In unserer Serie "Parteiintellektuelle in Deutschland" wollen wir an die geistigen Profile in der Union, der SPD, bei den Liberalen und Grünen erinnern.
Konservative Intelligenz zwischen "Formierter Gesellschaft" und "Neuer sozialer Frage" - Parteiintellektuelle in Deutschland (1/4)
Von Volker Kronenberg
"Politik und Geist ... Was ist das für eine seltsame Verbindung? Wie kann man über zwei Dinge reden, die sich ausschließen?"
Dies stellte Carlo Schmid 1964 fest, ohne dabei ernsthaft seine eigene Partei, die SPD, meinen zu können. Wohl eher war diese Beschreibung der Gegensätzlichkeit, ja gar der Ausschließlichkeit auf das Verhältnis von Intellektuellen zur Union gemünzt. Mit großer Berechtigung – bis heute.
Und dies, obwohl es durchaus Hoffnung aufseiten der CDU gab, spätestens mit dem Übergang von der Honoratioren- zur Programmpartei in den siebziger Jahren, ein distanziertes, oftmals ressentimentgeladenes Verhältnis in das einer interessierten Nähe zu wandeln.
Denn die siebziger Jahre, das waren die Jahre des programmatischen Aufbruchs der CDU, Jahre der intellektuellen Neugierde, des Diskurses gar – eine Zeit, in der die Partei unter ihrem Vorsitzenden Helmut Kohl versuchte, den "Geist", der gemeinhin "links" stand und steht, für sich zu gewinnen.
In einem Beitrag über "Die Intellektuellen und die Nation" sprach der CDU-Vorsitzende 1975 von einer frühen "Entfremdung" von Geist und Partei, die im Grunde gleich mit der Regierungsübernahme Konrad Adenauers 1949 begonnen habe.
Pragmatische Politik, der Zwang zu Kompromissen hier, Hoffnungen auf klare Linien, auf einen "neuen Menschen", gar elysisch-sozialistische Gefilde, wie Kohl es nannte, dort.
Es gab immer Wichtigeres für die politisch Handelnden, zumal für eine staatstragende Partei wie die CDU. Wer aber waren, wer sind jene Ausnahmen von der Regel der Ausschließlichkeit, Denker, die man als konservative "Parteiintellektuelle" bezeichnen könnte?
Persönlichkeiten, die in Anlehnung an Hans Freyer, Arnold Gehlen oder Helmut Schelsky als Vertreter eines modernen bundesrepublikanischen Konservatismus bezeichnet werden können. Die sich nicht, im Wissen um die Vergeblichkeit eines solchen Unterfangens, der technisch-materiellen Modernisierung wie Epigonen des Don Quijote den Windmühlen entgegenstemmten, sondern diese – im Gegenteil – zu fördern und in die sozial und kulturell richtigen Bahnen zu leiten suchten?
Blickt man auf die langen Linien der sechzigjährigen Parteigeschichte zurück, so sind Namen wie Alfred Müller-Armack, Rüdiger Altmann, Kurt Biedenkopf oder Heiner Geißler zu nennen, mithin Persönlichkeiten, deren verbindendes Kennzeichen – nur scheinbar paradox – gerade die eigene Liberalität war.
Rüdiger Altmann hat einmal verallgemeinerungsfähig für seine intellektuellen Weggefährten formuliert:
"Es ist schwierig, sich eines verächtlichen Mitgefühls zu erwehren, wenn man die Amateur-Ideologen des Konservatismus an der Arbeit sieht, wie sie mit archäologischer Passion die Scherben von Töpfen zusammenleimen, in denen niemand mehr politische Mahlzeiten kochen wird."
Nein, um archäologisches Zusammenkleben, um eine geschichtsmächtige Rekonstruktion von Staat und Gesellschaft, von Deutschland in Europa, ging es diesen Denkern der Union nie – viel eher um den realistischen Blick auf das gelingende Heute und Morgen.
Am Anfang einer Begutachtung des Wirkens von intellektuellen Köpfen in der Union muss, nicht nur aufgrund seines Lebensalters, der 1901 in Essen geborene Alfred Müller-Armack stehen. Ihm, dem erfolgreichen Nationalökonomen und passionierten Kultursoziologen auf den Spuren Max Webers, gelang es, die begriffliche Integrations- und Erfolgsformel von der "Sozialen Marktwirtschaft" zu finden und – gemeinsam mit Walter Eucken, Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke – inhaltlich zu prägen.
Keine geringe Leistung, vergegenwärtigt man sich die Spannweite an inhaltlichen Vorstellungen zwischen dem "Ahlener Programm" und den "Düsseldorfer Leitsätzen", also zwischen einem christlich-sozialistischen und einem bürgerlich-wirtschaftsliberalen Flügel innerhalb der CDU, die die Partei noch bis Anfang der 50er-Jahre prägte.
Dass diese Spanne sich keineswegs zu unüberbrückbaren innerparteilichen Gegensätzen auswachsen, sondern vielmehr in einem neuartigen Ordnungsmodell von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Entfaltungsraum finden konnte, dieser Erfolg verbindet sich in den 50er-Jahren auf das Engste mit dem Namen Müller-Armack.
Sein in der Tradition der "Freiburger Schule" stehendes Konzept einer "Sozialen Marktwirtschaft" nimmt Kurs auf einen ordnungspolitischen Mittelweg zwischen Kollektivismus und Kapitalismus, in dem es die Freiheit des Marktes mit einer aktiven staatlichen Wirtschaftspolitik verband.
Dieser "dritte Weg" jenseits eines Laissez-faire-Liberalismus auf der einen und eines kollektivistischen Sozialismus auf der anderen Seite, wurde von dem langjährigen Mitarbeiter Ludwig Erhards nicht nur wirtschafts-, sondern wesentlich auch gesellschaftspolitisch begründet. Schließlich bestand die Grundidee der von ihm stets mit großem "S" apostrophierten "Sozialen Marktwirtschaft" darin, "das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden".
Letzteres, die Schaffung und Garantie des sozialen Ausgleichs, sollte nach Ansicht des 1950 zum Ordinarius für wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität zu Köln und zwei Jahre später zum Leiter der Grundsatzabteilung des Wirtschaftsministeriums berufenen Müller-Armack Aufgabe des Staates sein, der seinerseits, wie auch der Markt, "von einem festen Rahmenwerk gesellschaftlich-politisch-moralischer Art gehalten und geschützt werden" müsse.
Wilhelm Röpke, Müller-Armacks geistiger Wegbegleiter, bemerkte dazu ganz im Sinne der – recht verstandenen – neoliberalen Verwiesenheit von Markt, Gesellschaft und Staat, dass Marktwirtschaft eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung einer freien, glücklichen, wohlhabenden, gerechten und geordneten Gesellschaft sei:
"Das schließliche Schicksal der Marktwirtschaft mit ihrem bewunderungswürdigen und völlig unersetzlichen Mechanismus von Angebot und Nachfrage entscheidet sich – jenseits von Angebot und Nachfrage."
Im Sinne Röpkes damit auch jenseits jedweder kollektivistischer Planungsverheißungen oder staatlicher Regularien, denn dieses Schicksal ist abhängig von moralischen und kulturellen Grundlagen eines Gemeinwesens, die der Staat selbst nicht hervorbringen kann, viel eher fördern und schützen muss. Die civitas humana erweist sich damit zugleich als Fundament und Telos einer Ordnung in Freiheit.
