Etwa 2.000 Menschen demonstrieren im Zentrum von Moskau. Fahnen flattern: Die Oppositionsgruppe "Widerstand", die Kommunistische Partei, die Linksfront, die Bewegung "Solidarität" – alle sind sie da, auch einige Nationalisten. Der Sänger trägt ein Widerstandslied vor. Die Bühne schmückt ein Transparent mit Porträtfotos einzelner junger Menschen und dem Gitter einer Gefängniszelle. Es ist ein grauer Tag. Die Stimmung ist gedrückt.
Die Demonstranten fordern Freiheit für die Gefangenen des 6. Mai. Es geht um die Strafsache rund um die Ereignisse am Bolotnaja Platz vor knapp einem Jahr. Eine Protestdemonstration schlug damals in Gewalt um. Mehrere Hundert Demonstranten wurden vorübergehend festgenommen. Später gerieten mehr als zwei Dutzend Personen ins Visier der Justiz. Die meisten sind wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Teilnahme an Massenunruhen angeklagt. Mindestens 15 von ihnen sitzen in Untersuchungshaft. Ein Mann wurde bereits zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Der Anwalt Dmitrij Agranowskij vertritt einige der Angeklagten.
"Rund um den 6. Mai gibt es mittlerweile einen ganzen Strauß mit verschiedenen Strafsachen. Wie sich das Ganze künftig entwickelt, ist nicht vorhersagbar."
Rückblende: der 6. Mai 2012. Es ist der Vorabend von Putins Amtseinführung. Zwei Monate zuvor ist er zurück ins Präsidentenamt gewählt worden. Die Menschen auf der Straße werfen ihm Wahlfälschungen vor. Sie rufen "Putin ist ein Dieb" und "Russland ohne Putin".
Putin bezeichnet seine Kritiker als "von außen" gelenkt. Hinter ihnen stünden Kräfte im Westen, namentlich das US-State-Department, das Russland von innen zersetzen wolle.
Zu der Kundgebung kommen weit mehr Menschen als erwartet. Die Strecke führt Richtung Kreml, knickt aber kurz zuvor auf den Bolotnaja-Platz ab, auf dem die Abschlusskundgebung stattfinden soll. Der Zugang zum Platz erweist sich als zu eng. Die Organisatoren rufen zu einer Sitzblockade auf. Behelmte Elitekämpfer der Omon, der Sondertruppe der russischen Polizei, versperren den Weg zum Kreml. Wenig später fliegen die ersten Steine. Einige Demonstranten durchbrechen die Kette der Sicherheitskräfte. Rauch steigt auf. Die Ereignisse sind auf zahlreichen Videoaufnahmen festgehalten. Das Komitee des 6. Mai, eine Unterstützergruppe der Gefangenen, hat sie gesammelt und ins Internet gestellt.
Auf vielen Bildern ist zu sehen, wie Sicherheitskräfte Demonstranten willkürlich herausgreifen und wegschleppen. Ein oppositioneller Parlamentsabgeordneter ruft die Polizisten zur Zurückhaltung auf. Mitten im Satz wird er von Omon-Leuten umzingelt und weggedrängt.
Die Ermittler präsentieren eigene Videoaufnahmen. In einem dieser Filmausschnitte steht eine blonde Frau in der Menschenmasse, direkt vor der Phalanx der Elitekämpfer. Sie dreht sich um und ruft: "Männer, hier her, schneller! Schiebt in diese Richtung!" Es folgt ein Schnitt. Dann ist zu sehen, wie ein Vermummter in einem Kapuzenpulli einem Polizisten eine Fahnenstange gegen die Brust drückt – so, als habe die Frau ihn dazu aufgefordert.
