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Konsequenzen aus der Bluttat von Erfurt

Birke: Wir haben es eben gehört, der Schock sitzt noch tief. Der Amoklauf von Erfurt hat eine Vielzahl von Fragen aufgeworfen und Politiker nach Konsequenzen rufen lassen. Wir sind nun mit einer Politikerin verbunden, der parlamentarischen Geschäftsführerin der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, einen schönen guten Tag, Frau Göring-Eckardt.

30.04.2002
    Göring-Eckardt: Guten Tag, Herr Birke.

    Birke: Frau Göring-Eckardt, Sie stammen aus Erfurt, Sie waren vor Ort - wie werden denn die Menschen fertig mit der Situation.

    Göring-Eckardt: Im Moment ist es so, dass man nicht mit der Situation fertig werden kann. Es gibt an vielen Orten Gespräche, egal wo man hinkommt, ob man Milch kaufen will, Blumen besorgt oder auch nur zu einer Behörde geht - überall wird gesprochen. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiges Element, dass die Menschen jetzt miteinander reden, dass sie dem Ausdruck geben können, was sie fühlen, was sie erlebt haben und das geht den Politikern, also mir persönlich, ganz genau so wie allen, die in dieser Stadt leben und natürlich noch mehr denen, die betroffen sind. Es gibt ein großes Miteinander und ein großes Mitgefühl und es gibt natürlich viele Fragen. Fragen der Eltern, Fragen der Lehrer, aber eben auch Fragen aller Eltern: wie rede ich mit meinen eigenen Kindern über sie Situation, wie kann man das begreiflich machen, wie kann man mit Angst umgehen, mit großer Angst umgehen, die viele jetzt haben, gerade Kinder jetzt haben. Das sind die Gespräche, die auf den Straßen und an den Plätzen geführt werden und die wir ganz genau so führen als Politiker eigentlich wie jeder andere.

    Birke: Nun gibt es Politikerkollegen und -kolleginnen von Ihnen, die sich jetzt natürlich gleich auch zum Handeln verpflichtet fühlen und für einen Augenblick sah es ja so aus, als würde die Tragödie von Erfurt für gegenseitige Schuldzuweisungen zwischen Regierung und Opposition und damit auch als Wahlkampfplattform missbraucht. Jetzt hat allerdings der Unionskanzlerkandidat Edmund Stoiber dem Bundeskanzler Gerhard Schröder ein parteiübergreifendes Bündnis gegen Gewalt angeboten. Ist das der richtige, der gemeinsame Weg?

    Göring-Eckardt: Ich finde, dass ein gemeinsamer Weg unabdingbar ist und dass diese Auseinandersetzungen, die in den letzten Tagen passiert sind, für eine Gesellschaft ziemlich unanständig sind. Wir sind eigentlich in einer Trauerzeit und die sollten wir auch einhalten, auch als Gesellschaft, nicht nur diejenigen, die unmittelbar zu betrauern haben. Es ist auch eine Aufgabe einer Gesellschaft, Trauerzeiten einzuhalten und Bündnisse aller Parteien, parteiübergreifend und aller gesellschaftlichen Kräfte finde ich wichtig. Ich glaube nur, wir sollten wirklich sagen: es geht um ein Bündnis für Kinder, für gute Schule, auch für die Familien, für die Eltern und das Bündnis für die Gewalt, ich akzeptiere das, dass das im Moment ein Schwerpunkt ist, dass alle erschrocken sind über das Waffenrecht und so weiter. Das ist, glaube ich, nur ein Teil der Sache. Ich bin ein bisschen besorgt darüber, dass wir so eine Verengung haben auf Sicherheitsdebatte, weil es ja um viel mehr geht. Es geht um die Frage: wie bekommen Kinder Selbstbewusstsein, wie bekommen sie Selbstvertrauen um in schwierigen Situationen handeln zu können, schwierige Situationen meistern zu können, wie können sie Konflikte bewältigen, haben sie tatsächlich auch immer Ansprechpartner, egal wie groß die Verzweiflung ist, egal wie schlimm das Problem ist, das sie haben. Aus meiner Sicht geht es nicht so sehr um Verbote sondern es geht wirklich um Angebote, um Annahme für Kinder und auch für Eltern. Und ich denke, dieses Signal sollten wir wirklich setzen und das sollten wir parteiübergreifend setzen und nicht nur jetzt, so notwendig das ist, über Waffengesetze und so weiter zu reden, ich bin da sehr einig, dass man hier über weitere Verschärfungen reden soll, aber ich glaube, dass das zu kurz greift und dass wir als Gesellschaft einfach die Aufgabe haben zu fragen: wo stehen wir für unsere Kinder, wo stehen wir für die Kinder in diesem Land, für die Schule in diesem Land, auch für die Lehrer, die ja jetzt eine ganz ganz schwierige Aufgabe haben im Moment, genauso wie eben Eltern eine schwierige Aufgabe haben im Moment. Und da sollten wir als Politiker wirklich auch vorangehen und Vorbild sein. Vorbild im Sinne von: wir werden uns jetzt nicht auf unsachliche Weise miteinander beschäftigen sondern wir werden uns jetzt wirklich mit der Situation beschäftigen und wir werden wirklich langfristig etwas ändern und nicht nur kurzfristig an der ein oder anderen Stelle was reparieren.

