Auch in Sachsen waren nicht alle Entscheidungsträger in vorderster Front zum Helden berufen, wie sich in der Rückschau zeigt. Doch vorwerfen kann man das den örtlichen zivilen Befehlshabern wohl nur bedingt. Schließlich übertraf die Flut-Katastrophe alles, was man sich vorher hatte vorstellen können. Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt möchte daher unter allen Umständen vermeiden, dass jemand an den Pranger gestellt wird, für persönliches Versagen:
Ich habe immer gesagt, ich will keine Hexenjagd.
Doch natürlich weiß auch der Regierungschef, dass einzelne Bürgermeister komplett versagt haben. Legendär ist die Geschichte des kleinen Ortes Gruna im Landkreis Delitzsch, südlich von Bitterfeld, der vom Hochwasser der wildgewordenen Mulde komplett geflutet wurde. Keiner der rund 240 Einwohner kam ungeschoren davon, doch der Bürgermeister hielt es nicht für nötig, Flagge zu zeigen. Dabei hatte der jedoch nicht mit der Tatkraft des Landrates von Delitzsch gerechnet. Der ist kein Zauderer, enthob den Bürgermeister kurzerhand seines Amtes, und übertrug wichtige Aufgaben des Katastrophenmanagements an den Bürgermeister der Nachbargemeinde. Auch die hochgelobte, ultramoderne Pegeltechnik in der Elbe beispielsweise hielt den Fluten nicht lange stand. Schließlich mussten die ehrenamtlichen Pegelwächter zum Teil unter Lebensgefahr die alten hölzernen Pegellatten wieder ablesen, die glücklicherweise noch montiert waren. Alle diese Details müssen nun ausgewertet werden, ebenso die Frage, ob es eigentlich genug Katastrophenschutzübungen hierzulande gibt. Zum Jahresende wird die Kirchbach-Kommission ihren Bericht vorlegen, bis dahin wird dieses Thema weitgehend von der Diskussion um den Wiederaufbau in den Überschwemmungsgebieten verdrängt.
Weniger schlimm als Sachsen war Brandenburg im August vom Elbehochwasser betroffen. Der Fluss trifft das größte ostdeutsche Flächenland im Süden bei dem kleinen Ort Mühlberg und im Norden, in der Prignitz. Dazwischen bewegten sich die gewaltigen Wassermassen durch Sachsen-Anhalt. Vom "Wunder von Mühlberg" war schließlich die Rede. Niemand hatte damit gerechnet, dass die Gemeinde mit ihren 5.400 Einwohnern zu halten gewesen wäre. Denn Mühlberg liegt in einer Senke, und hätten nicht in letzter Minute Freiwillige am hoch gefährdeten, inzwischen aufgegebenen Deich beschlossen, unter Lebensgefahr weiter Sandsäcke zu stapeln, wäre der Ort drei Meter tief in den Fluten versunken. "Nicht aufgeben", das waren die Worte von Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck, dem man nach dem Oderhochwasser 1997 den Titel "Deichgraf" verliehen hatte.
Das Oderhochwasser hat uns auf dem falschen Fuß erwischt. Das heißt, die Zivilstrukturen der DDR waren atomisiert worden. Die neuen Zivilschutzstrukturen waren noch keinem Test unterzogen worden. Und es waren nicht wenige dabei, die sich fragten, was mache ich eigentlich, wenn eine Katastrophe droht!
Aus den Fehlern wollte Brandenburg lernen, zumal das ebenfalls vom Hochwasser betroffene Polen, das sogar Tote zu beklagen hatte, in der großen Not nicht in der Lage war, mit dem deutschen Nachbarland zusammenzuarbeiten. Matthias Platzeck war damals Umweltminister im Kabinett Manfred Stolpes. Im schwarzen Hemd und in Jeans wollte er seine Aufgabe nicht nur darin sehen, den Menschen auf deutscher Seite Mut zu machen, in zahllosen Fernsehauftritten, immer ruhig, obwohl die nördliche Uckermark auf einer Flächen von 65 Quadratkilometern hätte versinken können, wenn dort der Deich gebrochen wäre.
Wir hatten die Verbindung zu Polen nicht getestet. Das Hochwasser kam mit gewaltiger Wucht. Die Schlussfolgerung war ein Vertrag mit Polen, also: Kollegen beraten sich, es gibt einen Messdatenaustausch, gemeinsame Messprogramme. Die Wasserrechtler arbeiten zusammen. Das hat nun eine neue Qualität und ist nicht mehr so, wie es 1997 war.
