteien dominiert wurde. Im Bund regierte eine Koalition aus CDU/CSU und FDP. Doch siegreich blieb dennoch ein Gruppenantrag unter Federführung der SPD-Abgeordneten Inge Wettig-Danielmeier und der FDP-Abgeordneten Uta Würfel. Es herrschte bei dieser Abstimmung kein Fraktionszwang und eine ganze Reihe von CDU-Politikern schloss sich dem Gruppenantrag an. Sieben Anträge hatten ursprünglich zur Wahl gestanden. Sie reichten von der Verschärfung der damals gültigen sogenannten Indikationenregelung bis zur völligen Streichung des Paragrafen 218. Uta Würfel warb für den Entwurf der Fristenlösung:
"Unser Ziel ist es, Leben zu schützen. Und deshalb wollen wir versuchen, durch Respektierung der Verantwortlichkeit der Frauen deren Entscheidungsfindung auf bessere Art dabei zu unterstützen, als das durch die Angst vor Strafe, vor strafgerichtlicher Überprüfung und Verfolgung bisher möglich war. Wir wollen Hilfe statt Strafe."
Inge Wettig-Danielmeier:
"Es geht nicht um Fristen oder um Indikationen, das sind technische Begriffe. Es geht um die Würde der Frau, darüber entscheiden wir heute."
Die eindringlichste Rede hielt die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Couragiert hatte sie jahrelang für ein Gesetz gekämpft, das Frauen in einer schweren Konfliktlage nicht zusätzlich demütigte. Sie war dafür angefeindet worden von Männern ihrer eigenen Fraktion und hatte sich dennoch nie beirren lassen:
"Das gemeinsame Ziel ist der wirksame Schutz des ungeborenen Lebens. Niemand wird das Kind gegen die Mutter retten können, deswegen geht es nur mit der Mutter. Und so gilt es auch nicht, beide gegeneinander auszuspielen, sondern sich schützend vor das ungeborene Leben und vor die Mütter zu stellen. Ein Schwangerschaftsabbruch kann doch überhaupt nur infrage kommen in einer ausweglosen Not- und Konfliktlage. In dieser Not- und Konfliktlage frage ich mich, warum eigentlich dem Arzt und nachfolgend dem Richter, dem Staatsanwalt mehr Kompetenz, mehr Verantwortung zugesprochen wird als der Frau, die die Verantwortung nicht nur jetzt, sondern ein Leben lang für das Kind, für die Kinder übernimmt. Und deswegen hören wir endlich auf, die Frauen für entscheidungsunfähig, für nicht verantwortungsfähig zu halten. Geben wir endlich dem Leben eine Chance."
Die Statistik gibt Rita Süssmuth recht. Nie war die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Gesamtdeutschland so niedrig wie heute. Das hat natürlich auch mit der älter werdenden Gesellschaft zu tun und mit der Verfügbarkeit von zuverlässigen Verhütungsmitteln. Entscheidend aber sind vermutlich gesellschaftliche Veränderungen, die ledige Mütter nicht mehr ausgrenzen und Frauen nicht mehr zwingen, zwischen Kindern und Beruf zu wählen, sondern ihnen – bei allen noch herrschenden Mängeln – beides erlauben. Anders als während der 16-stündigen Debatte vor Verabschiedung des Gesetzes war die Stimmung in der Zeit zwischen 1. und 3. Lesung aufgeladen. Man nannte Unionsabgeordnete, die für die Fristenregelung stimmen wollten, Abtrünnige, Abweichler, Überläufer, Dissidenten.
Rita Süssmuth wurde in ihrer klaren Haltung damals bestärkt durch Berichte aus den neuen Bundesländern: Viele Frauen hatten sich in ihrer Not dort sterilisieren lassen in der Hoffnung, aus der Arbeitslosigkeit erlöst zu werden, wenn sie schriftlich beweisen können, dass dem Arbeitgeber keine Schwangerschaft seiner Mitarbeiterin drohen kann. Auch im Westen gab es Aussagen von Akademikerinnen, die von ähnlichem Druck sprachen. So war eine junge Ärztin an die Öffentlichkeit gegangen, weil ein Chefarzt ihr erklärt hatte, die Stelle zur Facharztausbildung könne sie bekommen, wenn sie ihm ihren Uterus in Spiritus bringe. Rita Süssmuth:
"Für mich ist die Erwartung, unfruchtbar zu sein, ein Skandal. Er greift zutiefst in grundlegende Menschenrechte ein. Hier sehe ich unsere Artikel eins und zwei verletzt."