Die blonde Frau heißt Maria Baronova, 29 Jahre alt, Chemikerin, alleinerziehend, Aktivistin der Protestbewegung – und eine der Angeklagten des 6. Mai. Ihr drohen 4,5 Jahre Haft. Sie schildert die Ereignisse an jenem Nachmittag so:
"Die Omon fing an, die Leute in eine Richtung zu schieben. Einer etwa 55-jährigen Frau wurde schwindelig. Sie fiel hin. Ich habe die Omon-Leute gebeten, die Frau durchzulassen. Sie haben gesagt: Wir haben keinen Befehl. Da habe ich angefangen zu schreien, genau das ist auf dem Video zu sehen. Ich hatte eine Panikattacke. Ich war hysterisch."
Anhänger der Opposition sagen, die Sicherheitskräfte hätten die Ausschreitungen am 6. Mai bewusst provoziert, um die bis dahin friedliche Protestbewegung zu diskreditieren. Unabhängige Beobachter haben gesehen, wie Provokateure eingeschleust wurden. Auch die Aktivistin Maria Baronova berichtet davon.
"Es gab da so einen Muskelprotz in schwarzer Maske. Er hat sich sehr merkwürdig benommen. Er hat zuerst einen Elitepolizisten geschlagen, konnte dann aber ganz ruhig durch deren Reihen spazieren. Später hat er die Omon sogar angewiesen, in welche Richtung sie laufen soll."
Sergej Sharov-Delaunay vom Komitee des 6. Mai sammelt derlei Zeugenaussagen.
"Wir haben eine große Anzahl sehr beunruhigender Hinweise darauf, dass das Sicherheitskonzept der Polizei große Löcher hatte. Vor meinen Augen haben Männer in schwarzen Trainingsanzügen und mit schwarzen Masken von hinten die Kette der OMON durchbrochen, haben sich zu den Demonstranten gesellt, Steine geworfen und sind dann wieder hinter den OMON-Leuten verschwunden."
Die Sicherheitsbehörden indes sagen, die Demonstranten hätten mit den Gewalttaten begonnen. In den folgenden Wochen wurde ein ganzes Heer von Fahndern tätig, um die Gewalttäter unter den Demonstranten aufzuspüren. Sie gehören zum "Ermittlungskomitee". Das untersteht direkt dem Präsidenten und ermittelt nicht nur gegen Demonstranten, sondern auch gegen mutmaßliche Terroristen, korrupte Beamte und Staatsfeinde. Seine Sprecher treten fast täglich in den Nachrichtensendungen des staatlich gelenkten Fernsehens auf.
Mitte Juni, einen Tag vor einer erneuten Protestkundgebung, durchsuchten die Ermittler die Wohnungen prominenter Oppositioneller. Die Begründung: Es bestehe der Verdacht, sie seien für die sogenannten Massenunruhen am 6. Mai verantwortlich. Vladimir Markin, Sprecher des Ermittlungskomitees, im Staatsfernsehen:
"Wir ermitteln streng im Rahmen des Gesetzes und auf der Basis richterlicher Beschlüsse. Heute werden wir mehr als zehn Durchsuchungen durchführen."
Die Maßnahmen seien völlig überzogen, sagt Arsenij Roginskij von der Menschenrechtsorganisation Memorial.
"Was am 6. Mai passiert ist, die Zusammenstöße, ob sie nun bewusst oder unbewusst von den Sicherheitskräften provoziert worden sind, sind einen so aufgeblasenen Prozess überhaupt nicht wert. Das ist lächerlich. Da müsste man ja praktisch alle Globalisierungsgegner für lange Zeit einsperren. Bei Großdemonstrationen kommt so etwas vor."
Von Massenunruhen könne keine Rede sein, meint auch der Anwalt Agranowskij.
"So etwas gab es bei uns 2002 nach einem verlorenen Fußball-Länderspiel. Da wurden Schaufenster eingeschlagen, Autos umgeworfen. Am 6. Mai geschah nichts dergleichen. Im internationalen Vergleich waren die Ausschreitungen auf dem Bolotnaja-Platz geringfügig. Die Reaktion des Staates ist absolut unangemessen."