Vorsorglich hatten die Brandenburger mit den Tschechen Kontakt aufgenommen; und diesmal gab es, was zumindest die Zusammenarbeit anging, weniger Sorgen, und mit den Daten dort fingen die Brandenburger an zu rechnen, ob sie das Wasser ableiten können.
An der Elbe war der Kontakt zu den tschechischen Kollegen wichtig. Das hat diesmal besser geklappt als mit den Polen damals. Die Informationen von dort waren wichtig, und jeder Ausweichraum ist wichtig. Die Biosphärenreservate Mittlere Elbe und in der Prignitz waren wichtig.
Die Schäden im Freistaat werden auf insgesamt rund 15 Milliarden Euro geschätzt. Der Bund wird davon aus der Verschiebung der zweiten Stufe der Steuerreform um ein Jahr mehr als 7 Milliarden übernehmen. Hinzu kommen später weitere drei Milliarden und dann wird man sehen müssen, wie viel noch gebraucht wird, um vor allem die Infrastruktur – die Nervenbahnen der Wirtschaft – wieder herzustellen. Daneben gibt es natürlich noch diverse – zum Teil – prall gefüllte Spendentöpfe. Doch auch ihre Verteilung ist nicht ganz einfach. Es geht in erster Linie um Gerechtigkeit, doch die ist nicht zu haben. Das macht Martina de Maiziere, der Frau des sächsischen Justizministers am meisten Kopfzerbrechen. Sie ist Mitglied im Vorsitz des mildtätigen Vereins 'Aufwind', der ebenfalls eine ganze Menge Spendengelder gesammelt hat:
...tolles Engagement, aber nicht genug Geld für alle.
Immerhin hat man aus der Oderflut gelernt. Um soziale Verwerfungen und Zerrüttungen in den vom Hochwasser betroffenen Gebieten zu vermeiden, wird nach strengen Richtlinien und nur unter Einbeziehung von ehrenamtlichen Spendenbeiraten das geschenkte Geld vergeben.
Allein auf den Konten des Freistaates Sachsen sind über 35 Millionen Euro eingegangen, die ihrer Verteilung harren. Diese Gelder sollen nun gemäß einer von der Staatsregierung erlassenen Härtefall-Regelung an die bedürftigen Menschen ausgezahlt werden. Ein landesweites Erfassungssystem, unter dem Namen Phoenix soll gewährleisten, dass keiner doppelte Leistungen erhält.
Man kann noch schlechter schlafen als vorher, und jedes Jahr um diese Zeit denkt man immer wieder bei jedem bisschen Wasser, das kommt – hoffentlich kommt es nicht wieder.
Soldaten und Polizisten hatten Anneliese Palasik am 23. Juli 1997 in Brandenburg angeschnauzt. Sie sollte in Aurith, direkt am Oderteich, endlich ihre Sachen packen. Der Deich sei gebrochen.
Das kam ja allmählich ins Haus rein. Wir haben das gar nicht mitgekriegt. Da haben wir noch die PKWs geladen und die Sachen reingetan. Mein Bruder ist noch einen Tag länger geblieben. Am nächsten Tag kam die Polizei und hat gesagt, er ist einer der letzten und soll jetzt seine Sachen packen. Der hat dann das Motorrad genommen, hinten in den Wagen die Sachen rein und die Hühner rein und ist dann noch durch das Trockene gefahren.
Aurith liegt in der Ziltendorfer Niederung, 39 Kilometer von Frankfurt/Oder entfernt. Die Häuser heute wirken wie neu. Damals war Hans-Jürgen Erdmann, nun 47 und Direktor einer Bankfiliale, der Kopf der Bürgerwehr, die Tag und Nacht über den puddingweichen Deich patrouilliert ist. Erdmann ist so lange geblieben, wie es noch ging – während die Ziltendorfer Niederung mit Wasser vollief.
Und der erste Deichbruch hatte die Niederung stark versehrt. Da war auch schon Frankfurt in Mitleidenschaft gezogen worden. Da war der zweite Dammbruch eine Entlastung. Da ist in Frankfurt an der Oder der Wasserpegel um zehn Zentimeter gefallen.