Nun hatten sich in den beiden großen Debatten vor Verabschiedung der Fristenregelung nicht nur Frauen zu Wort gemeldet. Es gab zum Beispiel die Hardliner um den Ulmer CDU-Abgeordneten Herbert Werner, der die bis dahin gültige Indikationenregelung, das heißt die Straffreiheit bei Abtreibung nur in bestimmten Notlagen, noch verschärft wissen wollte.
"In unserem Staat des Rechts ... ist der grundlegende Orientierungsmaßstab das Recht auf Leben, das Recht auf Menschenwürde. Für den Christen ist der Mensch Ebenbild Gottes und darf auch von daher in seiner naturrechtlich verankerten Existenz nicht angegriffen werden."
Ganz anders der Jurist Horst Eylmann aus Stade, ebenfalls CDU und angesehener Rechtspolitiker im Bundestag:
"Der Abbruch in den ersten zwölf Wochen ist nicht justiziabel. Die Entscheidung darüber kann den Ärzten billigerweise nicht zugemutet werden. Also bleibt nur die Konsequenz, diese Entscheidung den Frauen zu übertragen, und das ist für mich keine Notlösung, sondern die Zeit ist reif für eine solche Entscheidung, einen Entscheidungsprozess, den die Männer nur begrenzt nachempfinden können. Wir können ja auch nicht ungewollt schwanger werden."
Mit der Verabschiedung der Fristenlösung endeten erbitterte Auseinandersetzungen, die schon im Reichstag der Weimarer Republik geführt wurden. Schon damals hatte Justizminister Gustav Radbruch, SPD, der für eine straffreie Fristenlösung kämpfte, resigniert festgestellt:
"Es ist noch nie eine reiche Frau wegen § 218 vor dem Kadi gestanden."
In vielen Familien werden Geschichten wie die, die Chris Niedecken zu erzählen hat, von Generation zu Generation weitergegeben.
"Ursache dafür, dass ich mich so intensiv damit beschäftigt habe, war eigentlich meine Großmutter, die sich damals furchtbar aufgeregt hat in den 60er-Jahren: Das darf doch wohl nicht wahr sein, die tun gerade so, als würde es keine Abtreibungen geben. Und dann erzählte sie mir eine Geschichte von ihrer Schwester, wo sie als junge Frau in den Haushalt der Schwester eintreten musste, weil ihre Schwester nach acht Schwangerschaften sozusagen von ihrem Mann gezwungen wurde, ihre nächste Schwangerschaft abzubrechen und acht Kinder standen da ohne Mutter."
Über die vielen Todesfälle nach verpfuschten Abtreibungen wurde damals nur geflüstert. Die Kinder dieser Frauen landeten dann oft im Waisenhaus oder wurden innerhalb der Verwandtschaft herumgeschoben. Obwohl dies alles bekannt war, übernahm die junge Bundesrepublik praktisch unverändert das Strafrecht der Weimarer Republik. Doch keine drohende Gefängnisstrafe und keine Angst um Gesundheit oder Leben konnten Frauen davon abhalten, eine Schwangerschaft zu beenden. Das alles geschah heimlich, gesprochen wurde darüber nur leise und unter Frauen. Das änderte sich erst mit der 68er Bewegung. Die Frauen wurden wütend, weil sie – sofern sie überhaupt das Geld dafür hatten – zum Abtreiben ins liberalere Holland oder nach Großbritannien reisen mussten. Und es machte sie noch zorniger, dass das einzig sichere Verhütungsmittel, die "Pille" von vielen Ärzten nur verheirateten Frauen verschrieben wurde. Chris Niedecken, die damals eine junge Studentin war:
"Ja. Hinzu kommt auch noch, dass man die Pille, wenn man einen anderen Arzt gefunden hat, was wirklich so gut wie nie vorkam, ja auch selbst bezahlen musste. Und die war nicht günstig und so blieb man mit allem alleine als junge Frau. Die Männer haben sich darauf verlassen, dass man im Kalender alles nachgetragen hatte, wann der Eisprung war. Immer war die Frau verantwortlich für alles. Die Präservative haben auch die Frauen besorgt und nicht die Männer, weil es ihnen oft peinlich war."