Es waren derartige Gedanken – weit über Fragen einer Wirtschaftsordnung im strikt ökonomischen Sinne hinaus –, die Ludwig Erhard nach eigenem Bekunden während des Kriegs in sich aufsog, als handele es sich um "die Wüste befruchtendes Wasser". Gedanken, die wiederum Rüdiger Altmann in Geistesverwandtschaft zu Müller-Armack und unerschütterlicher Hochachtung für Ludwig Erhard formulierte und zu einem Konzept der "formierten Gesellschaft" fortzuentwickeln suchte.
Altmann, 1922 in Frankfurt am Main geboren, Schüler des rechten Carl Schmitt und Assistent des linken Wolfgang Abendroth, war langjähriger Geschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelstages und zeitweiliger Leiter der CDU-nahen Politischen Akademie in Schloss Eichholz bei Bonn. Er war intellektueller Kopf im engsten Umfeld Ludwig Erhards und hielt – bei allem Engagement für ihn und für seine Partei – doch stets auffällig Abstand zur Tagespolitik.
Der Kulturjournalist Konrad Adam charakterisierte ihn einmal trefflich:
"Er hatte wenig Lust, mit der Zeit zu gehen, sich also darüber Gedanken zu machen, wie lange die Amtszeit eines Kanzlers währen könnte, der an der Spitze bleiben möchte, aber vielleicht nicht darf, weil ein anderer, der sein Nachfolger werden soll, aber vielleicht nicht will, sich dazu entschließen könnte, doch noch anzutreten. Zu so etwas wird man bei Altmann nicht viel finden."
Jenseits des tagespolitischen, zumal innerparteilichen Klein-Kleins stand Altmann zeit seines Lebens treu zu jenem überaus erfolgreichen Vater des Wirtschaftswunders und schwachen Kurzzeit-Kanzlers der Bonner Republik.
Selbst Jahrzehnte nach dessen wenig ruhmvollem Ende als Kanzler wollte Altmann Erhard allenfalls einen Mangel an "machtpolitischer Expressivität" attestieren – keine grundsätzliche Kritik am zweiten CDU-Kanzler kam ihm über die Lippen, im Unterschied zu dessen Vorgänger und, vor allem, zu Erhards Nachfolger als letztem Unions-Kanzler der Bonner Republik, Helmut Kohl.
Wie das? Altmann attestierte dem an Parteipolitik auffallend desinteressierten Erhard im Unterschied zu den beiden Unions-Kanzlern einen klaren ordnungspolitischen Kompass, einen realistischen Blick auf Staat und Gesellschaft, nicht zuletzt auch auf die europäische Integrationspolitik.
Und wie sah diese Realität im Laufe der sechziger Jahre aus? Altmann sah die Bundesrepublik dank des eindrucksvollen Wirtschaftswachstums der 50er-Jahre nicht länger durch klassische Sozialkonflikte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gefährdet, sondern weit eher durch ein – wie er es nannte – "funktionsloses Wuchern der organisierten Interessen".
Damit drohe der Staat zu einem "kastrierten Kater" zu werden, der zwar an Umfang zunehme, dem es jedoch immer mehr an Potenz fehle. Regierung und Parlament, im "Kampf der Gruppen", der organisierten Verbandsinteressen verstrickt, erwiesen sich zunehmend als machtlos.
Die Stabilität der Bundesrepublik am Ausgang der Ära Adenauer resultiere aus einer Immobilität der inneren Politik, der Ersetzung des Mehrheits- durch das Konsensprinzip, der anscheinend unaufhaltsamen Verbreitung des Wohlfahrtsstaates und der damit zusammenhängenden Verschlingung von Staat und Gesellschaft.
Nur zu gut waren Altmann Adenauers ordnungspolitische Sündenfälle, zumal die Rentenreform von 1957 und anderes mehr, in Erinnerung. Schuld an dieser Entwicklung, an einem überentwickelten Pluralismus, welcher an der Rationalität des Verteilerstaates zehre, seien weniger die von Partikularinteressen geleiteten Verbände als vielmehr die Furcht vieler Politiker vor der Macht der Verbände, die Furcht, diese könnten die Wähler mehr beeinflussen als die Parteien selbst. Altmann notierte 1965:
"So endete die Strategie des Gleichgewichts mit dem Sieg des Opportunismus."
Diesen Entwicklungen und damit verbundenen Gefahren für Ordnung und Freiheit der Bürger setzte Altmann das Konzept der "formierten Gesellschaft" entgegen – darin enthalten die konkrete Aufforderung an Politik, Wirtschaft und Verbände, zur Rationalität einer freiheitlichen Ordnungspolitik und damit zu einem Gemeinwohlbewusstsein, ja einer Gemeinwohlpflicht aller handelnden Akteure zurückzufinden.
Keineswegs durch Zurückdrängung oder gar Überwindung des Pluralismus, wie Altmann nicht müde wurde zu betonen – im Gegenteil: durch dessen Beitrag zu einer Integration aller Gruppen, Verbände und anderweitig organisierten Interessen in einen starken, will heißen, handlungsfähigen Staat. Einen Staat, der nicht dem Konsens-, vielmehr dem Autoritätsgedanken des Rechts und parlamentarisch-demokratischen Prinzipien verpflichtet sei.
War die "formierte Gesellschaft" mithin ein Gegenentwurf zur fragmentierten Gesellschaft?
Es war für Altmann als Urheber kaum verwunderlich, dass linke Kritiker dieses Konzepts sogleich die Gefahr einer deformierten oder uniformierten Gesellschaft beschworen – Rudi Dutschke an vorderster Front –, und bei Ludwig Erhards Erläuterungen der "formierten Gesellschaft" "totalitäres Gras wachsen" hörten und in dem Konzept ein "faschistisches Programm zur Aufhebung der Demokratie in Deutschland" erkennen wollten.
Dabei war Altmann alles andere als ein rechter Denker im klassischen Sinne. So widersprach er einmal dem gängigen Dekadenzvorwurf aus der kulturkonservativen Ecke:
"Wenn wir sehen, dass heute Technik und Wirtschaft Ungeheures leisten kann, dass die Gesellschaft in der Straffheit organisiert ist wie niemals zuvor, dass wir heute alle eine kleinbürgerliche Moral haben, die das Ganze 18. Jahrhundert niemals hatte. Wir sind ja viel moralischer als die Leute im 18. Jahrhundert, nicht wahr, ganz kleinkariert. Da soll man doch nicht dauernd reden, nicht wahr, wenn in irgendeiner Zeitschrift ein Nacktmädchen erscheint, das wäre also Dekadenz. Kein Wort davon ist wahr. Dekadenz ist eben eine Art von Zerfall und Zerfall macht ja auch in der Chemie unter Umständen große Kräfte frei."
Was Altmann weit weniger vorausahnte, war die reservierte Reaktion innerhalb seiner eigenen Partei: Den einen erschien die ganze Argumentation zu ordoliberal, zu ökonomistisch, den anderen die Pluralismuskritik an den Gruppenegoismen zu konservativ. Wieder andere vermissten das christliche Weltbild – welches durchaus für den Urheber das ganz selbstverständliche ethische Fundament bildete.
Adenauer, Noch-Parteivorsitzender der CDU, ohnehin skeptisch gegenüber allem, was Erhard tat, war vorab von diesem nicht eingebunden worden und befürchtete mit der "formierten Gesellschaft" eine grundlegende Änderung der bisherigen Politik – drohte intern sogar mit seinem Rücktritt vom Vorsitz.