Zwischen dem ersten und dem zweiten Dammbruch waren 24 Stunden vergangen. Ohne jede Habseligkeit, nur die Familienbilder in der Hand, trafen die Erdmanns am 24. Juli in Eisenhüttenstadt ein.
Ein paar Mark hat man schon in der Tasche. Dann geht man mit einem Bombenkoffer, wie man den im Krieg hatte, los in die Koordinierungsstelle. Da wurde gefragt, habt ihr eine Zahnbürste? Daran musste ja auch gedacht werden. Und dann hat man eine Menge Geld in die Hand gedrückt bekommen. 40.000 Mark. Das ist auch eine ungewöhnliche Situation. Hat dann seine Klamotten und eine Menge Geld.
Rund 6.400 Menschen mussten evakuiert werden. Die Erdmanns haben sich erst einmal eine Bleibe gesucht, Bettwäsche gekauft, und sie wussten: jetzt ist alles verloren. Sieben Jahre lang hatten sie an ihrem Haus gebaut. Als es fertig war, war das Wasser gekommen. Matthias Freude, der Präsident des Landesumweltamtes, konnte in Frankfurt nicht aufatmen. Ziltendorf war verloren, die Deiche auf einer Länge von 163 Kilometern butterweich – und nun drohte das Oderbruch in den Fluten zu versinken, eine Senke, die das Hochwasser auf einer Fläche von 65 Quadratkilometern hätte aufnehmen können.
Ich hatte eine Karte vor mir auf dem Schreibtisch. Da sah man viele Dörfer, alte und neue. Die neuen sind 150 Jahre alt. Wäre der Deich gebrochen, dann hätte der Pegel im Oderbruch eine Höhe von 6 Meter 60 erreicht. Sie müssen sich das vorstellen. Das heißt, da guckt gerade einmal der Kirchturm raus.
Die nächste Katastrophe war ausgeblieben, und nach vier Wochen begannen die Arbeiter mit dem Neubau der Deiche.
Normalerweise dauert es in Deutschland zwischen 4, 5 und 10 Jahre von der Planung bis zum ersten Spatenstich. Jetzt haben wir 97 Kilometer saniert. Das erklärt sich dadurch, dass wir Geld hatten und vieles unbürokratisch abläuft, was wir uns nur wünschen können.
Die staatlichen Gelder flossen hier in die Deichsanierung, rund 65 Millionen Mark kamen an Spenden für die Hochwasseropfer an. In Aurith wurden kostenlos Einbauküchen angeliefert, 10.000 Quadratmeter Auslegeboden – oder: an jeder Tür hing nach dem Oderhochwasser ein großer Beutel mit Wasch- und Desinfektionsmitteln. Das war wohl zu viel an Spenden, glaubt Anneliese Palasik.
Das ist hier alles nicht mehr so wie es war. Wären wir bloß nicht mehr zurückgekehrt. Die Nachbarschaft ist kaputt. Unser Nachbar hat uns schon zweimal angezeigt, wir sprechen nicht mehr miteinander, und ich weiß nicht, wie man hier noch alt werden soll.
In Sachsen will man Konsequenzen ziehen aus der Flut, auch und gerade im Baurecht. Dennoch bleibt eines vorsorglich festzuhalten: Im August 2002 war das Wasser auch dort, wo es nie zuvor gewesen war, und wo man es auch nie erwartet hatte. Überall wird saniert soweit das geht. Zugleich wird heftig diskutiert, ob denn nun alles wieder so aufgebaut werden soll, wie es war. Nicht wenige Hausherren erkennen nun mit Schrecken, dass sie eigentlich mitten im Fluss gebaut haben. Doch die nächste Flut kommt bestimmt, also will ein Wiederaufbau wohlüberlegt sein. Sachsen ist durchaus hochwassererfahren, wie ein Blick in die Chronik zeigt. Der Meißener Superintendent der evangelischen Kirche, Andreas Stempel zitiert aus einer Stadt-Chronik.
Es ging damals um die Verlegung der Triebisch. Hochwasser kann gar nicht mehr vorkommen...ja man glaubt das sei heute, aber es war 1897...