1971 dann der Paukenschlag: "Wir haben abgetrieben", lautete die Titelschlagzeile im "Stern". 374 Frauen bekannten sich zu Abtreibungen, darunter so prominente wie Romy Schneider, Senta Berger, Carola Stern, Sabine Sinjen. Initiatorin der Aktion war Alice Schwarzer. Damit war das Thema aus der Tabuzone heraus. Öffentlich begehrten die Frauen auf, mit Slogans wie '"Wir wollen nicht mehr nach Holland fahren" oder ganz aggressiv: "Mein Bauch gehört mir".
Chris Niedecken erinnert sich noch gut an die Diskussionen – und auch an die Wut der Frauen, die sich von Politikern, Ärzten und der katholischen Kirche dominiert fühlten.
"Die Frauen waren wirklich in jeder Hinsicht die Gekniffenen. Hatten sie kein Geld, dann mussten sie eben zum Kurpfuscher gehen oder selbst die Stricknadel nehmen. Und all das wurde in der Diskussion damals überhaupt nicht berücksichtigt, sondern es wurde einfach ignoriert."
Die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt, seit 1969 an der Regierung, wollte das nicht länger hinnehmen. "Rechtsauftrag und soziale Wirklichkeit" des fast 100 Jahre alten Paragraf 218 hätten sich auseinanderentwickelt, stellte der Bundeskanzler fest und erinnerte an das große Elend in vielen Familien:
"Es gab viele dunkle Wege in die Illegalität, es gab viel Krankheit und Tod, die hätten vermieden werden können."
Brandt setzte sich deshalb – im Rahmen einer großen Strafrechtsreform – für die Fristenlösung ein, die dann im April 1974 auch vom Bundestag verabschiedet wurde. Doch das half den Frauen nur wenig: Ingrid Matthäus-Meier:
"Sofort ist die baden-württembergische Landesregierung zum Bundesverfassungsgericht gelaufen."
Und das verwarf die Fristenregelung und diktierte dem Parlament praktisch bis ins Detail ein kompliziertes neues Gesetz. Die 1976 in Kraft getretene Indikationenregelung bedeutete: Schwangerschaftsabbrüche blieben verboten, es blieb bei der Strafandrohung gegen die Mutter und den behandelnden Arzt. Von Strafe sollte abgesehen werden, wenn die Schwangere sich "in besonderer Bedrängnis" befand. Wahrscheinlich müssten die Frauen heute noch mit dem Indikationenmodell leben, wenn nicht die Wiedervereinigung Änderungen erzwungen hätte.
In der DDR galt seit 1972 die Fristenlösung. Während der ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft entschieden alleine die betroffenen Frauen darüber, ob sie das Kind bekommen wollten oder nicht, ganz ohne Sanktionen wie etwa einer Beratungspflicht. Und nun musste einheitliches Recht geschaffen werden. Die Frauen aus der DDR weigerten sich nämlich ganz entschieden, sich das westdeutsche Recht überstülpen zu lassen. Ingrid Matthäus-Maier:
"Das Wissen, bei dieser Einheit kann man diese unselige Indikationenregelung nicht auf den Oster übertragen, dieses Festhalten der Ossis an ihrer Regelung und das unterstützt werden durch Westdeutschland, das hat dazu geführt, dass wir heute diese Regelung haben. Also, Dankbarkeit auch in diesem Sinne für die deutsche Einheit und für die ostdeutschen Frauen."