    Birke: Nun ist gerade das, was Sie anregen und was sehr wichtig scheint in dieser Situation ungleich schwerer und ungleich langsamer umzusetzen als das, was in der Diskussion ist, Sie haben ja selbst das Waffengesetz angesprochen. Plädieren Sie denn nun für eine Heraufsetzung des Alters, in dem man legal Waffen beziehen kann, auf 21 beispielsweise?

    Göring-Eckardt: Ich persönlich tue das, ich finde das einen richtige Anstoß und da muss man drüber reden, aber wir sollten uns einfach den Blick nicht verstellen in dieser Diskussion. Wenn wir mal an Meißen zurückdenken, dort ist eine Lehrerein erstochen worden, da hätte man mit einer Änderung des Waffengesetzes überhaupt nichts erreicht. Und wenn wir in viele andere Konfliktsituationen schauen, mit welcher Art und Weise da auch reagiert wird, wissen wir einfach, es kommt darauf an, wie die Situation ist, wie sie bei den Lehrern ist, wie sie in der Schule ist, wie wir miteinander umgehen und auch da sollte die Politik ja eher Vorbild sein als mit einer Haudrauf- und unsachlichen Mentalität das Gegenteil zu bewirken. Deswegen denke ich: ja, das sollten wir tun, aber wir sollten uns nicht den Blick verstellen für das, was wirklich notwendig ist. Und es wird lange dauern, das ist richtig und das wird auch eine gesellschaftliche Anstrengung bedeuten, auch in finanzieller Hinsicht. Aber auch da können wir wirklich nur alle gemeinsam sagen: die PISA-Studie hat uns angestoßen und jetzt sind wir hoffentlich so weit aufgewacht, dass wir auch wissen, in der Tat wissen, dass wir diese gesellschaftliche Anstrengung auch brauchen für die Kinder in diesem Land, für die Eltern in diesem Land und für die Schulen in diesem Land. Und wenn wir es jetzt nicht schaffen, diese Anstrengung zu unternehmen, auch wenn es länger dauert, als vieles, was man kurzfristig regeln kann, dann werden wir auch etwas verloren geben, was eigentlich ein ganz ganz wichtiger Wert in dieser Gesellschaft ist, nämlich die Frage: wie gestalten wir eigentlich unsere eigene Zukunft.

    Birke: Das war die grüne Bundestagsabgeordnete Katrin Göring-Eckardt, sie selbst stammt aus Erfurt, ich bedanke mich recht herzlich für dieses Gespräch.

    Göring-Eckardt: Danke.