Nach den Krawallen in Stuttgart kam es dieses Wochenende auf den Opernplatz in Frankfurt am Main zu Ausschreitungen.
Laut Polizei haben 500 bis 800 Menschen Einsatzkräfte angegriffen, Flaschen geworfen und bei Treffern Beifall bekundet.
Fünf Beamte wurden verletzt, 39 Personen festgenommen. Stadt und Polizei wollen das Geschehene jetzt mit einer lokalen Sicherheitskonferenz aufarbeiten.
Übergeordnet stellt sich die Frage: Was ist da los an den Wochenenden in deutschen Städten?
Der Bremer Konfliktforscher Stefan Luft sieht unter Berufung auf die bisherigen Medienberichte Menschen am Werk, die sich als Opfer dieser Gesellschaft sehen. Die Gewalttätigen seien demnach größtenteils Migranten, in den letzten Jahren nach Deutschland eingewandert, aber entgegen ihren ursprünglichen Erwartungen auf dem Arbeitsmarkt für Fachkräfte nicht angekommen.
"Aus allen Strukturen herausgerissen"
Durch die Folgen der Coronakrise seien diese Personen "aus allen Strukturen herausgerissen". Sie seien aufgrund beengter Unterbringungsverhältnisse auf Treffpunkte im öffentlichen Raum angewiesen, würden aber dort immer wieder des Platzes verwiesen.
Der Coronasommer mit seinen Aufenthalts-Beschränkungen im öffentlichen Raum habe sicher als Katalysator gewirkt. Im Grunde seien Ansammlungen im öffentlichen Raum - etwa in Stuttgart - jedoch schon seit einigen Jahren bekannt. Hinzu komme in Teilen der Gesellschaft eine generelle, gegen die Polizei gerichtete Stimmung. Dieser werde unterstellt, allgemein rassistisch zu sein. Daran hätten auch Politiker-Äußerungen ihren Anteil.
Der Politikwissenschaftler und Buchautor Stefan Luft hält es für wichtig, offen über Ursachen und Tatverdächtige zu sprechen. Sonst könnten diese Probleme tatsächlich außer Kontrolle geraten und solche Ausschreitungen verstetigen, wie es etwa in Frankreich mit Unruhen in den Banlieues der Fall sei. Die Gefahr, dass solche Siedlungen entstehen, mit entsprechenden sozialen Problemen, sei auch in Deutschland hoch. "Die Politik wäre gut beraten, den sozialen Wohnungsbau in exorbitanter Weise zu steigern."
Lokale Sicherheitskonzepte und schnelle Strafen
Gleichzeitig empfiehlt Luft ein energisches ordnungspolitisches Eingreifen: Im Machtkampf um den öffentlichen Raum müssten die Behörden reagieren, meint der Konfliktforscher, und zwar mit lokalen Sicherheitskonzepten und Strafen, die schnell auf die Tat folgen.
Das Interview im Wortlaut:
Tobias Armbrüster: Herr Luft, diese Krawalle an Wochenenden in deutschen Innenstädten, ist das jetzt ein typisches Phänomen dieses Corona-Sommers?
Stefan Luft: Der Corona-Sommer hat sicher als Katalysator gewirkt. Aber wir müssen zudem sehen, dass wir bereits seit Sommer/Herbst vergangenen Jahres aus verschiedenen Städten wissen, dass junge Migranten, die 2015/16 kamen aufgrund des Wirtschaftsabschwungs, der sich schon in dieser Zeit abzeichnete, nur noch wenige Chancen sahen, sich in erfolgversprechender Weise in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Sie sind offensichtlich mit weit überhöhten Erwartungen nach Deutschland gekommen, und es ist ihnen immer deutlicher geworden, dass sie hier kaum Chancen haben, sich in einen Fachkräfte-Arbeitsmarkt einzugliedern.
"Böses Blut durch häufige Platzverweise"
Aber die Corona-Krise hat diese jungen Menschen natürlich zudem aus allen Strukturen herausgerissen. Sie hatten über Monate keine Schule, keine Treffpunkte, und das trifft diese Gruppen besonders hart, weil sie in beengten Wohnverhältnissen leben und deshalb in besonderer Weise auf Treffpunkte im öffentlichen Raum angewiesen sind.