Herrscht nun also Frieden im Land? Ja, sagen vor allem die älteren Frauen, die sich an die Zeit vor der Reform erinnern: Heute können Frauen sich angstfrei in Beratungsstellen entscheiden, vielleicht sogar für das Kind, weil es sehr viel mehr Hilfen gibt als in früheren Jahrzehnten. Heftige Proteste gegen jede noch so bescheidene Liberalisierung des strengen Abtreibungsrechts kamen seit den 60er-Jahren stets von der damals noch einflussreichen katholischen Kirche. Am 6. Januar 2005, dem Dreikönigstag, klagte Kardinal Joachim Meisner in seiner Predigt im Kölner Dom:
"Zuerst Herodes, der die Kinder von Bethlehem umbringen lässt, dann unter anderem Hitler und Stalin, die Millionen Menschen vernichten ließen und heute, in unserer Zeit, werden ungeborene Kinder millionenfach umgebracht."
Der Fortschritt der Medizin, also die Möglichkeiten der Pränatal- und Prä-Implantationsdiagnostik sorgen heute und sicher auch in Zukunft für weiteren Zündstoff in der Diskussion. Vertreter der katholischen Kirche und konservative Politiker stellen Frauen wieder unter Generalverdacht. Der Wunsch, beim Nachwuchs schwere Krankheiten auszuschließen, wird als Eingriff in die Schöpfung interpretiert. Der Mensch entscheide, wer leben dürfe und wer nicht. Natürlich ist das ein ethisch schwieriges Thema. Aber wer kann es Eltern verdenken, dass sie sich und ihrem Kind ein kurzes Leben unter Qualen ersparen möchten, wenn es die medizinischen Möglichkeiten dafür gibt! Und ein Missbrauch wie zum Beispiel die gezielte Abtreibung von weiblichen Föten ließe sich gesetzlich ausschließen. Dass die neuen Möglichkeiten erblich belasteten Paaren mit Kinderwunsch neben neuen Chancen auch bisher unbekannte Konflikte und Ängste aufbürden, dass von Leichtfertigkeit bei ihnen in aller Regel keine Rede sein kann, wird in dieser Debatte meist ausgeblendet – wie seit jeher, wenn es um künftiges Leben geht.
Denn bis vor wenigen Jahrzehnten wurden ledige Mütter diskriminiert. Sie galten als Schande für ihre Familien und wurden oft erbarmungslos vor die Tür gesetzt. Viele von denen, die nicht abtrieben, brachten das Kind heimlich zur Welt und gaben es nach massivem Druck zur Adoption frei. Depressionen bis hin zu Selbstmorden waren oft die Folge.
Ingrid Matthäus-Maier erinnert sich noch gut daran, wie sie und viele Mitstreiterinnen schon in den späten 1960er-Jahren aus all diesen Gründen mit Unterschriftenlisten für eine Reform des Paragrafen 218 warben:
"Hier kamen alte Frauen an den Stand, zum Teil mit einem Stock und sagten: Kinder, wo kann ich hier unterschreiben? Ihr sollt es besser haben als wir. Ich habe sieben Mal oder fünf Mal oder vier Mal abgetrieben. Das Leid dieser Frauen, die unzähligen Frauen, die verstorben sind auf dem Küchentisch, das war ein solches Leid. Und dass wir das heute nicht mehr haben, ist ein enormer Fortschritt."
Doch der ließ noch bis zum Jahre 1992 auf sich warten. Nach einer 16-stündigen Marathonsitzung verabschiedete der Bundestag gegen 1 Uhr in der Nacht des 26. Juni 1992 in Bonn die Fristenregelung. Das bedeutete: Schwangerschaftsabbrüche blieben während der ersten zwölf Wochen nach vorhergehender Beratung straffrei. Der amtierende Bundestagspräsident Helmuth Becker verkündete dem erschöpften Plenum in dieser schwülwarmen Sommernacht im "Wasserwerk", dem provisorischen Bundestag, das Ergebnis:
"Abgegebene Stimmen 657, ungültige Stimmen keine. Mit Ja haben gestimmt 357, mit Nein haben gestimmt 284, Enthaltungen gab es 16. Der Gesetzentwurf ist damit in 3. Lesung angenommen."