Im sächsischen Kabinett ist man einen Schritt weiter. Ein neues Gesetz soll den Hochwasserschutz besser regeln. Genauer: es werden Vorsichtsmaßnahmen erlassen. Darin verankert werden auch neue Gewässerabstandsgrenzen von 5 Metern in einer Ortschaft und 30 Metern außerhalb der Gemeinden und Städte. Damit soll verhindert werden, dass erneut im Überschwemmungsgebiet gebaut wird. Justizminister Thomas de Maiziere:
Das verändert bestehendes Baurecht nicht, aber es verhindert zukünftiges Baurecht.
Diese Einschränkung betrifft vor allem einen Ort wie Weesenstein im Müglitztal. Vor der Flut wohnten hier rund 180 Menschen, derzeit sind es vielleicht noch 50. Strom, Wasser und Gas müssen völlig neu verlegt werden, die Straße gibt es nicht mehr. 10 von 40 Häusern wurden einfach weggeschwemmt, Menschen wurden obdachlos, einige sind endgültig weggezogen. Soll man hier alles wieder so aufbauen, wie es war? Kabinettsmitglied de Maiziere winkt ab und gibt zu bedenken:
In Weesenstein muss man erst mal klären, wo ist das Gewässer? Und nicht alles was rechtlich erlaubt ist, ist auch vernünftig!
Das Dresdner Institut für ökologische Raumplanung plädiert indessen für staatlich geförderte Umsiedlungsprogramme, die die Menschen aus den gefährdeten Zonen in andere Landstriche bringen sollen. Ganz nach dem Vorbild der USA, die solcherlei Maßnahmen schon mehrfach praktiziert haben. Doch in Sachsen will man davon - noch - nichts wissen.
Die Umsiedlung hätte den Mühlbergern im Süden Brandenburgs auch drohen können. Alles ist noch einmal gut gegangen. Doch in der Stunde der Naturkatastrophe hilft es nicht, über die Zukunft nachzudenken. Da muss gehandelt werden, sagt Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm, CDU.
Man muss den Leuten die Wahrheit sagen!
Das ist keine Konsequenz aus dem Oderhochwasser fünf Jahre zuvor. Allerdings hat die Polizei in Brandenburg diesmal auf eine Deeskalationsstrategie gesetzt. Niemand sollte aus seinem Haus gezerrt werden. Die Beamten setzten auf Argumente: wenn die Mühlberger nach dem Deichbruch aus ihrem Haus geholt werden müssten, sollten sie auch die Kosten für den Hubschraubereinsatz bezahlen, der notwendig wäre. Natürlich ließen sich rund 100 Mühlberger nicht einmal davon überzeugen, dass ihre Sturheit ziemlich teuer werden könnte. Am Schluss, als der Deich aufgegeben wurde, haben sie sich doch auf und davon gemacht, die meisten zumindest.
Das ist schon blöd ohne Wasser und ohne Strom. Ich bin dann weggegangen. Am Samstagmorgen bin ich weggegangen, dann in die Weinberge. Man merkt doch, wenn der Druck groß wird, und dann muss man sich auf den Weg machen.
In Brandenburg ist man noch mal davon gekommen. Und wieder müssen Lehren gezogen werden, sagt Matthias Platzek:
Das Wetter ist hektischer geworden. Es gibt größere Regenmengen. Der Fluss braucht mehr Raum.
Der Alltag in den Flutgebieten bleibt schwierig. Noch immer werden die Schäden gezählt – und die Schulden. Beide Größen verändern sich täglich, Tendenz steigend. Das schlägt aufs Gemüt. Zusätzlich macht sich tiefe Erschöpfung breit, nach den langen Wochen des Aufräumens. Mental sind die Menschen in den Hochwassergebieten noch längst nicht über den Berg. Bisher waren Hunderte von Helfern vor Ort, herrschte Aufbruchstimmung. Doch jetzt kommt der Herbst, die Temperaturen sinken, die Tage werden deutlich kürzer und das Licht trübe. Längst nicht jedes flutgeschädigte Haus verfügt bereits wieder über eine Heizung. Überall sind die Gebäude feucht, stehen die Fenster offen. An ein normales Leben ist nicht zu denken, die Seelsorger und Psychologen sind fast pausenlos im Einsatz. Der evangelische Superintendent von Meissen , Andreas Stempel erzählt:
Es treten jetzt Schlaflosigkeit und schlechte Träume auf, die Nerven liegen blank, Stress.