Die "formierte Gesellschaft", verbunden mit der Idee der Gründung eines "deutschen Gemeinschaftswerks", das fortan bislang vernachlässigte Kollektivaufgaben wie Städtebau und Bildung in Angriff nehmen und dafür einen Teil der Steueraufkommen von Bund und Ländern erhalten sollte, hatte von Anfang an keine Chance.
Noch bevor eine ernsthafte Debatte über Zustand und Zukunft des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, von drängenden Herausforderungen und überzeugenden programmatischen Antworten innerhalb der CDU überhaupt beginnen konnte, war sie bereits wieder beendet.
Noch einmal hatten sich fast trotzig jene innerhalb der CDU durchgesetzt, die meinten, als Regierungspartei ein "Godesberg" wie die SPD nicht nötig zu haben. Hinterher mussten die innerparteilichen Kritiker stillschweigend konzedieren, dass manches von dem, was im Konzept der "formierten Gesellschaft" angedacht war, von Karl Schiller im großkoalitionären "Stabilitätsgesetz" mit sozialdemokratischer Handschrift umgesetzt worden war.
Mit dem Ziel, jenen Auswüchsen der Gefälligkeitsdemokratie Einhalt zu gebieten, die den gern bespöttelten "Maßhaltekanzler" zu der häufiger nur kolportierten denn ernsthaft reflektierten Warnung veranlasst hatten:
"Man darf nicht so tun, als ob der Staat sozusagen die Kuh wäre, die im Himmel grast und auf Erden gemolken wird."
Doch statt Maßhalten standen die Zeichen der Zeit auf "Sozialexpansion", zumal unter rot-gelben Vorzeichen der Regierung Brandt/Scheel, die 1972 mit einem für die Union ernüchternden Wahlergebnis im Amt bestätigt wurde.
Wenn auch eher aus deutschland- denn aus sozialpolitischen Gründen, so brachte der Triumph Brandts und die Demütigung Barzels die Union dazu, mit dem Aufwerfen der "Neuen Sozialen Frage" einen gesellschaftspolitischen Modernisierungskurs einzuschlagen. Altmann und Erhard waren gestern, Müller-Armack schien ins Vorgestern entrückt – nun brach die Partei zu neuen Ufern auf.
Neben Kohl war da vor allem der intellektuelle Hoffnungsträger der CDU, Kurt Biedenkopf.
Biedenkopf, ebenso wie Helmut Kohl 1930 in Ludwigshafen geboren, mit 34 Jahren Ordinarius für Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht an der Ruhr-Universität Bochum, eben dort mit 37 Jahren der jüngste Universitätsrektor der Bundesrepublik, war ein politischer Senkrechtstarter.
Einer, der nicht in die Politik ging, um etwas zu werden, sondern schon etwas war, bevor er Politiker wurde. Ein feiner, großer Unterschied, der Biedenkopf stets bewusst war und den er andere in seiner Partei nicht selten spüren ließ. Einer, dessen intellektuelle Brillanz Franz Josef Strauss so beeindruckte, dass er mit Blick auf Biedenkopfs Körpergröße meinte, sticheln zu müssen,
"dem Bürscherl" hätte man "rechtzeitig Kunstdünger in die Schuhe schütten müssen".
"Biko", wie er in guten Zeiten genannt wurde, ein unabhängiger Weggefährte, in dem die eigene Partei eine authentische Verkörperung von einfühlendem Herz und wegweisendem Verstand zu erblicken glaubte. Zumindest von 1973, dem Jahr der Übernahme des Amtes des Generalsekretärs der CDU, bis 1977, als Biedenkopf resigniert den Stab an Heiner Geißler, seinen zunächst kongenialen programmatischen Widerpart, weitergab.
Die "Neue Soziale Frage" – sie trieb beide um: Biedenkopf wie Geißler, beide Dickschädel, beide Quer-, Vor- und Schnelldenker, wie sie teils anerkennend, teils ehrfürchtig, teils indigniert-distanziert genannt wurden. Bis heute.
Mit ihrem Bemühen, den gesellschaftlichen Randgruppen ohne Lobby mehr Geltung gegenüber dem Korporatismus der Großgruppen zu verschaffen, griffen die Partei-Strategen unter Führung Biedenkopfs nicht nur Helmut Schelskys Kritik an der "Betreuten Gesellschaft" auf, sondern rehabilitierten damit, wenn auch unausgesprochen, Altmanns Bemühen um eine gesellschaftspolitische Neuakzentuierung der Sozialen Marktwirtschaft, von der schon Müller-Armack 1950 gesagt hatte:
"Sie ist gemäß ihrer Konzeption kein fertiges System, kein Rezept, das, einmal gegeben, für alle Zeiten im gleichen Sinne angewendet werden kann."
Vielmehr, so Müller-Armacks Vermächtnis, sei es eine evolutive Ordnung, in der es neben festen Grundprinzipien immer wieder nötig sei, Akzente zu setzen gemäß den Anforderungen einer sich wandelnden Zeit. Nun also der Akzent auf das Soziale – mit programmatischem Anspruch formuliert auf dem Mannheimer Parteitag von 1975.
Ohne Frage auch deshalb, weil man mit der SPD darum konkurrieren musste, welche Partei bessere Antworten auf die Frage nach sozialer Gerechtigkeit habe. Biedenkopf räumte unumwunden großen Nachholbedarf seiner Partei auf diesem zentralen Politikfeld ein:
"Wir müssen nun mal davon ausgehen, dass 50 Prozent der Bevölkerung in diesem Bereich die SPD und nur gut 20 Prozent die CDU für kompetenter halten. Die CDU muss ihre Kompetenz, den Grundsatz der Sozialpflichtigkeit der Marktwirtschaft verwirklichen zu können, nachweisen – nicht durch Behauptungen, sondern dadurch, dass sie eine entsprechende Politik formuliert."
Es verwundert daher kaum, dass plötzlich selbst das linkslastige Ahlener Programm von Biedenkopf noch einmal zur "wesentlichen Grundlage der CDU-Politik" erklärt wurde – auch wenn die konkrete Stoßrichtung der "Neuen Sozialen Frage" eher in eine andere Richtung zielen sollte: nämlich auf die Entschlackung und Konzentrierung seiner Aufgaben. Müller-Armack ließ grüßen.
Und Biedenkopf keinen Zweifel daran, dass es keineswegs um eine grundsätzliche Erhöhung der sozialen Aufwendungen des Staates gehen könne, sondern viel eher darum, diese gezielter einzusetzen.
"Die SPD hat ja selbst gesagt, für sie sei der Staat gewissermaßen das Vollzugsprogramm für die organisierten Gruppen. Oder das Instrument zur Durchsetzung der Interessen der organisierten Mehrheit. Das ist eben nicht unser Staatsbegriff. Für uns hat der Staat den Auftrag, die Verteilung dessen, was wir alle gemeinsam erarbeiten, nicht danach zu steuern, wie laut organisierte Gruppen schreien und welche Ansprüche sie an die Verteilung stellen, sondern nach den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit. Darauf kommt es an. Überhaupt erst mal klarzumachen, dass jeder, der Macht hat in diesem Land, gesellschaftliche Macht, gleichzeitig auch die Verpflichtung hat, diese Macht zum Wohl der Allgemeinheit einzusetzen."
Tatsächlich befand sich der ordnungspolitisch gestrenge Parteigeneral Biedenkopf mit einer solchen Interpretation der "Neuen Sozialen Frage" im Konflikt mit der sozialpolitischen Strömung um den ehrgeizigen Sozialminister aus Rheinland-Pfalz, dem es seinerseits weniger um ordnungspolitische Strukturanalysen der Gesellschaft als um konkrete Hilfsprogramme für Schwache und Bedürftige ging.