Das war ein erstaunlich klares Ergebnis, mit dem so kaum jemand gerechnet hatte. Es dauerte dann allerdings noch einmal drei Jahre, bis das sogenannte "Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz" in Kraft treten konnte, weil die Bayerische Staatsregierung die Fristenregelung durch das Bundesverfassungsgericht stoppen lassen wollte. Zum zweiten Mal in der Geschichte des Paragraf 218 griffen die obersten Richter korrigierend ein und zwangen das Parlament zu Änderungen. Sie entschieden, Schwangerschaftsabbrüche auch während der ersten zwölf Wochen seien rechtswidrig, sollten aber straffrei bleiben nach einer Pflichtberatung mindestens drei Tage vor dem Abbruch. Schlimmer war, dass nach diesem Urteil nur noch Abbrüche nach der kriminologischen, der medizinischen oder embryopathischen Indikation von den Krankenkassen bezahlt werden durften.
Abbrüche nach einer Vergewaltigung, wegen der Gefahr für das Leben der Mutter oder wegen schwerer Behinderungen des Kindes machen aber nur einen äußerst geringen Anteil aus. Die Folge ist, dass seither viele Frauen in einer massiven Notlage sich verschulden oder beim Sozialamt betteln gehen müssen. Denn auf die an der Schwangerschaft beteiligten Männer können sie häufig nicht zählen. Ingrid Matthäus-Maier:
"In den meisten Fällen sind es die Männer, die sagen: Was, Du bist schwanger? Das geht nicht, wir haben kein Geld. Die praktisch die Frauen zur Abtreibung drängen."
Gesellschaftspolitisch entscheidend aber war nicht dieses einschränkende Gerichtsurteil, sondern das überraschend klare Bekenntnis einer Parlamentsmehrheit im Juni 1992 zur Fristenregelung. Es war eine denkwürdige Debatte, die bei aller Leidenschaft überwiegend mit Respekt vor den jeweils anderen Meinungen geführt – und von den Frauen aller Parteien dominiert wurde. Im Bund regierte eine Koalition aus CDU/CSU und FDP. Doch siegreich blieb dennoch ein Gruppenantrag unter Federführung der SPD-Abgeordneten Inge Wettig-Danielmeier und der FDP-Abgeordneten Uta Würfel. Es herrschte bei dieser Abstimmung kein Fraktionszwang und eine ganze Reihe von CDU-Politikern schloss sich dem Gruppenantrag an. Sieben Anträge hatten ursprünglich zur Wahl gestanden. Sie reichten von der Verschärfung der damals gültigen sogenannten Indikationenregelung bis zur völligen Streichung des Paragrafen 218. Uta Würfel warb für den Entwurf der Fristenlösung:
"Unser Ziel ist es, Leben zu schützen. Und deshalb wollen wir versuchen, durch Respektierung der Verantwortlichkeit der Frauen deren Entscheidungsfindung auf bessere Art dabei zu unterstützen, als das durch die Angst vor Strafe, vor strafgerichtlicher Überprüfung und Verfolgung bisher möglich war. Wir wollen Hilfe statt Strafe."
Inge Wettig-Danielmeier:
"Es geht nicht um Fristen oder um Indikationen, das sind technische Begriffe. Es geht um die Würde der Frau, darüber entscheiden wir heute."
Die eindringlichste Rede hielt die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Couragiert hatte sie jahrelang für ein Gesetz gekämpft, das Frauen in einer schweren Konfliktlage nicht zusätzlich demütigte. Sie war dafür angefeindet worden von Männern ihrer eigenen Fraktion und hatte sich dennoch nie beirren lassen:
"Das gemeinsame Ziel ist der wirksame Schutz des ungeborenen Lebens. Niemand wird das Kind gegen die Mutter retten können, deswegen geht es nur mit der Mutter. Und so gilt es auch nicht, beide gegeneinander auszuspielen, sondern sich schützend vor das ungeborene Leben und vor die Mütter zu stellen. Ein Schwangerschaftsabbruch kann doch überhaupt nur infrage kommen in einer ausweglosen Not- und Konfliktlage. In dieser Not- und Konfliktlage frage ich mich, warum eigentlich dem Arzt und nachfolgend dem Richter, dem Staatsanwalt mehr Kompetenz, mehr Verantwortung zugesprochen wird als der Frau, die die Verantwortung nicht nur jetzt, sondern ein Leben lang für das Kind, für die Kinder übernimmt. Und deswegen hören wir endlich auf, die Frauen für entscheidungsunfähig, für nicht verantwortungsfähig zu halten. Geben wir endlich dem Leben eine Chance."