Und doch ist es erstaunlich mit welcher Kraft einige dennoch ans Werk gehen, so etwa dieser junge Gastronom aus Bad Schandau, von dessen Gasthaus im historischen Fachwerkhaus wenig mehr als ein Gerippe steht. Seinen Schaden beziffert er mit rund 250-tausend Euro. Dennoch sagt er:
Ich will weitermachen... wenn das Finanzielle geregelt ist.
Link: Foto: AP
Ich habe immer gesagt, ich will keine Hexenjagd.
Doch natürlich weiß auch der Regierungschef, dass einzelne Bürgermeister komplett versagt haben. Legendär ist die Geschichte des kleinen Ortes Gruna im Landkreis Delitzsch, südlich von Bitterfeld, der vom Hochwasser der wildgewordenen Mulde komplett geflutet wurde. Keiner der rund 240 Einwohner kam ungeschoren davon, doch der Bürgermeister hielt es nicht für nötig, Flagge zu zeigen. Dabei hatte der jedoch nicht mit der Tatkraft des Landrates von Delitzsch gerechnet. Der ist kein Zauderer, enthob den Bürgermeister kurzerhand seines Amtes, und übertrug wichtige Aufgaben des Katastrophenmanagements an den Bürgermeister der Nachbargemeinde. Auch die hochgelobte, ultramoderne Pegeltechnik in der Elbe beispielsweise hielt den Fluten nicht lange stand. Schließlich mussten die ehrenamtlichen Pegelwächter zum Teil unter Lebensgefahr die alten hölzernen Pegellatten wieder ablesen, die glücklicherweise noch montiert waren. Alle diese Details müssen nun ausgewertet werden, ebenso die Frage, ob es eigentlich genug Katastrophenschutzübungen hierzulande gibt. Zum Jahresende wird die Kirchbach-Kommission ihren Bericht vorlegen, bis dahin wird dieses Thema weitgehend von der Diskussion um den Wiederaufbau in den Überschwemmungsgebieten verdrängt.
Weniger schlimm als Sachsen war Brandenburg im August vom Elbehochwasser betroffen. Der Fluss trifft das größte ostdeutsche Flächenland im Süden bei dem kleinen Ort Mühlberg und im Norden, in der Prignitz. Dazwischen bewegten sich die gewaltigen Wassermassen durch Sachsen-Anhalt. Vom "Wunder von Mühlberg" war schließlich die Rede. Niemand hatte damit gerechnet, dass die Gemeinde mit ihren 5.400 Einwohnern zu halten gewesen wäre. Denn Mühlberg liegt in einer Senke, und hätten nicht in letzter Minute Freiwillige am hoch gefährdeten, inzwischen aufgegebenen Deich beschlossen, unter Lebensgefahr weiter Sandsäcke zu stapeln, wäre der Ort drei Meter tief in den Fluten versunken. "Nicht aufgeben", das waren die Worte von Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck, dem man nach dem Oderhochwasser 1997 den Titel "Deichgraf" verliehen hatte.
Das Oderhochwasser hat uns auf dem falschen Fuß erwischt. Das heißt, die Zivilstrukturen der DDR waren atomisiert worden. Die neuen Zivilschutzstrukturen waren noch keinem Test unterzogen worden. Und es waren nicht wenige dabei, die sich fragten, was mache ich eigentlich, wenn eine Katastrophe droht!
Aus den Fehlern wollte Brandenburg lernen, zumal das ebenfalls vom Hochwasser betroffene Polen, das sogar Tote zu beklagen hatte, in der großen Not nicht in der Lage war, mit dem deutschen Nachbarland zusammenzuarbeiten. Matthias Platzeck war damals Umweltminister im Kabinett Manfred Stolpes. Im schwarzen Hemd und in Jeans wollte er seine Aufgabe nicht nur darin sehen, den Menschen auf deutscher Seite Mut zu machen, in zahllosen Fernsehauftritten, immer ruhig, obwohl die nördliche Uckermark auf einer Flächen von 65 Quadratkilometern hätte versinken können, wenn dort der Deich gebrochen wäre.
Wir hatten die Verbindung zu Polen nicht getestet. Das Hochwasser kam mit gewaltiger Wucht. Die Schlussfolgerung war ein Vertrag mit Polen, also: Kollegen beraten sich, es gibt einen Messdatenaustausch, gemeinsame Messprogramme. Die Wasserrechtler arbeiten zusammen. Das hat nun eine neue Qualität und ist nicht mehr so, wie es 1997 war.