Aber die Ermittler legten nach. Im Oktober präsentierten sie neue Anschuldigungen. Es ging nun nicht mehr nur um Widerstand gegen die Staatsgewalt und die Teilnahme an Massenunruhen, sondern um deren Organisation. Und zwar nicht mehr nur in Moskau, sondern auch in anderen russischen Regionen. Der Tenor lautete von nun an: Die Ausschreitungen am 6. Mai seien nicht spontan entstanden, sondern von langer Hand geplant. Und zwar vom Ausland, mit dem Ziel, die Regierung in Russland zu stürzen.
Im Zentrum der Vorwürfe stehen drei Personen: nicht mehr bis dahin weitgehend unbekannte Demonstranten, sondern der in Moskau bekannte Linkspolitiker Sergej Udalzow, einer der Anführer der Protestbewegung, sowie seine Assistenten Leonid Razwozschajew und Konstantin Lebedew. Gegen alle drei wurde Mitte Oktober Anklage erhoben, wegen angeblicher Organisation von Massenunruhen. Razwozschajew floh in die Ukraine, wollte dort politisches Asyl beantragen, wurde aber unter ominösen Umständen in Kiew aufgegriffen. Nach Angaben seiner Anwälte wurde er von russischen Sicherheitskräften entführt, zurück nach Russland gebracht und verhört. Erneut trat Vladimir Markin, Sprecher des Ermittlungskomitees, vor die Fernsehkameras.
"Razwozschajew hat sich am 21. Oktober von selbst an das Ermittlungskomitee gewandt, um ein Schuldeingeständnis zu unterzeichnen. Darin schildert er detailliert, wie er gemeinsam mit Sergej Udalzow, Konstantin Lebedew und anderen Massenunruhen auf dem Gebiet der Russischen Föderation vorbereitet hat. Und dass die genannten Personen an den Massenunruhen am 6. Mai auf dem Bolotnja-Platz in Moskau beteiligt waren."
Razvozschajew widerrief das Geständnis. Auf ihn sei Druck ausgeübt, er sei gefoltert worden. Der Widerruf blieb ohne Folgen. Razwozschajew sitzt in Untersuchungshaft. Die beiden anderen Angeklagten, Konstantin Lebedew und Sergej Udalzow, stehen seit Monaten unter Hausarrest.
Grundlage für die Anklage gegen Razvozschajew, Lebedew und Udalzow war der Fernsehfilm "Anatomie des Protests 2". Der Streifen wurde Anfang Oktober in dem vom Kreml gesteuerten landesweiten Sender NTW ausgestrahlt. NTW hatte schon in den Monaten zuvor reißerische Hetzfilme gegen Kremlkritiker gesendet.
"Warum fährt die Opposition nach Europa und nach Georgien? Wer berät und lenkt den Protest in Russland? Wer gibt Geld? Wie viel? Und wofür? Einzigartige Mitschnitte geheimer Verhandlungen Udalzows mit den georgischen Konstrukteuren bunter Revolutionen. Heute in unserem Programm."
In dem Film sitzen Menschen, die aussehen wie Udalzow, Razwozschajew und Lebedew, gemeinsam mit anderen Männern auf Sofas und Sesseln und reden. Die Bilder sind angeblich in Minsk gedreht, mit versteckter Kamera, grünstichig und unscharf. Meist spricht ein korpulenter Mann. Bei ihm handelt es sich offenbar um Giwi Targamadze, Parlamentsabgeordneter aus Georgien. Die Stimmen sind schlecht zu verstehen und deshalb untertitelt. Der Georgier berichtet demnach, er habe in London einen aus Russland geflohenen Oligarchen getroffen. Dieser russische Oligarch sei bereit, 50 Millionen US-Dollar für einen Machtwechsel in Russland zu zahlen und bei Freunden weitere 150 Millionen zu besorgen.
"Wir haben auch gute Kontakte zu Tschetschenen. Wir könnten irgendeine gute wirkungsvolle Provokation organisieren. Wir haben eine etwas verrückte Idee. Man könnte doch versuchen, die Macht in Kaliningrad zu übernehmen. Ideal wäre es, an zwei entgegengesetzten Enden des Landes gleichzeitig zu beginnen, in Kaliningrad und in Wladiwostok."