Die Statistik gibt Rita Süssmuth recht. Nie war die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Gesamtdeutschland so niedrig wie heute. Das hat natürlich auch mit der älter werdenden Gesellschaft zu tun und mit der Verfügbarkeit von zuverlässigen Verhütungsmitteln. Entscheidend aber sind vermutlich gesellschaftliche Veränderungen, die ledige Mütter nicht mehr ausgrenzen und Frauen nicht mehr zwingen, zwischen Kindern und Beruf zu wählen, sondern ihnen – bei allen noch herrschenden Mängeln – beides erlauben. Anders als während der 16-stündigen Debatte vor Verabschiedung des Gesetzes war die Stimmung in der Zeit zwischen 1. und 3. Lesung aufgeladen. Man nannte Unionsabgeordnete, die für die Fristenregelung stimmen wollten, Abtrünnige, Abweichler, Überläufer, Dissidenten.
Rita Süssmuth wurde in ihrer klaren Haltung damals bestärkt durch Berichte aus den neuen Bundesländern: Viele Frauen hatten sich in ihrer Not dort sterilisieren lassen in der Hoffnung, aus der Arbeitslosigkeit erlöst zu werden, wenn sie schriftlich beweisen können, dass dem Arbeitgeber keine Schwangerschaft seiner Mitarbeiterin drohen kann. Auch im Westen gab es Aussagen von Akademikerinnen, die von ähnlichem Druck sprachen. So war eine junge Ärztin an die Öffentlichkeit gegangen, weil ein Chefarzt ihr erklärt hatte, die Stelle zur Facharztausbildung könne sie bekommen, wenn sie ihm ihren Uterus in Spiritus bringe. Rita Süssmuth:
"Für mich ist die Erwartung, unfruchtbar zu sein, ein Skandal. Er greift zutiefst in grundlegende Menschenrechte ein. Hier sehe ich unsere Artikel eins und zwei verletzt."
Nun hatten sich in den beiden großen Debatten vor Verabschiedung der Fristenregelung nicht nur Frauen zu Wort gemeldet. Es gab zum Beispiel die Hardliner um den Ulmer CDU-Abgeordneten Herbert Werner, der die bis dahin gültige Indikationenregelung, das heißt die Straffreiheit bei Abtreibung nur in bestimmten Notlagen, noch verschärft wissen wollte.
"In unserem Staat des Rechts ... ist der grundlegende Orientierungsmaßstab das Recht auf Leben, das Recht auf Menschenwürde. Für den Christen ist der Mensch Ebenbild Gottes und darf auch von daher in seiner naturrechtlich verankerten Existenz nicht angegriffen werden."
Ganz anders der Jurist Horst Eylmann aus Stade, ebenfalls CDU und angesehener Rechtspolitiker im Bundestag:
"Der Abbruch in den ersten zwölf Wochen ist nicht justiziabel. Die Entscheidung darüber kann den Ärzten billigerweise nicht zugemutet werden. Also bleibt nur die Konsequenz, diese Entscheidung den Frauen zu übertragen, und das ist für mich keine Notlösung, sondern die Zeit ist reif für eine solche Entscheidung, einen Entscheidungsprozess, den die Männer nur begrenzt nachempfinden können. Wir können ja auch nicht ungewollt schwanger werden."
Mit der Verabschiedung der Fristenlösung endeten erbitterte Auseinandersetzungen, die schon im Reichstag der Weimarer Republik geführt wurden. Schon damals hatte Justizminister Gustav Radbruch, SPD, der für eine straffreie Fristenlösung kämpfte, resigniert festgestellt:
"Es ist noch nie eine reiche Frau wegen § 218 vor dem Kadi gestanden."