Der von Kohl schon früh als "Herz-Jesu-Marxist" bespöttelte Geißler machte nie einen Hehl aus dem, was er warum für seine Partei wollte.
Es war ein anderer Kurs, ein anderes Profil, als Biedenkopf, dies wollte.
Der FAZ-Journalist Georg Paul Hefty konstatierte einmal:
"Könnten Feuer und Wasser eineiige Zwillinge sein, dann hießen sie Biedenkopf und Geißler",
Konnte der schwelende Konflikt zwischen beiden 1975 noch halbwegs kaschiert werden, so brach er zwei Jahre später im Zuge der Erarbeitung des ersten Grundsatzprogramms der CDU unter Federführung Richard von Weizsäckers vollends auf.
Die Wahl Geißlers zum Partei-General, die kurze Zeit später erfolgte, symbolisierte zwar, dass die sozialpolitischen Kräfte diesen Konflikt schlussendlich für sich entscheiden konnten, kaschierte zugleich aber doch auch, dass aus dieser programmatischen Offensive in der politischen Praxis nichts folgte, ja nichts folgen konnte.
Denn einerseits war eine Regierungsperspektive für die Union weder 1976 mit Helmut Kohl als Kanzlerkandidat noch 1980 mit Franz Josef Strauß in Sicht – und dies trotz Stimmenvorsprungs vor der SPD.
Andererseits verlor die Partei stets in dem Augenblick ihr Interesse an programmatischen Aufbrüchen und den mit ihnen verbundenen Intellektuellen, in denen sie die Macht errungen und damit zu verteidigen hatte.
Dann dominierte – wie Norbert Seitz es einmal formuliert hat – "unprogrammatische Siegermentalität gepaart mit strategischer Coolness." Und es stimmt ja auch: Altmann wie Biedenkopf, 1989 auch Geißler, sie alle erlebten und empfanden eine wachsende Distanz in und zu einer Partei, die in den achtziger und neunziger Jahren immer stärker auf eine Person zusammenschnurrte, die schlussendlich sich selbst Programm genug war: Helmut Kohl.
Dabei war es wesentlich dessen Verdienst gewesen, dass sich die CDU 1978 in Ludwigshafen ihr erstes Grundsatzprogramm gegeben und damit den Versuch unternommen hatte, die verloren gegangene geistige Führung im Land zurückzuerobern.
Dabei war es Kohl gewesen, der mit Regierungsübernahme 1982/83 den oft zitierten und doch nie eingelösten Anspruch einer "geistig-moralischen Wende" formuliert hatte – einer Wende, die paradoxerweise viele Jahre später unter Rot-Grün gerade von jenen herbeigeführt wurde, die Kohls Ankündigung seinerzeit auf das heftigste bekämpften und ihm neokonservative Umtriebe unterstellten.
Die "Ära Kohl" sollte schließlich mit anderen Akzenten in Verbindung gebracht werden, jedoch nicht mit klaren ordnungspolitischen Linien, für die Biedenkopf, zuvor Altmann und Erhard in Anknüpfung an Müller-Armack gekämpft hatten.
Im September 1989, als die Mauer der innerdeutschen Grenze noch stand, wurde Geißler auf dem Bremer Parteitag mit dem gescheiterten "Putsch-Versuch" gegen Kohl in Verbindung gebracht, Biedenkopf stand bereits im Abseits und Rüdiger Altmann brach seinerseits den Stab über den Adenauer-Enkel und künftigen Langzeitkanzler.
"Die Null vor dem Komma" lautete die publizistische Abrechnung Altmanns mit Kohl – Ausdruck größten Missvergnügens an der aus seiner Sicht eklatanten Konzeptionslosigkeit und intellektuellen Dürftigkeit des pfälzischen Riesen, über den er 1998 die kühne These verbreitete, "eine Ära Kohl" habe es gar nicht gegeben.
Woher diese Frustration, diese wachsende Fremdheit innerhalb der eigenen Partei, mit der auch Biedenkopf und Geißler konfrontiert waren – und die selbst dann noch fortdauerte, als Biedenkopf 1990 ganz überraschend sein Comeback als "König Kurt von Sachsen" feiern und Heiner Geißler jüngst als Schlichter zum Bürgerheld von Stuttgart avancieren konnte?
Diese Fremdheit resultierte – im Grunde zwangsläufig – aus der latenten und allzu oft manifesten Distanz zwischen der eigenen intellektuellen Unabhängigkeit, die sich zuweilen zur Unbedingtheit steigern konnte, einerseits und einer, wie es der Publizist Alexander Gauland formuliert hat, auf einen "verschwommenen middle-of-the-road-Konservatismus" ausgerichteten Partei andererseits.
Doch Biedenkopf wie Geißler, vor ihnen bereits Altmann, erkannten früh, dass eine "middle-of-the-road”-Strategie ihrer Partei spätestens dann problematisch wird, wenn unklar ist, wo die Mitte liegt, wer und was sie füllt und welches Maß dabei zugrunde gelegt wird. Der Abstand zu dem, was Wilhelm Röpke 1950 in seinem ordoliberalen Manifest "Maß und Mitte" an Wegweisungen und Anforderungen formuliert hat, könnte wiederum kaum größer sein.
Von Adenauer bis Merkel gern zitiert, gerieten "Maß und Mitte" über die vergangenen Jahrzehnte hinweg immer mehr zum rhetorischen Versatzstück, zur Phrase statt zum analytischen Kompass programmatischer Wegweisungen.
Die Konsequenz: Man regiert pragmatisch und vermeidet jede offensive programmatische Selbstvergewisserung über Begriffe und Inhalte, wie sie sich mit "Neuer Sozialer Marktwirtschaft", mit "Generationengerechtigkeit, mit Integration, "Leitkultur", mit Europa oder, grundsätzlicher noch, dem "C" im Parteinamen verbinden.
Wo aber sind die Biedenkopfs, Geißlers, verwegener noch: die Müller-Armacks oder Altmanns der Ära Merkel? Es gibt sie nicht.
Und wie steht es um die Originale?
Erstere, Biedenkopf, der publizistisch umtriebige elder statesman und Geißler, das schillernde Attac-Mitglied mit Drang zum Drachentöten, sind inzwischen ikonografisch in ungefährliche, denn unerreichbare Höhen entrückt worden.
Letztere beiden, Müller-Armack und Altmann, dessen Nachlass seit Jahren bezeichnender Weise im Archiv der Friedrich-Ebert-, und nicht dem der Konrad-Adenauer-Stiftung, schlummert, sind inzwischen nahezu vergessen. Und was man nicht mehr kennt, vermisst man nicht.
Aber verdiente nicht gerade Altmann mehr als nur eine Reminiszenz an seinen damals gescheiterten Versuch, die Gemeinwohlpflichtigkeit aller gesellschaftlichen und staatlichen Akteure, voran der Parteien und Verbände, im Geiste einer ordnungspolitisch reformierten Gesellschaft in den Vordergrund zu rücken.
Altmann reformulierend müsste die Frage heute lauten: Ob und wie es den Parteien – vor allem auch der Union – noch gelingen kann, trotz der engen Verflochtenheit mit einzelnen und teils widersprechenden Gruppeninteressen die Entwicklung des Ganzen – der res publica – zugunsten einer erneuerten "Kultur der Freiheit" zu steuern.
Der ordnungspolitische Kompass läge bereit, die auffallend zeitlosen Fragen nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft, von Parteien, Interessengruppen und Gemeinwohl, von Nation und vor allem Europa im Zeichen der Globalisierung sind lange schon formuliert.