Darauf – angeblich – Udalzow:
"Man sollte es so machen: Kaliningrad, Moskau, Wladiwostok und wenigstens noch ein paar große Städte."
Es ist eine Szene wie aus einem Agentenroman. Georgien und Russland haben 2008 Krieg geführt. Der Präsident Georgiens, Micheil Saakaschwili, ist Putins Lieblingsfeind. Der Abgeordnete Giwi Targamadze aus dem Film zählt zu Saakaschwilis Mitstreitern der ersten Stunde. Er organisierte die Rosenrevolution in Georgien, die Saakaschwili 2003 an die Macht brachte. Friedliche Revolutionen wie die in Georgien sind das Schreckgespenst Putins. Der Sprecher in dem Film schließt in bester Tschekistenmanier, mit dem Appell, wachsam zu sein.
"Daran, dass unsere Opposition aus dem Ausland finanziert wird, ist auch unser Staat schuld, weil er die Augen davor verschlossen hat. Und die Gesellschaft, weil sie das akzeptiert hat. Uns fällt es schwer, zu beurteilen, ob Udalzow bei dem Treffen mit den georgischen Beratern eine Straftat vereinbart hat und ob sein Handeln Hochverrat entspricht. Wir hoffen, das werden kompetente Organe klären."
Die "kompetenten Organe" ließen nicht lange auf sich warten. Vladimir Markin, Sprecher des Ermittlungskomitees, Mitte Dezember in den Nachrichten:
"Wir haben Materialien gesammelt, die belegen, dass Giwi Targamadze die russische Opposition finanziert, dass er eine konkrete Rolle bei der Organisation der Massenunruhen auf dem Bolotnaja Platz gespielt hat und dass er das Handeln der Oppositionsführer beim Marsch der Millionen in Moskau unmittelbar lenkt."
Udalzow bestreitet, Targamadze getroffen zu haben. Der Film sei eine Fälschung. Auch der Georgier weist die Vorwürfe als "Propaganda" zurück. Leute, die Targamadze kennen, meinen, es sei gut möglich, dass der umtriebige Politiker bei einem oder mehreren Glas Alkohol irgendwo von einer Revolution in Russland geredet habe - allerdings eher in einer Weinlaune. Konstantin Lebedew hingegen, Udalzows Mitangeklagter, soll nach mehreren Monaten unter Hausarrest zugegeben haben, dass ein Treffen mit Targamadze in Minsk stattgefunden habe.
Für Präsident Putin steht die Echtheit des Videos außer Zweifel. Er sagte bei seiner Pressekonferenz vor mehreren Hundert Journalisten über Targamadze:
"Er hat versucht - und versucht vielleicht immer noch - Bürger der Russischen Föderation zu illegalen Handlungen anzustacheln, zu Terroranschlägen, zur illegalen Machtergreifung. Ich denke, das wurde sehr überzeugend in den Aufnahmen gezeigt."
Der Film "Anatomie des Protests 2" zog weitere Aktivitäten der Ermittler nach sich. Bald begannen die ersten Durchsuchungen bei Oppositionellen außerhalb Moskaus: Im "Haus der Menschenrechte" in Woronesch, etwa 500 Kilometer südlich von Moskau. Dort sitzen mehrere Menschenrechtsorganisationen unter einem Dach. Viele der dort Beschäftigten waren am 6. Mai am Bolotnaja-Platz. Fahnder aus Moskau durchsuchten ihre Wohnungen und Büros und beschlagnahmten Computer, Flugblätter, Literatur. Sie suchten Beweise für die Vorbereitung der sogenannten "Massenunruhen" am 6. Mai. Das Ermittlungskomitee verbreitete später eine Erklärung:
Im Rahmen der Ermittlungen wurden Beweise dafür gesammelt, dass die Verdächtigen Treffen von Anhängern der Oppositionsbewegung organisiert haben. Und dass sie mit ihnen Seminare durchgeführt haben, deren Ziel es war, sie zur Teilnahme an Massenunruhen zu bewegen.