In vielen Familien werden Geschichten wie die, die Chris Niedecken zu erzählen hat, von Generation zu Generation weitergegeben.
"Ursache dafür, dass ich mich so intensiv damit beschäftigt habe, war eigentlich meine Großmutter, die sich damals furchtbar aufgeregt hat in den 60er-Jahren: Das darf doch wohl nicht wahr sein, die tun gerade so, als würde es keine Abtreibungen geben. Und dann erzählte sie mir eine Geschichte von ihrer Schwester, wo sie als junge Frau in den Haushalt der Schwester eintreten musste, weil ihre Schwester nach acht Schwangerschaften sozusagen von ihrem Mann gezwungen wurde, ihre nächste Schwangerschaft abzubrechen und acht Kinder standen da ohne Mutter."
Über die vielen Todesfälle nach verpfuschten Abtreibungen wurde damals nur geflüstert. Die Kinder dieser Frauen landeten dann oft im Waisenhaus oder wurden innerhalb der Verwandtschaft herumgeschoben. Obwohl dies alles bekannt war, übernahm die junge Bundesrepublik praktisch unverändert das Strafrecht der Weimarer Republik. Doch keine drohende Gefängnisstrafe und keine Angst um Gesundheit oder Leben konnten Frauen davon abhalten, eine Schwangerschaft zu beenden. Das alles geschah heimlich, gesprochen wurde darüber nur leise und unter Frauen. Das änderte sich erst mit der 68er Bewegung. Die Frauen wurden wütend, weil sie – sofern sie überhaupt das Geld dafür hatten – zum Abtreiben ins liberalere Holland oder nach Großbritannien reisen mussten. Und es machte sie noch zorniger, dass das einzig sichere Verhütungsmittel, die "Pille" von vielen Ärzten nur verheirateten Frauen verschrieben wurde. Chris Niedecken, die damals eine junge Studentin war:
"Ja. Hinzu kommt auch noch, dass man die Pille, wenn man einen anderen Arzt gefunden hat, was wirklich so gut wie nie vorkam, ja auch selbst bezahlen musste. Und die war nicht günstig und so blieb man mit allem alleine als junge Frau. Die Männer haben sich darauf verlassen, dass man im Kalender alles nachgetragen hatte, wann der Eisprung war. Immer war die Frau verantwortlich für alles. Die Präservative haben auch die Frauen besorgt und nicht die Männer, weil es ihnen oft peinlich war."
1971 dann der Paukenschlag: "Wir haben abgetrieben", lautete die Titelschlagzeile im "Stern". 374 Frauen bekannten sich zu Abtreibungen, darunter so prominente wie Romy Schneider, Senta Berger, Carola Stern, Sabine Sinjen. Initiatorin der Aktion war Alice Schwarzer. Damit war das Thema aus der Tabuzone heraus. Öffentlich begehrten die Frauen auf, mit Slogans wie '"Wir wollen nicht mehr nach Holland fahren" oder ganz aggressiv: "Mein Bauch gehört mir".
Chris Niedecken erinnert sich noch gut an die Diskussionen – und auch an die Wut der Frauen, die sich von Politikern, Ärzten und der katholischen Kirche dominiert fühlten.
"Die Frauen waren wirklich in jeder Hinsicht die Gekniffenen. Hatten sie kein Geld, dann mussten sie eben zum Kurpfuscher gehen oder selbst die Stricknadel nehmen. Und all das wurde in der Diskussion damals überhaupt nicht berücksichtigt, sondern es wurde einfach ignoriert."
Die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt, seit 1969 an der Regierung, wollte das nicht länger hinnehmen. "Rechtsauftrag und soziale Wirklichkeit" des fast 100 Jahre alten Paragraf 218 hätten sich auseinanderentwickelt, stellte der Bundeskanzler fest und erinnerte an das große Elend in vielen Familien:
"Es gab viele dunkle Wege in die Illegalität, es gab viel Krankheit und Tod, die hätten vermieden werden können."