Antworten auch. Formuliert von jenen Ausnahmen, die Carlo Schmids Regel vom schwierigen Verhältnis von Geist und Politik, bestätigen.
"Politik und Geist ... Was ist das für eine seltsame Verbindung? Wie kann man über zwei Dinge reden, die sich ausschließen?"
Dies stellte Carlo Schmid 1964 fest, ohne dabei ernsthaft seine eigene Partei, die SPD, meinen zu können. Wohl eher war diese Beschreibung der Gegensätzlichkeit, ja gar der Ausschließlichkeit auf das Verhältnis von Intellektuellen zur Union gemünzt. Mit großer Berechtigung – bis heute.
Und dies, obwohl es durchaus Hoffnung aufseiten der CDU gab, spätestens mit dem Übergang von der Honoratioren- zur Programmpartei in den siebziger Jahren, ein distanziertes, oftmals ressentimentgeladenes Verhältnis in das einer interessierten Nähe zu wandeln.
Denn die siebziger Jahre, das waren die Jahre des programmatischen Aufbruchs der CDU, Jahre der intellektuellen Neugierde, des Diskurses gar – eine Zeit, in der die Partei unter ihrem Vorsitzenden Helmut Kohl versuchte, den "Geist", der gemeinhin "links" stand und steht, für sich zu gewinnen.
In einem Beitrag über "Die Intellektuellen und die Nation" sprach der CDU-Vorsitzende 1975 von einer frühen "Entfremdung" von Geist und Partei, die im Grunde gleich mit der Regierungsübernahme Konrad Adenauers 1949 begonnen habe.
Pragmatische Politik, der Zwang zu Kompromissen hier, Hoffnungen auf klare Linien, auf einen "neuen Menschen", gar elysisch-sozialistische Gefilde, wie Kohl es nannte, dort.
Es gab immer Wichtigeres für die politisch Handelnden, zumal für eine staatstragende Partei wie die CDU. Wer aber waren, wer sind jene Ausnahmen von der Regel der Ausschließlichkeit, Denker, die man als konservative "Parteiintellektuelle" bezeichnen könnte?
Persönlichkeiten, die in Anlehnung an Hans Freyer, Arnold Gehlen oder Helmut Schelsky als Vertreter eines modernen bundesrepublikanischen Konservatismus bezeichnet werden können. Die sich nicht, im Wissen um die Vergeblichkeit eines solchen Unterfangens, der technisch-materiellen Modernisierung wie Epigonen des Don Quijote den Windmühlen entgegenstemmten, sondern diese – im Gegenteil – zu fördern und in die sozial und kulturell richtigen Bahnen zu leiten suchten?
Blickt man auf die langen Linien der sechzigjährigen Parteigeschichte zurück, so sind Namen wie Alfred Müller-Armack, Rüdiger Altmann, Kurt Biedenkopf oder Heiner Geißler zu nennen, mithin Persönlichkeiten, deren verbindendes Kennzeichen – nur scheinbar paradox – gerade die eigene Liberalität war.
Rüdiger Altmann hat einmal verallgemeinerungsfähig für seine intellektuellen Weggefährten formuliert:
"Es ist schwierig, sich eines verächtlichen Mitgefühls zu erwehren, wenn man die Amateur-Ideologen des Konservatismus an der Arbeit sieht, wie sie mit archäologischer Passion die Scherben von Töpfen zusammenleimen, in denen niemand mehr politische Mahlzeiten kochen wird."
Nein, um archäologisches Zusammenkleben, um eine geschichtsmächtige Rekonstruktion von Staat und Gesellschaft, von Deutschland in Europa, ging es diesen Denkern der Union nie – viel eher um den realistischen Blick auf das gelingende Heute und Morgen.
Am Anfang einer Begutachtung des Wirkens von intellektuellen Köpfen in der Union muss, nicht nur aufgrund seines Lebensalters, der 1901 in Essen geborene Alfred Müller-Armack stehen. Ihm, dem erfolgreichen Nationalökonomen und passionierten Kultursoziologen auf den Spuren Max Webers, gelang es, die begriffliche Integrations- und Erfolgsformel von der "Sozialen Marktwirtschaft" zu finden und – gemeinsam mit Walter Eucken, Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke – inhaltlich zu prägen.
Keine geringe Leistung, vergegenwärtigt man sich die Spannweite an inhaltlichen Vorstellungen zwischen dem "Ahlener Programm" und den "Düsseldorfer Leitsätzen", also zwischen einem christlich-sozialistischen und einem bürgerlich-wirtschaftsliberalen Flügel innerhalb der CDU, die die Partei noch bis Anfang der 50er-Jahre prägte.
Dass diese Spanne sich keineswegs zu unüberbrückbaren innerparteilichen Gegensätzen auswachsen, sondern vielmehr in einem neuartigen Ordnungsmodell von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Entfaltungsraum finden konnte, dieser Erfolg verbindet sich in den 50er-Jahren auf das Engste mit dem Namen Müller-Armack.
Sein in der Tradition der "Freiburger Schule" stehendes Konzept einer "Sozialen Marktwirtschaft" nimmt Kurs auf einen ordnungspolitischen Mittelweg zwischen Kollektivismus und Kapitalismus, in dem es die Freiheit des Marktes mit einer aktiven staatlichen Wirtschaftspolitik verband.
Dieser "dritte Weg" jenseits eines Laissez-faire-Liberalismus auf der einen und eines kollektivistischen Sozialismus auf der anderen Seite, wurde von dem langjährigen Mitarbeiter Ludwig Erhards nicht nur wirtschafts-, sondern wesentlich auch gesellschaftspolitisch begründet. Schließlich bestand die Grundidee der von ihm stets mit großem "S" apostrophierten "Sozialen Marktwirtschaft" darin, "das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden".
Letzteres, die Schaffung und Garantie des sozialen Ausgleichs, sollte nach Ansicht des 1950 zum Ordinarius für wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität zu Köln und zwei Jahre später zum Leiter der Grundsatzabteilung des Wirtschaftsministeriums berufenen Müller-Armack Aufgabe des Staates sein, der seinerseits, wie auch der Markt, "von einem festen Rahmenwerk gesellschaftlich-politisch-moralischer Art gehalten und geschützt werden" müsse.
Wilhelm Röpke, Müller-Armacks geistiger Wegbegleiter, bemerkte dazu ganz im Sinne der – recht verstandenen – neoliberalen Verwiesenheit von Markt, Gesellschaft und Staat, dass Marktwirtschaft eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung einer freien, glücklichen, wohlhabenden, gerechten und geordneten Gesellschaft sei:
"Das schließliche Schicksal der Marktwirtschaft mit ihrem bewunderungswürdigen und völlig unersetzlichen Mechanismus von Angebot und Nachfrage entscheidet sich – jenseits von Angebot und Nachfrage."
Im Sinne Röpkes damit auch jenseits jedweder kollektivistischer Planungsverheißungen oder staatlicher Regularien, denn dieses Schicksal ist abhängig von moralischen und kulturellen Grundlagen eines Gemeinwesens, die der Staat selbst nicht hervorbringen kann, viel eher fördern und schützen muss. Die civitas humana erweist sich damit zugleich als Fundament und Telos einer Ordnung in Freiheit.
Es waren derartige Gedanken – weit über Fragen einer Wirtschaftsordnung im strikt ökonomischen Sinne hinaus –, die Ludwig Erhard nach eigenem Bekunden während des Kriegs in sich aufsog, als handele es sich um "die Wüste befruchtendes Wasser". Gedanken, die wiederum Rüdiger Altmann in Geistesverwandtschaft zu Müller-Armack und unerschütterlicher Hochachtung für Ludwig Erhard formulierte und zu einem Konzept der "formierten Gesellschaft" fortzuentwickeln suchte.