Sie hätten Papiere gefunden, die belegen, dass eine der Organisationen in Woronesch Geld aus den USA erhalten habe: umgerechnet rund 10.000 Euro, "angeblich", wie es in der Erklärung heißt, für Menschenrechtsarbeit.
Aleksej Kozlow setzt sich in Woronesch für Versammlungsfreiheit und gegen Folter ein. Er schließt aus dem Vorgehen der Ermittler, dass sie nach Personen suchen, denen sie vorwerfen können, sie hätten Geld aus dem Ausland an Udalzow und seine Mitstreiter weiter geleitet.
"Wir haben aber gar keine direkte Verbindung zu diesen Leuten, zu Udalzow, Razwozschajew und Lebedew. Viele wissen natürlich, wer Udalzow ist, er ist nun mal bekannt. Aber ich kenne ihn nicht näher. Und das geht auch den anderen so, deren Wohnungen durchsucht wurden."
Kozlov hält sich zurzeit in Deutschland auf, aus Angst. Er fürchtet, dass er der nächste Angeklagte sein könnte. Er verweist noch einmal auf den Film "Anatomie des Protests 2".
"Dort war von den Regionen die Rede. In den Augen der Ermittler ergibt sich folgendes Bild: Es gibt eine Moskauer Gruppe, die Massenunruhen organisiert. Und es gibt eine Region, in der das gleiche passieren sollte. Dort brauchen sie eine Hauptfigur. Jemanden, der für das alles dort verantwortlich ist."
Kozlow würde in das Bild der Ermittler passen. Er war seinerzeit Mitglied bei Otpor, der Demokratiebewegung in Serbien, die den Diktator Milosevic friedlich aus dem Amt demonstrierte. Und Kozlows Organisation erhält Geld aus dem Ausland, unter anderem von der Heinrich Böll Stiftung. Allerdings nicht für einen Umsturz, sondern für Demokratieprojekte. Einige Bürgerrechtler sprechen bereits von einem bevorstehenden Schauprozess im Zusammenhang mit dem 6. Mai. Sie sehen das Jahr 1937 mit seinem stalinistischen Terror wieder aufziehen. Arsenij Roginskij von der Menschenrechtsorganisation Memorial widerspricht.
"Damals wurden die Menschen zu Zigtausenden umgebracht. Das geschieht nicht. Aber wie damals dient die Justiz auch heute nicht der Wahrheit, sondern der Propaganda der Machthaber."
Und die besteht darin, der Bevölkerung Feindbilder einzupflanzen.
"Das Beste, was Putin tun könnte, wäre, die Hexenjagd rund um den 6. Mai zu stoppen. Das ist doch kein Indikator eines starken Staates, sondern zeugt von Komplexen und Ängsten. Die Wurzeln dessen liegen in der Vergangenheit, die nicht aufgearbeitet ist. In der überholten stalinistischen Vorstellung, das Land sei von Feinden umgeben, und Bürger Russlands würden hier im Auftrag der Feinde als fünfte Kolonne bei Demonstrationen Gewalt ausüben."
Nach Angaben der Behörden stehen die Ermittlungen rund um den 6. Mai kurz vor dem Abschluss.
Die Demonstranten fordern Freiheit für die Gefangenen des 6. Mai. Es geht um die Strafsache rund um die Ereignisse am Bolotnaja Platz vor knapp einem Jahr. Eine Protestdemonstration schlug damals in Gewalt um. Mehrere Hundert Demonstranten wurden vorübergehend festgenommen. Später gerieten mehr als zwei Dutzend Personen ins Visier der Justiz. Die meisten sind wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Teilnahme an Massenunruhen angeklagt. Mindestens 15 von ihnen sitzen in Untersuchungshaft. Ein Mann wurde bereits zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Der Anwalt Dmitrij Agranowskij vertritt einige der Angeklagten.
