Der Busbahnhof in Litauens Hauptstadt Vilnius. In fünf Minuten soll der Bus ins russische Kaliningrad abfahren, aber der Bussteig ist noch immer leer. Eine Frau um die 50 läuft nervös mit ihrem Rollkoffer auf und ab.
"Der Bus fährt von Minsk nach Kaliningrad. Wie komme ich bloß rechtzeitig zur Arbeit, es ist ja zum Verrücktwerden!"
Die Frau heißt Alla. Sie fährt seit 15 Jahren regelmäßig dienstlich nach Kaliningrad. Gewöhnlich nimmt sie den Zug.
"Das ist mir zum ersten Mal passiert: Ich habe den Tag verwechselt. Meine Kolleginnen riefen frühmorgens an und fragten: Alla, wo bleiben Sie? Ich sagte: Ich bin zu Hause. Ich muss morgen zur Arbeit, am 24. Sie sagten: Heute ist der 24.! Ich habe das erst gar nicht begriffen."
Alla ist Zugbegleiterin im Dienst des litauischen Außenministeriums. Wer aus der Exklave Kaliningrad in den Rest Russlands reisen möchte, muss entweder fliegen oder das EU-Land Litauen durchqueren. Für russische Bahnreisende gibt es deshalb eine visafreie Transitregelung. Alla und ihre Kolleginnen stempeln unterwegs die Transitscheine.
Baltische Staaten: Angst vor einem russischen Angriff
Beim Transit kooperieren Litauen und Russland, doch ansonsten ist das Verhältnis zwischen den Ländern der Region angespannt. Die Regierungen aller drei baltischen Staaten befürchten, dass Russland nach der Aggression gegen die Ukraine, nach der Annexion der Krim, auch Estland, Lettland oder Litauen angreifen könnte. Litauische Sicherheitskräfte haben kürzlich in einer Übung durchgespielt, dass russische Kämpfer mit dem Zug einfallen.
Alla hat russische Vorfahren, ist aber in der Sowjetrepublik Litauen geboren und hat Anfang der 90er-Jahre sofort die litauische Staatsbürgerschaft angenommen. Mit Blick auf die Annexion der Krim sagt sie:
"Ich denke, im 21. Jahrhundert ein anderes Land zu erobern, ist ein Verbrechen."
Sie spricht als Privatperson. Ihre persönliche Meinung deckt sich mit der des Ministeriums:
"Früher haben wir immer zuerst auf die Gesundheit angestoßen. Jetzt stoße ich immer zuerst auf den Frieden an."
Endlich kommt der Bus nach Kaliningrad. Knapp ein Dutzend Reisende steigen ein. Nicht mal ein Drittel der Plätze ist besetzt. Der Bus verlässt Vilnius durch Gewerbe- und Wohngebiete. In den Gärten und an den Fenstern hängen litauische Fahnen. 2018 feiert das Land hundert Jahre Staatsgründung. Auf der Europastraße 28 geht es durch hügelige Landschaften.
Russland empfindet NATO-Stationierung als Bedrohung
Etwa 70 Kilometer weiter im Norden, nahe dem Ort Rukla, hat die NATO vor gut einem Jahr eine multinationale Kampftruppe stationiert, unter deutscher Führung. Russische Politiker bezeichnen das als Bedrohung.
Auf einem der vorderen Plätze sitzt Tatjana Laskowskaja und schaut aus dem Fenster. Sie hat einen erwachsenen Sohn und lebt in Kaliningrad. Hat sie Angst vor der NATO?
"Machen Sie keine Witze! Das ist lächerlich. Natürlich kann es sein, dass die russische Führung irgendwelche Schritte zum Schutz vor der NATO unternimmt. Aber in Kaliningrad wird der Krieg als allerletztes ausbrechen. Wir sind friedlich, wir sind gut, wir lieben alle.
Im Übrigen: Was ist denn schon Litauen gegen Russland. Wenn Russland wollte, hätte es längst..."
Sie spricht den Satz nicht zu Ende. Tatjana Laskowskaja kommt alle paar Wochen nach Vilnius, ihr Freund lebt dort. Die Menschen in Litauen begegnen ihr durchweg freundlich, sagt sie. Und auch an der Grenze bekomme sie von der politischen Zuspitzung nichts mit.
"Die Kontrollen laufen wie immer. Zoll ist nun mal Zoll. Die Russen machen weit mehr Probleme als die Litauer. Alles hängt davon ab, ob sie uns zwingen, mit unserem Gepäck auszusteigen."
"Die Menschen sind einander sehr wohlgesonnen"
Nach drei Stunden nähert sich der Bus der Grenze. Eine litauische Beamtin kommt in den Bus, sammelt die Pässe ein, verschwindet in einem Abfertigungshäuschen. Dann muss jeder aussteigen und seinen Pass wieder abholen. Auf der russischen Seite erneutes Aussteigen. Auch das Gepäck muss raus und wird durchleuchtet. Nach etwa zwei Stunden an der Grenze fährt der Bus weiter.
Alla steht vor dem Getränkeautomaten im Bus. Sie möchte Cappuccino. Wladimir Abramow trinkt Kakao. Er ist Russe, Rentner, lebt in Weißrussland und will in Kaliningrad Verwandte besuchen.
"Ich reise viel, ich bin alle drei Monate in der Ukraine, in Russland, in Kasachstan, im Baltikum, in Polen. Die Probleme zwischen den Staaten sind erfunden. Die Menschen, mit denen ich zu tun habe, das sage ich Ihnen aus vollster Überzeugung, sind einander alle sehr wohl gesonnen."
Der Bus fährt nun durch einsame Weiten. Das Land rechts und links der Straße ist unbestellt. Dann ein Ort: Tschernjachowsk. An einer Autowerkstatt hängt ein Schild: "Wo wir sind, ist der Sieg." Irgendwo hier soll Russland seine Iskander-Raketen stationiert haben, atomar bestückbare Kurzstreckenraketen, von denen sich die NATO-Staaten bedroht fühlen. Wladimir Abramow nippt an seinem Becher:
"In jedem Konflikt sind immer beide Seiten schuld. Die Menschen müssen miteinander reden."