Altmann, 1922 in Frankfurt am Main geboren, Schüler des rechten Carl Schmitt und Assistent des linken Wolfgang Abendroth, war langjähriger Geschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelstages und zeitweiliger Leiter der CDU-nahen Politischen Akademie in Schloss Eichholz bei Bonn. Er war intellektueller Kopf im engsten Umfeld Ludwig Erhards und hielt – bei allem Engagement für ihn und für seine Partei – doch stets auffällig Abstand zur Tagespolitik.
Der Kulturjournalist Konrad Adam charakterisierte ihn einmal trefflich:
"Er hatte wenig Lust, mit der Zeit zu gehen, sich also darüber Gedanken zu machen, wie lange die Amtszeit eines Kanzlers währen könnte, der an der Spitze bleiben möchte, aber vielleicht nicht darf, weil ein anderer, der sein Nachfolger werden soll, aber vielleicht nicht will, sich dazu entschließen könnte, doch noch anzutreten. Zu so etwas wird man bei Altmann nicht viel finden."
Jenseits des tagespolitischen, zumal innerparteilichen Klein-Kleins stand Altmann zeit seines Lebens treu zu jenem überaus erfolgreichen Vater des Wirtschaftswunders und schwachen Kurzzeit-Kanzlers der Bonner Republik.
Selbst Jahrzehnte nach dessen wenig ruhmvollem Ende als Kanzler wollte Altmann Erhard allenfalls einen Mangel an "machtpolitischer Expressivität" attestieren – keine grundsätzliche Kritik am zweiten CDU-Kanzler kam ihm über die Lippen, im Unterschied zu dessen Vorgänger und, vor allem, zu Erhards Nachfolger als letztem Unions-Kanzler der Bonner Republik, Helmut Kohl.
Wie das? Altmann attestierte dem an Parteipolitik auffallend desinteressierten Erhard im Unterschied zu den beiden Unions-Kanzlern einen klaren ordnungspolitischen Kompass, einen realistischen Blick auf Staat und Gesellschaft, nicht zuletzt auch auf die europäische Integrationspolitik.
Und wie sah diese Realität im Laufe der sechziger Jahre aus? Altmann sah die Bundesrepublik dank des eindrucksvollen Wirtschaftswachstums der 50er-Jahre nicht länger durch klassische Sozialkonflikte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gefährdet, sondern weit eher durch ein – wie er es nannte – "funktionsloses Wuchern der organisierten Interessen".
Damit drohe der Staat zu einem "kastrierten Kater" zu werden, der zwar an Umfang zunehme, dem es jedoch immer mehr an Potenz fehle. Regierung und Parlament, im "Kampf der Gruppen", der organisierten Verbandsinteressen verstrickt, erwiesen sich zunehmend als machtlos.
Die Stabilität der Bundesrepublik am Ausgang der Ära Adenauer resultiere aus einer Immobilität der inneren Politik, der Ersetzung des Mehrheits- durch das Konsensprinzip, der anscheinend unaufhaltsamen Verbreitung des Wohlfahrtsstaates und der damit zusammenhängenden Verschlingung von Staat und Gesellschaft.
Nur zu gut waren Altmann Adenauers ordnungspolitische Sündenfälle, zumal die Rentenreform von 1957 und anderes mehr, in Erinnerung. Schuld an dieser Entwicklung, an einem überentwickelten Pluralismus, welcher an der Rationalität des Verteilerstaates zehre, seien weniger die von Partikularinteressen geleiteten Verbände als vielmehr die Furcht vieler Politiker vor der Macht der Verbände, die Furcht, diese könnten die Wähler mehr beeinflussen als die Parteien selbst. Altmann notierte 1965:
"So endete die Strategie des Gleichgewichts mit dem Sieg des Opportunismus."
Diesen Entwicklungen und damit verbundenen Gefahren für Ordnung und Freiheit der Bürger setzte Altmann das Konzept der "formierten Gesellschaft" entgegen – darin enthalten die konkrete Aufforderung an Politik, Wirtschaft und Verbände, zur Rationalität einer freiheitlichen Ordnungspolitik und damit zu einem Gemeinwohlbewusstsein, ja einer Gemeinwohlpflicht aller handelnden Akteure zurückzufinden.
Keineswegs durch Zurückdrängung oder gar Überwindung des Pluralismus, wie Altmann nicht müde wurde zu betonen – im Gegenteil: durch dessen Beitrag zu einer Integration aller Gruppen, Verbände und anderweitig organisierten Interessen in einen starken, will heißen, handlungsfähigen Staat. Einen Staat, der nicht dem Konsens-, vielmehr dem Autoritätsgedanken des Rechts und parlamentarisch-demokratischen Prinzipien verpflichtet sei.
War die "formierte Gesellschaft" mithin ein Gegenentwurf zur fragmentierten Gesellschaft?
Es war für Altmann als Urheber kaum verwunderlich, dass linke Kritiker dieses Konzepts sogleich die Gefahr einer deformierten oder uniformierten Gesellschaft beschworen – Rudi Dutschke an vorderster Front –, und bei Ludwig Erhards Erläuterungen der "formierten Gesellschaft" "totalitäres Gras wachsen" hörten und in dem Konzept ein "faschistisches Programm zur Aufhebung der Demokratie in Deutschland" erkennen wollten.
Dabei war Altmann alles andere als ein rechter Denker im klassischen Sinne. So widersprach er einmal dem gängigen Dekadenzvorwurf aus der kulturkonservativen Ecke:
"Wenn wir sehen, dass heute Technik und Wirtschaft Ungeheures leisten kann, dass die Gesellschaft in der Straffheit organisiert ist wie niemals zuvor, dass wir heute alle eine kleinbürgerliche Moral haben, die das Ganze 18. Jahrhundert niemals hatte. Wir sind ja viel moralischer als die Leute im 18. Jahrhundert, nicht wahr, ganz kleinkariert. Da soll man doch nicht dauernd reden, nicht wahr, wenn in irgendeiner Zeitschrift ein Nacktmädchen erscheint, das wäre also Dekadenz. Kein Wort davon ist wahr. Dekadenz ist eben eine Art von Zerfall und Zerfall macht ja auch in der Chemie unter Umständen große Kräfte frei."
Was Altmann weit weniger vorausahnte, war die reservierte Reaktion innerhalb seiner eigenen Partei: Den einen erschien die ganze Argumentation zu ordoliberal, zu ökonomistisch, den anderen die Pluralismuskritik an den Gruppenegoismen zu konservativ. Wieder andere vermissten das christliche Weltbild – welches durchaus für den Urheber das ganz selbstverständliche ethische Fundament bildete.
Adenauer, Noch-Parteivorsitzender der CDU, ohnehin skeptisch gegenüber allem, was Erhard tat, war vorab von diesem nicht eingebunden worden und befürchtete mit der "formierten Gesellschaft" eine grundlegende Änderung der bisherigen Politik – drohte intern sogar mit seinem Rücktritt vom Vorsitz.
Die "formierte Gesellschaft", verbunden mit der Idee der Gründung eines "deutschen Gemeinschaftswerks", das fortan bislang vernachlässigte Kollektivaufgaben wie Städtebau und Bildung in Angriff nehmen und dafür einen Teil der Steueraufkommen von Bund und Ländern erhalten sollte, hatte von Anfang an keine Chance.