Brandt setzte sich deshalb – im Rahmen einer großen Strafrechtsreform – für die Fristenlösung ein, die dann im April 1974 auch vom Bundestag verabschiedet wurde. Doch das half den Frauen nur wenig: Ingrid Matthäus-Meier:
"Sofort ist die baden-württembergische Landesregierung zum Bundesverfassungsgericht gelaufen."
Und das verwarf die Fristenregelung und diktierte dem Parlament praktisch bis ins Detail ein kompliziertes neues Gesetz. Die 1976 in Kraft getretene Indikationenregelung bedeutete: Schwangerschaftsabbrüche blieben verboten, es blieb bei der Strafandrohung gegen die Mutter und den behandelnden Arzt. Von Strafe sollte abgesehen werden, wenn die Schwangere sich "in besonderer Bedrängnis" befand. Wahrscheinlich müssten die Frauen heute noch mit dem Indikationenmodell leben, wenn nicht die Wiedervereinigung Änderungen erzwungen hätte.
In der DDR galt seit 1972 die Fristenlösung. Während der ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft entschieden alleine die betroffenen Frauen darüber, ob sie das Kind bekommen wollten oder nicht, ganz ohne Sanktionen wie etwa einer Beratungspflicht. Und nun musste einheitliches Recht geschaffen werden. Die Frauen aus der DDR weigerten sich nämlich ganz entschieden, sich das westdeutsche Recht überstülpen zu lassen. Ingrid Matthäus-Maier:
"Das Wissen, bei dieser Einheit kann man diese unselige Indikationenregelung nicht auf den Oster übertragen, dieses Festhalten der Ossis an ihrer Regelung und das unterstützt werden durch Westdeutschland, das hat dazu geführt, dass wir heute diese Regelung haben. Also, Dankbarkeit auch in diesem Sinne für die deutsche Einheit und für die ostdeutschen Frauen."
Herrscht nun also Frieden im Land? Ja, sagen vor allem die älteren Frauen, die sich an die Zeit vor der Reform erinnern: Heute können Frauen sich angstfrei in Beratungsstellen entscheiden, vielleicht sogar für das Kind, weil es sehr viel mehr Hilfen gibt als in früheren Jahrzehnten. Heftige Proteste gegen jede noch so bescheidene Liberalisierung des strengen Abtreibungsrechts kamen seit den 60er-Jahren stets von der damals noch einflussreichen katholischen Kirche. Am 6. Januar 2005, dem Dreikönigstag, klagte Kardinal Joachim Meisner in seiner Predigt im Kölner Dom:
"Zuerst Herodes, der die Kinder von Bethlehem umbringen lässt, dann unter anderem Hitler und Stalin, die Millionen Menschen vernichten ließen und heute, in unserer Zeit, werden ungeborene Kinder millionenfach umgebracht."
Der Fortschritt der Medizin, also die Möglichkeiten der Pränatal- und Prä-Implantationsdiagnostik sorgen heute und sicher auch in Zukunft für weiteren Zündstoff in der Diskussion. Vertreter der katholischen Kirche und konservative Politiker stellen Frauen wieder unter Generalverdacht. Der Wunsch, beim Nachwuchs schwere Krankheiten auszuschließen, wird als Eingriff in die Schöpfung interpretiert. Der Mensch entscheide, wer leben dürfe und wer nicht. Natürlich ist das ein ethisch schwieriges Thema. Aber wer kann es Eltern verdenken, dass sie sich und ihrem Kind ein kurzes Leben unter Qualen ersparen möchten, wenn es die medizinischen Möglichkeiten dafür gibt! Und ein Missbrauch wie zum Beispiel die gezielte Abtreibung von weiblichen Föten ließe sich gesetzlich ausschließen. Dass die neuen Möglichkeiten erblich belasteten Paaren mit Kinderwunsch neben neuen Chancen auch bisher unbekannte Konflikte und Ängste aufbürden, dass von Leichtfertigkeit bei ihnen in aller Regel keine Rede sein kann, wird in dieser Debatte meist ausgeblendet – wie seit jeher, wenn es um künftiges Leben geht.