Wenn sie sich trotzdem im öffentlichen Raum aufgehalten haben, sind sie von Polizeibeamten aufgrund der Corona-Verordnung verständlicherweise teilweise mehrfach täglich angesprochen und des Platzes verwiesen worden. Das hat natürlich böses Blut gemacht. Aber man muss sagen, zum Beispiel in Stuttgart weiß ich, dass um den Schlossgarten und den Hauptbahnhof schon seit ein, zwei Jahren diese Ansammlungen junger Männer mit Migrationshintergrund den öffentlichen Raum dominieren und Frauen zum Beispiel diese Straßenzüge und Orte gemieden haben.
Armbrüster: Das heißt, Sie können schon jetzt ganz klar sagen, das was da am Wochenende in Frankfurt passiert ist und was wir vor einem Monat in Stuttgart erlebt haben, das ist ein Problem der Migration?
Luft: Zumindest deuten die Zahlen, die in Stuttgart genannt worden sind und die gestern genannt worden sind, darauf hin. Die genauen Analysen muss die Polizei vorlegen. Die kenne ich auch nicht. Aber zumindest was Stuttgart anlangt, scheint es offensichtlich zu sein, dass der größte Teil einen Migrationshintergrund hat. Und in Frankfurt – so habe ich das den Pressemeldungen entnommen; über zusätzliche Informationen verfüge ich auch nicht – scheint, ein erheblicher Teil insbesondere derjenigen, die sich da entsprechend gewalttätig betätigt haben, doch einen Migrationshintergrund zu haben.
"Migrationshintergrund" fasst sehr unterschiedliche Lebensrealitäten zusammen
Armbrüster: Jetzt haben wir ja gelernt im Laufe dieser ganzen Debatte, dass das Wort Migrationshintergrund durchaus sehr viele Bedeutungen haben kann. Das kann natürlich heißen, dass da jemand tatsächlich im Laufe der letzten Jahre selbst als Flüchtling, als Migrant in Deutschland angekommen ist. Kann aber auch genauso gut heißen, dass er oder sie einen Elternteil hat, der irgendwann in den letzten Jahrzehnten in Deutschland angekommen ist. Muss man da nicht mit diesen Begriffen sehr vorsichtig agieren?
Luft: Na ja. Das Problem ist, dass der Begriff der Personen mit Migrationshintergrund so abstrakt ist, dass diese Gruppe extrem heterogen ist. Das heißt, Sie haben in dieser Gruppe Teile, die sind besser integriert als die nicht zugewanderten, einheimischen Deutschen. Ich nenne jetzt mal die Gruppe der Iraner, wo eine Eliten-Migration stattgefunden hat. Ich nenne die Gruppe der Vietnamesen, die teilweise bessere Schulergebnisse als die deutschen, nicht zugewanderten Schüler aufweisen. Aber es gibt auch andere Gruppen, die sind sehr viel schlechter hinsichtlich der Integrationsindikatoren als die nicht zugewanderten Deutschen, und deshalb ist zwar verständlich, warum er von den Statistikern damals eingeführt wurde, weil man alleine anhand der Staatsangehörigkeit, wie ja auch die Pisa-Studie und so weiter gezeigt hat, das nicht mehr klar auseinanderhalten konnte, weil wir sehr viele Leute hatten, die aufgrund der Veränderung des Staatsangehörigkeitsrechts, aufgrund der starken Zuwanderung von Spätaussiedlern hier Gruppen hatten, die die deutsche Staatsangehörigkeit hatten, die aber erhebliche Migrationsprobleme aufgewiesen haben. Insofern ist es verständlich, warum man den eingeführt hat, aber wenn man nicht tiefer reinschaut und sagt, was sind denn da für Strukturen und für Gruppen, dann kann man es gleich lassen.
"Eine gegen die Polizei gerichtete Stimmung"
Armbrüster: Abgesehen von diesem Begriff, was bringt diese vorwiegend jungen Männer dazu, sei es nun in Stuttgart oder in Frankfurt, wie jetzt am Wochenende, gewalttätig gegenüber der Polizei zu werden?