Noch bevor eine ernsthafte Debatte über Zustand und Zukunft des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, von drängenden Herausforderungen und überzeugenden programmatischen Antworten innerhalb der CDU überhaupt beginnen konnte, war sie bereits wieder beendet.
Noch einmal hatten sich fast trotzig jene innerhalb der CDU durchgesetzt, die meinten, als Regierungspartei ein "Godesberg" wie die SPD nicht nötig zu haben. Hinterher mussten die innerparteilichen Kritiker stillschweigend konzedieren, dass manches von dem, was im Konzept der "formierten Gesellschaft" angedacht war, von Karl Schiller im großkoalitionären "Stabilitätsgesetz" mit sozialdemokratischer Handschrift umgesetzt worden war.
Mit dem Ziel, jenen Auswüchsen der Gefälligkeitsdemokratie Einhalt zu gebieten, die den gern bespöttelten "Maßhaltekanzler" zu der häufiger nur kolportierten denn ernsthaft reflektierten Warnung veranlasst hatten:
"Man darf nicht so tun, als ob der Staat sozusagen die Kuh wäre, die im Himmel grast und auf Erden gemolken wird."
Doch statt Maßhalten standen die Zeichen der Zeit auf "Sozialexpansion", zumal unter rot-gelben Vorzeichen der Regierung Brandt/Scheel, die 1972 mit einem für die Union ernüchternden Wahlergebnis im Amt bestätigt wurde.
Wenn auch eher aus deutschland- denn aus sozialpolitischen Gründen, so brachte der Triumph Brandts und die Demütigung Barzels die Union dazu, mit dem Aufwerfen der "Neuen Sozialen Frage" einen gesellschaftspolitischen Modernisierungskurs einzuschlagen. Altmann und Erhard waren gestern, Müller-Armack schien ins Vorgestern entrückt – nun brach die Partei zu neuen Ufern auf.
Neben Kohl war da vor allem der intellektuelle Hoffnungsträger der CDU, Kurt Biedenkopf.
Biedenkopf, ebenso wie Helmut Kohl 1930 in Ludwigshafen geboren, mit 34 Jahren Ordinarius für Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht an der Ruhr-Universität Bochum, eben dort mit 37 Jahren der jüngste Universitätsrektor der Bundesrepublik, war ein politischer Senkrechtstarter.
Einer, der nicht in die Politik ging, um etwas zu werden, sondern schon etwas war, bevor er Politiker wurde. Ein feiner, großer Unterschied, der Biedenkopf stets bewusst war und den er andere in seiner Partei nicht selten spüren ließ. Einer, dessen intellektuelle Brillanz Franz Josef Strauss so beeindruckte, dass er mit Blick auf Biedenkopfs Körpergröße meinte, sticheln zu müssen,
"dem Bürscherl" hätte man "rechtzeitig Kunstdünger in die Schuhe schütten müssen".
"Biko", wie er in guten Zeiten genannt wurde, ein unabhängiger Weggefährte, in dem die eigene Partei eine authentische Verkörperung von einfühlendem Herz und wegweisendem Verstand zu erblicken glaubte. Zumindest von 1973, dem Jahr der Übernahme des Amtes des Generalsekretärs der CDU, bis 1977, als Biedenkopf resigniert den Stab an Heiner Geißler, seinen zunächst kongenialen programmatischen Widerpart, weitergab.
Die "Neue Soziale Frage" – sie trieb beide um: Biedenkopf wie Geißler, beide Dickschädel, beide Quer-, Vor- und Schnelldenker, wie sie teils anerkennend, teils ehrfürchtig, teils indigniert-distanziert genannt wurden. Bis heute.
Mit ihrem Bemühen, den gesellschaftlichen Randgruppen ohne Lobby mehr Geltung gegenüber dem Korporatismus der Großgruppen zu verschaffen, griffen die Partei-Strategen unter Führung Biedenkopfs nicht nur Helmut Schelskys Kritik an der "Betreuten Gesellschaft" auf, sondern rehabilitierten damit, wenn auch unausgesprochen, Altmanns Bemühen um eine gesellschaftspolitische Neuakzentuierung der Sozialen Marktwirtschaft, von der schon Müller-Armack 1950 gesagt hatte:
"Sie ist gemäß ihrer Konzeption kein fertiges System, kein Rezept, das, einmal gegeben, für alle Zeiten im gleichen Sinne angewendet werden kann."
Vielmehr, so Müller-Armacks Vermächtnis, sei es eine evolutive Ordnung, in der es neben festen Grundprinzipien immer wieder nötig sei, Akzente zu setzen gemäß den Anforderungen einer sich wandelnden Zeit. Nun also der Akzent auf das Soziale – mit programmatischem Anspruch formuliert auf dem Mannheimer Parteitag von 1975.
Ohne Frage auch deshalb, weil man mit der SPD darum konkurrieren musste, welche Partei bessere Antworten auf die Frage nach sozialer Gerechtigkeit habe. Biedenkopf räumte unumwunden großen Nachholbedarf seiner Partei auf diesem zentralen Politikfeld ein:
"Wir müssen nun mal davon ausgehen, dass 50 Prozent der Bevölkerung in diesem Bereich die SPD und nur gut 20 Prozent die CDU für kompetenter halten. Die CDU muss ihre Kompetenz, den Grundsatz der Sozialpflichtigkeit der Marktwirtschaft verwirklichen zu können, nachweisen – nicht durch Behauptungen, sondern dadurch, dass sie eine entsprechende Politik formuliert."
Es verwundert daher kaum, dass plötzlich selbst das linkslastige Ahlener Programm von Biedenkopf noch einmal zur "wesentlichen Grundlage der CDU-Politik" erklärt wurde – auch wenn die konkrete Stoßrichtung der "Neuen Sozialen Frage" eher in eine andere Richtung zielen sollte: nämlich auf die Entschlackung und Konzentrierung seiner Aufgaben. Müller-Armack ließ grüßen.
Und Biedenkopf keinen Zweifel daran, dass es keineswegs um eine grundsätzliche Erhöhung der sozialen Aufwendungen des Staates gehen könne, sondern viel eher darum, diese gezielter einzusetzen.
"Die SPD hat ja selbst gesagt, für sie sei der Staat gewissermaßen das Vollzugsprogramm für die organisierten Gruppen. Oder das Instrument zur Durchsetzung der Interessen der organisierten Mehrheit. Das ist eben nicht unser Staatsbegriff. Für uns hat der Staat den Auftrag, die Verteilung dessen, was wir alle gemeinsam erarbeiten, nicht danach zu steuern, wie laut organisierte Gruppen schreien und welche Ansprüche sie an die Verteilung stellen, sondern nach den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit. Darauf kommt es an. Überhaupt erst mal klarzumachen, dass jeder, der Macht hat in diesem Land, gesellschaftliche Macht, gleichzeitig auch die Verpflichtung hat, diese Macht zum Wohl der Allgemeinheit einzusetzen."
Tatsächlich befand sich der ordnungspolitisch gestrenge Parteigeneral Biedenkopf mit einer solchen Interpretation der "Neuen Sozialen Frage" im Konflikt mit der sozialpolitischen Strömung um den ehrgeizigen Sozialminister aus Rheinland-Pfalz, dem es seinerseits weniger um ordnungspolitische Strukturanalysen der Gesellschaft als um konkrete Hilfsprogramme für Schwache und Bedürftige ging.
Der von Kohl schon früh als "Herz-Jesu-Marxist" bespöttelte Geißler machte nie einen Hehl aus dem, was er warum für seine Partei wollte.