Vorsorglich hatten die Brandenburger mit den Tschechen Kontakt aufgenommen; und diesmal gab es, was zumindest die Zusammenarbeit anging, weniger Sorgen, und mit den Daten dort fingen die Brandenburger an zu rechnen, ob sie das Wasser ableiten können.
An der Elbe war der Kontakt zu den tschechischen Kollegen wichtig. Das hat diesmal besser geklappt als mit den Polen damals. Die Informationen von dort waren wichtig, und jeder Ausweichraum ist wichtig. Die Biosphärenreservate Mittlere Elbe und in der Prignitz waren wichtig.
Die Schäden im Freistaat werden auf insgesamt rund 15 Milliarden Euro geschätzt. Der Bund wird davon aus der Verschiebung der zweiten Stufe der Steuerreform um ein Jahr mehr als 7 Milliarden übernehmen. Hinzu kommen später weitere drei Milliarden und dann wird man sehen müssen, wie viel noch gebraucht wird, um vor allem die Infrastruktur – die Nervenbahnen der Wirtschaft – wieder herzustellen. Daneben gibt es natürlich noch diverse – zum Teil – prall gefüllte Spendentöpfe. Doch auch ihre Verteilung ist nicht ganz einfach. Es geht in erster Linie um Gerechtigkeit, doch die ist nicht zu haben. Das macht Martina de Maiziere, der Frau des sächsischen Justizministers am meisten Kopfzerbrechen. Sie ist Mitglied im Vorsitz des mildtätigen Vereins 'Aufwind', der ebenfalls eine ganze Menge Spendengelder gesammelt hat:
...tolles Engagement, aber nicht genug Geld für alle.
Immerhin hat man aus der Oderflut gelernt. Um soziale Verwerfungen und Zerrüttungen in den vom Hochwasser betroffenen Gebieten zu vermeiden, wird nach strengen Richtlinien und nur unter Einbeziehung von ehrenamtlichen Spendenbeiraten das geschenkte Geld vergeben.
Allein auf den Konten des Freistaates Sachsen sind über 35 Millionen Euro eingegangen, die ihrer Verteilung harren. Diese Gelder sollen nun gemäß einer von der Staatsregierung erlassenen Härtefall-Regelung an die bedürftigen Menschen ausgezahlt werden. Ein landesweites Erfassungssystem, unter dem Namen Phoenix soll gewährleisten, dass keiner doppelte Leistungen erhält.
Man kann noch schlechter schlafen als vorher, und jedes Jahr um diese Zeit denkt man immer wieder bei jedem bisschen Wasser, das kommt – hoffentlich kommt es nicht wieder.
Soldaten und Polizisten hatten Anneliese Palasik am 23. Juli 1997 in Brandenburg angeschnauzt. Sie sollte in Aurith, direkt am Oderteich, endlich ihre Sachen packen. Der Deich sei gebrochen.
Das kam ja allmählich ins Haus rein. Wir haben das gar nicht mitgekriegt. Da haben wir noch die PKWs geladen und die Sachen reingetan. Mein Bruder ist noch einen Tag länger geblieben. Am nächsten Tag kam die Polizei und hat gesagt, er ist einer der letzten und soll jetzt seine Sachen packen. Der hat dann das Motorrad genommen, hinten in den Wagen die Sachen rein und die Hühner rein und ist dann noch durch das Trockene gefahren.
Aurith liegt in der Ziltendorfer Niederung, 39 Kilometer von Frankfurt/Oder entfernt. Die Häuser heute wirken wie neu. Damals war Hans-Jürgen Erdmann, nun 47 und Direktor einer Bankfiliale, der Kopf der Bürgerwehr, die Tag und Nacht über den puddingweichen Deich patrouilliert ist. Erdmann ist so lange geblieben, wie es noch ging – während die Ziltendorfer Niederung mit Wasser vollief.
Und der erste Deichbruch hatte die Niederung stark versehrt. Da war auch schon Frankfurt in Mitleidenschaft gezogen worden. Da war der zweite Dammbruch eine Entlastung. Da ist in Frankfurt an der Oder der Wasserpegel um zehn Zentimeter gefallen.
Zwischen dem ersten und dem zweiten Dammbruch waren 24 Stunden vergangen. Ohne jede Habseligkeit, nur die Familienbilder in der Hand, trafen die Erdmanns am 24. Juli in Eisenhüttenstadt ein.