Luft: Wie ich schon gesagt habe. Zum einen haben die in den letzten Wochen, wenn sie sich im öffentlichen Raum aufgehalten haben, häufig den Hinweis bekommen, sie möchten sich doch bitte nach Hause begeben. Dann sind es natürlich Verlierer, zum großen Teil zumindest nach meiner Einschätzung. Das heißt Leute, die sehen, dass sich hier die Erwartungen, mit denen sie gekommen sind, nicht erfüllen werden. Und ich glaube, was insgesamt eine große Rolle spielt ist ein hohes Ausmaß an Aggression und Hass, das sich in Teilen der Gesellschaft in Deutschland entwickelt hat, eine gegen die Polizei gerichtete Stimmung, die natürlich auch durch Äußerungen aus der Politik, etwa wenn den Polizeien des Bundes und der Länder generell eine rassistische Haltung unterstellt wird, bestätigt wird. Insofern muss man sehen: Es handelt sich um Verlierer, die sich als Opfer der Gesellschaft sehen, die in der Konsequenz diese Gesellschaft bekämpfen wollen. Ich kann es nicht beurteilen, aber soweit ich das bisher zumindest aus Stuttgart gelesen habe, scheint, ein erheblicher Teil auch einen muslimischen Hintergrund zu haben, und bei den Muslimen ist das Phänomen, dass sie sich einerseits bei den jungen Muslimen von der Elterngeneration distanzieren, ein anderes Leben verwirklichen wollen, aber andererseits in der Aufnahmegesellschaft auch nicht angekommen sind und sie ablehnen. Das sind dann Konfliktsituationen, in denen auch diese sogenannten gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen, die bei muslimischen Männern – so sagen zumindest viele Kriminologen – verbreitet sind, dann sich auswirken.
Weitere Krawallnächte "nicht unwahrscheinlich"
Armbrüster: Was würden Sie sagen? Muss man sich in deutschen Innenstädten auf weitere solcher Krawallnächte in den kommenden Wochen gefasst machen?
Luft: Ich halte das nicht für unwahrscheinlich. Die Frage ist, ob sich das verfestigt, wie wir das in Frankreich kennen, die ja seit Jahrzehnten immer wieder aufflammende Krawalle haben. Wenn man das verhindern will, was wir in Frankreich haben, dass das außer Kontrolle gerät und immer wieder anhand konkreter Anlässe explodiert, dann muss man als erstes offen über die Ursachen und die Tatverdächtigen reden. Man darf die Ursachen nicht verschleiern. Man darf nicht sagen, bestimmte Themen dürfen nicht angesprochen werden, weil das unerwünschten politischen Gruppen nutzen würde. Wenn man so vorgeht, werden ist die Wahrscheinlichkeit zumindest hoch, dass die Probleme tatsächlich irgendwann außer Kontrolle geraten.
Zweitens, was ganz zentral ist: Wir müssen darauf achten, dass wir nicht die Probleme bekommen, die die Franzosen mit ihren Banlieue haben, mit ihren Vorstädten. Die Gefahr ist hoch. Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass die anerkannten Flüchtlinge über den Wohnungsmarkt in Stadtteile geschleust werden, in denen preiswerter Wohnraum vorhanden ist, und das sind jene Stadtteile, in denen bereits die einheimischen und länger zugewanderten Armen leben. Da kommt es zu Konkurrenzen auf dem Wohnungsmarkt, auf dem Arbeitsmarkt und auf dem Niedriglohnsektor, und deswegen wäre die Politik gut beraten, den Sozialwohnungsbau in exorbitanter Weise zu steigern, um so der sozialen Polarisierung in den Städten, die immer mehr zunimmt, und der Konzentration bestimmter Gruppen in einzelnen Stadtteilen entgegenzuwirken. Das halte ich für ziemlich zentral.
Und drittens, was jetzt auch in Frankfurt versucht wird: Es geht ja auch um die Demonstration von Macht im öffentlichen Raum.
Diese Herausforderungen muss die Landespolitik und die Kommunalpolitik annehmen. Das heißt, es müssen lokale Sicherheitskonzepte entwickelt werden. Es muss die Strafe auf die Tat folgen. Es dürfen nicht mehrere Monate vergehen, bis ein Tatverdächtiger vor dem Richter erscheint. Ich würde diese drei Punkte für die zentralen Punkte halten, wenn man Verhältnisse, wie wir sie unter anderem in Frankreich seit Jahrzehnten kennen, verhindern will.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.