Es war ein anderer Kurs, ein anderes Profil, als Biedenkopf, dies wollte.
Der FAZ-Journalist Georg Paul Hefty konstatierte einmal:
"Könnten Feuer und Wasser eineiige Zwillinge sein, dann hießen sie Biedenkopf und Geißler",
Konnte der schwelende Konflikt zwischen beiden 1975 noch halbwegs kaschiert werden, so brach er zwei Jahre später im Zuge der Erarbeitung des ersten Grundsatzprogramms der CDU unter Federführung Richard von Weizsäckers vollends auf.
Die Wahl Geißlers zum Partei-General, die kurze Zeit später erfolgte, symbolisierte zwar, dass die sozialpolitischen Kräfte diesen Konflikt schlussendlich für sich entscheiden konnten, kaschierte zugleich aber doch auch, dass aus dieser programmatischen Offensive in der politischen Praxis nichts folgte, ja nichts folgen konnte.
Denn einerseits war eine Regierungsperspektive für die Union weder 1976 mit Helmut Kohl als Kanzlerkandidat noch 1980 mit Franz Josef Strauß in Sicht – und dies trotz Stimmenvorsprungs vor der SPD.
Andererseits verlor die Partei stets in dem Augenblick ihr Interesse an programmatischen Aufbrüchen und den mit ihnen verbundenen Intellektuellen, in denen sie die Macht errungen und damit zu verteidigen hatte.
Dann dominierte – wie Norbert Seitz es einmal formuliert hat – "unprogrammatische Siegermentalität gepaart mit strategischer Coolness." Und es stimmt ja auch: Altmann wie Biedenkopf, 1989 auch Geißler, sie alle erlebten und empfanden eine wachsende Distanz in und zu einer Partei, die in den achtziger und neunziger Jahren immer stärker auf eine Person zusammenschnurrte, die schlussendlich sich selbst Programm genug war: Helmut Kohl.
Dabei war es wesentlich dessen Verdienst gewesen, dass sich die CDU 1978 in Ludwigshafen ihr erstes Grundsatzprogramm gegeben und damit den Versuch unternommen hatte, die verloren gegangene geistige Führung im Land zurückzuerobern.
Dabei war es Kohl gewesen, der mit Regierungsübernahme 1982/83 den oft zitierten und doch nie eingelösten Anspruch einer "geistig-moralischen Wende" formuliert hatte – einer Wende, die paradoxerweise viele Jahre später unter Rot-Grün gerade von jenen herbeigeführt wurde, die Kohls Ankündigung seinerzeit auf das heftigste bekämpften und ihm neokonservative Umtriebe unterstellten.
Die "Ära Kohl" sollte schließlich mit anderen Akzenten in Verbindung gebracht werden, jedoch nicht mit klaren ordnungspolitischen Linien, für die Biedenkopf, zuvor Altmann und Erhard in Anknüpfung an Müller-Armack gekämpft hatten.
Im September 1989, als die Mauer der innerdeutschen Grenze noch stand, wurde Geißler auf dem Bremer Parteitag mit dem gescheiterten "Putsch-Versuch" gegen Kohl in Verbindung gebracht, Biedenkopf stand bereits im Abseits und Rüdiger Altmann brach seinerseits den Stab über den Adenauer-Enkel und künftigen Langzeitkanzler.
"Die Null vor dem Komma" lautete die publizistische Abrechnung Altmanns mit Kohl – Ausdruck größten Missvergnügens an der aus seiner Sicht eklatanten Konzeptionslosigkeit und intellektuellen Dürftigkeit des pfälzischen Riesen, über den er 1998 die kühne These verbreitete, "eine Ära Kohl" habe es gar nicht gegeben.
Woher diese Frustration, diese wachsende Fremdheit innerhalb der eigenen Partei, mit der auch Biedenkopf und Geißler konfrontiert waren – und die selbst dann noch fortdauerte, als Biedenkopf 1990 ganz überraschend sein Comeback als "König Kurt von Sachsen" feiern und Heiner Geißler jüngst als Schlichter zum Bürgerheld von Stuttgart avancieren konnte?
Diese Fremdheit resultierte – im Grunde zwangsläufig – aus der latenten und allzu oft manifesten Distanz zwischen der eigenen intellektuellen Unabhängigkeit, die sich zuweilen zur Unbedingtheit steigern konnte, einerseits und einer, wie es der Publizist Alexander Gauland formuliert hat, auf einen "verschwommenen middle-of-the-road-Konservatismus" ausgerichteten Partei andererseits.
Doch Biedenkopf wie Geißler, vor ihnen bereits Altmann, erkannten früh, dass eine "middle-of-the-road”-Strategie ihrer Partei spätestens dann problematisch wird, wenn unklar ist, wo die Mitte liegt, wer und was sie füllt und welches Maß dabei zugrunde gelegt wird. Der Abstand zu dem, was Wilhelm Röpke 1950 in seinem ordoliberalen Manifest "Maß und Mitte" an Wegweisungen und Anforderungen formuliert hat, könnte wiederum kaum größer sein.
Von Adenauer bis Merkel gern zitiert, gerieten "Maß und Mitte" über die vergangenen Jahrzehnte hinweg immer mehr zum rhetorischen Versatzstück, zur Phrase statt zum analytischen Kompass programmatischer Wegweisungen.
Die Konsequenz: Man regiert pragmatisch und vermeidet jede offensive programmatische Selbstvergewisserung über Begriffe und Inhalte, wie sie sich mit "Neuer Sozialer Marktwirtschaft", mit "Generationengerechtigkeit, mit Integration, "Leitkultur", mit Europa oder, grundsätzlicher noch, dem "C" im Parteinamen verbinden.
Wo aber sind die Biedenkopfs, Geißlers, verwegener noch: die Müller-Armacks oder Altmanns der Ära Merkel? Es gibt sie nicht.
Und wie steht es um die Originale?
Erstere, Biedenkopf, der publizistisch umtriebige elder statesman und Geißler, das schillernde Attac-Mitglied mit Drang zum Drachentöten, sind inzwischen ikonografisch in ungefährliche, denn unerreichbare Höhen entrückt worden.
Letztere beiden, Müller-Armack und Altmann, dessen Nachlass seit Jahren bezeichnender Weise im Archiv der Friedrich-Ebert-, und nicht dem der Konrad-Adenauer-Stiftung, schlummert, sind inzwischen nahezu vergessen. Und was man nicht mehr kennt, vermisst man nicht.
Aber verdiente nicht gerade Altmann mehr als nur eine Reminiszenz an seinen damals gescheiterten Versuch, die Gemeinwohlpflichtigkeit aller gesellschaftlichen und staatlichen Akteure, voran der Parteien und Verbände, im Geiste einer ordnungspolitisch reformierten Gesellschaft in den Vordergrund zu rücken.
Altmann reformulierend müsste die Frage heute lauten: Ob und wie es den Parteien – vor allem auch der Union – noch gelingen kann, trotz der engen Verflochtenheit mit einzelnen und teils widersprechenden Gruppeninteressen die Entwicklung des Ganzen – der res publica – zugunsten einer erneuerten "Kultur der Freiheit" zu steuern.
Der ordnungspolitische Kompass läge bereit, die auffallend zeitlosen Fragen nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft, von Parteien, Interessengruppen und Gemeinwohl, von Nation und vor allem Europa im Zeichen der Globalisierung sind lange schon formuliert.
Antworten auch. Formuliert von jenen Ausnahmen, die Carlo Schmids Regel vom schwierigen Verhältnis von Geist und Politik, bestätigen.