Ein paar Mark hat man schon in der Tasche. Dann geht man mit einem Bombenkoffer, wie man den im Krieg hatte, los in die Koordinierungsstelle. Da wurde gefragt, habt ihr eine Zahnbürste? Daran musste ja auch gedacht werden. Und dann hat man eine Menge Geld in die Hand gedrückt bekommen. 40.000 Mark. Das ist auch eine ungewöhnliche Situation. Hat dann seine Klamotten und eine Menge Geld.
Rund 6.400 Menschen mussten evakuiert werden. Die Erdmanns haben sich erst einmal eine Bleibe gesucht, Bettwäsche gekauft, und sie wussten: jetzt ist alles verloren. Sieben Jahre lang hatten sie an ihrem Haus gebaut. Als es fertig war, war das Wasser gekommen. Matthias Freude, der Präsident des Landesumweltamtes, konnte in Frankfurt nicht aufatmen. Ziltendorf war verloren, die Deiche auf einer Länge von 163 Kilometern butterweich – und nun drohte das Oderbruch in den Fluten zu versinken, eine Senke, die das Hochwasser auf einer Fläche von 65 Quadratkilometern hätte aufnehmen können.
Ich hatte eine Karte vor mir auf dem Schreibtisch. Da sah man viele Dörfer, alte und neue. Die neuen sind 150 Jahre alt. Wäre der Deich gebrochen, dann hätte der Pegel im Oderbruch eine Höhe von 6 Meter 60 erreicht. Sie müssen sich das vorstellen. Das heißt, da guckt gerade einmal der Kirchturm raus.
Die nächste Katastrophe war ausgeblieben, und nach vier Wochen begannen die Arbeiter mit dem Neubau der Deiche.
Normalerweise dauert es in Deutschland zwischen 4, 5 und 10 Jahre von der Planung bis zum ersten Spatenstich. Jetzt haben wir 97 Kilometer saniert. Das erklärt sich dadurch, dass wir Geld hatten und vieles unbürokratisch abläuft, was wir uns nur wünschen können.
Die staatlichen Gelder flossen hier in die Deichsanierung, rund 65 Millionen Mark kamen an Spenden für die Hochwasseropfer an. In Aurith wurden kostenlos Einbauküchen angeliefert, 10.000 Quadratmeter Auslegeboden – oder: an jeder Tür hing nach dem Oderhochwasser ein großer Beutel mit Wasch- und Desinfektionsmitteln. Das war wohl zu viel an Spenden, glaubt Anneliese Palasik.
Das ist hier alles nicht mehr so wie es war. Wären wir bloß nicht mehr zurückgekehrt. Die Nachbarschaft ist kaputt. Unser Nachbar hat uns schon zweimal angezeigt, wir sprechen nicht mehr miteinander, und ich weiß nicht, wie man hier noch alt werden soll.
In Sachsen will man Konsequenzen ziehen aus der Flut, auch und gerade im Baurecht. Dennoch bleibt eines vorsorglich festzuhalten: Im August 2002 war das Wasser auch dort, wo es nie zuvor gewesen war, und wo man es auch nie erwartet hatte. Überall wird saniert soweit das geht. Zugleich wird heftig diskutiert, ob denn nun alles wieder so aufgebaut werden soll, wie es war. Nicht wenige Hausherren erkennen nun mit Schrecken, dass sie eigentlich mitten im Fluss gebaut haben. Doch die nächste Flut kommt bestimmt, also will ein Wiederaufbau wohlüberlegt sein. Sachsen ist durchaus hochwassererfahren, wie ein Blick in die Chronik zeigt. Der Meißener Superintendent der evangelischen Kirche, Andreas Stempel zitiert aus einer Stadt-Chronik.
Es ging damals um die Verlegung der Triebisch. Hochwasser kann gar nicht mehr vorkommen...ja man glaubt das sei heute, aber es war 1897...
Im sächsischen Kabinett ist man einen Schritt weiter. Ein neues Gesetz soll den Hochwasserschutz besser regeln. Genauer: es werden Vorsichtsmaßnahmen erlassen. Darin verankert werden auch neue Gewässerabstandsgrenzen von 5 Metern in einer Ortschaft und 30 Metern außerhalb der Gemeinden und Städte. Damit soll verhindert werden, dass erneut im Überschwemmungsgebiet gebaut wird. Justizminister Thomas de Maiziere:
Das verändert bestehendes Baurecht nicht, aber es verhindert zukünftiges Baurecht.
Diese Einschränkung betrifft vor allem einen Ort wie Weesenstein im Müglitztal. Vor der Flut wohnten hier rund 180 Menschen, derzeit sind es vielleicht noch 50. Strom, Wasser und Gas müssen völlig neu verlegt werden, die Straße gibt es nicht mehr. 10 von 40 Häusern wurden einfach weggeschwemmt, Menschen wurden obdachlos, einige sind endgültig weggezogen. Soll man hier alles wieder so aufbauen, wie es war? Kabinettsmitglied de Maiziere winkt ab und gibt zu bedenken:
In Weesenstein muss man erst mal klären, wo ist das Gewässer? Und nicht alles was rechtlich erlaubt ist, ist auch vernünftig!
Das Dresdner Institut für ökologische Raumplanung plädiert indessen für staatlich geförderte Umsiedlungsprogramme, die die Menschen aus den gefährdeten Zonen in andere Landstriche bringen sollen. Ganz nach dem Vorbild der USA, die solcherlei Maßnahmen schon mehrfach praktiziert haben. Doch in Sachsen will man davon - noch - nichts wissen.
Die Umsiedlung hätte den Mühlbergern im Süden Brandenburgs auch drohen können. Alles ist noch einmal gut gegangen. Doch in der Stunde der Naturkatastrophe hilft es nicht, über die Zukunft nachzudenken. Da muss gehandelt werden, sagt Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm, CDU.
Man muss den Leuten die Wahrheit sagen!
Das ist keine Konsequenz aus dem Oderhochwasser fünf Jahre zuvor. Allerdings hat die Polizei in Brandenburg diesmal auf eine Deeskalationsstrategie gesetzt. Niemand sollte aus seinem Haus gezerrt werden. Die Beamten setzten auf Argumente: wenn die Mühlberger nach dem Deichbruch aus ihrem Haus geholt werden müssten, sollten sie auch die Kosten für den Hubschraubereinsatz bezahlen, der notwendig wäre. Natürlich ließen sich rund 100 Mühlberger nicht einmal davon überzeugen, dass ihre Sturheit ziemlich teuer werden könnte. Am Schluss, als der Deich aufgegeben wurde, haben sie sich doch auf und davon gemacht, die meisten zumindest.
Das ist schon blöd ohne Wasser und ohne Strom. Ich bin dann weggegangen. Am Samstagmorgen bin ich weggegangen, dann in die Weinberge. Man merkt doch, wenn der Druck groß wird, und dann muss man sich auf den Weg machen.
In Brandenburg ist man noch mal davon gekommen. Und wieder müssen Lehren gezogen werden, sagt Matthias Platzek:
Das Wetter ist hektischer geworden. Es gibt größere Regenmengen. Der Fluss braucht mehr Raum.
Der Alltag in den Flutgebieten bleibt schwierig. Noch immer werden die Schäden gezählt – und die Schulden. Beide Größen verändern sich täglich, Tendenz steigend. Das schlägt aufs Gemüt. Zusätzlich macht sich tiefe Erschöpfung breit, nach den langen Wochen des Aufräumens. Mental sind die Menschen in den Hochwassergebieten noch längst nicht über den Berg. Bisher waren Hunderte von Helfern vor Ort, herrschte Aufbruchstimmung. Doch jetzt kommt der Herbst, die Temperaturen sinken, die Tage werden deutlich kürzer und das Licht trübe. Längst nicht jedes flutgeschädigte Haus verfügt bereits wieder über eine Heizung. Überall sind die Gebäude feucht, stehen die Fenster offen. An ein normales Leben ist nicht zu denken, die Seelsorger und Psychologen sind fast pausenlos im Einsatz. Der evangelische Superintendent von Meissen , Andreas Stempel erzählt:
Es treten jetzt Schlaflosigkeit und schlechte Träume auf, die Nerven liegen blank, Stress.
Und doch ist es erstaunlich mit welcher Kraft einige dennoch ans Werk gehen, so etwa dieser junge Gastronom aus Bad Schandau, von dessen Gasthaus im historischen Fachwerkhaus wenig mehr als ein Gerippe steht. Seinen Schaden beziffert er mit rund 250-tausend Euro. Dennoch sagt er:
Ich will weitermachen... wenn das Finanzielle geregelt ist.
Link: Foto: AP