"Rund um den 6. Mai gibt es mittlerweile einen ganzen Strauß mit verschiedenen Strafsachen. Wie sich das Ganze künftig entwickelt, ist nicht vorhersagbar."
Rückblende: der 6. Mai 2012. Es ist der Vorabend von Putins Amtseinführung. Zwei Monate zuvor ist er zurück ins Präsidentenamt gewählt worden. Die Menschen auf der Straße werfen ihm Wahlfälschungen vor. Sie rufen "Putin ist ein Dieb" und "Russland ohne Putin".
Putin bezeichnet seine Kritiker als "von außen" gelenkt. Hinter ihnen stünden Kräfte im Westen, namentlich das US-State-Department, das Russland von innen zersetzen wolle.
Zu der Kundgebung kommen weit mehr Menschen als erwartet. Die Strecke führt Richtung Kreml, knickt aber kurz zuvor auf den Bolotnaja-Platz ab, auf dem die Abschlusskundgebung stattfinden soll. Der Zugang zum Platz erweist sich als zu eng. Die Organisatoren rufen zu einer Sitzblockade auf. Behelmte Elitekämpfer der Omon, der Sondertruppe der russischen Polizei, versperren den Weg zum Kreml. Wenig später fliegen die ersten Steine. Einige Demonstranten durchbrechen die Kette der Sicherheitskräfte. Rauch steigt auf. Die Ereignisse sind auf zahlreichen Videoaufnahmen festgehalten. Das Komitee des 6. Mai, eine Unterstützergruppe der Gefangenen, hat sie gesammelt und ins Internet gestellt.
Auf vielen Bildern ist zu sehen, wie Sicherheitskräfte Demonstranten willkürlich herausgreifen und wegschleppen. Ein oppositioneller Parlamentsabgeordneter ruft die Polizisten zur Zurückhaltung auf. Mitten im Satz wird er von Omon-Leuten umzingelt und weggedrängt.
Die Ermittler präsentieren eigene Videoaufnahmen. In einem dieser Filmausschnitte steht eine blonde Frau in der Menschenmasse, direkt vor der Phalanx der Elitekämpfer. Sie dreht sich um und ruft: "Männer, hier her, schneller! Schiebt in diese Richtung!" Es folgt ein Schnitt. Dann ist zu sehen, wie ein Vermummter in einem Kapuzenpulli einem Polizisten eine Fahnenstange gegen die Brust drückt – so, als habe die Frau ihn dazu aufgefordert.
Die blonde Frau heißt Maria Baronova, 29 Jahre alt, Chemikerin, alleinerziehend, Aktivistin der Protestbewegung – und eine der Angeklagten des 6. Mai. Ihr drohen 4,5 Jahre Haft. Sie schildert die Ereignisse an jenem Nachmittag so:
"Die Omon fing an, die Leute in eine Richtung zu schieben. Einer etwa 55-jährigen Frau wurde schwindelig. Sie fiel hin. Ich habe die Omon-Leute gebeten, die Frau durchzulassen. Sie haben gesagt: Wir haben keinen Befehl. Da habe ich angefangen zu schreien, genau das ist auf dem Video zu sehen. Ich hatte eine Panikattacke. Ich war hysterisch."
Anhänger der Opposition sagen, die Sicherheitskräfte hätten die Ausschreitungen am 6. Mai bewusst provoziert, um die bis dahin friedliche Protestbewegung zu diskreditieren. Unabhängige Beobachter haben gesehen, wie Provokateure eingeschleust wurden. Auch die Aktivistin Maria Baronova berichtet davon.
"Es gab da so einen Muskelprotz in schwarzer Maske. Er hat sich sehr merkwürdig benommen. Er hat zuerst einen Elitepolizisten geschlagen, konnte dann aber ganz ruhig durch deren Reihen spazieren. Später hat er die Omon sogar angewiesen, in welche Richtung sie laufen soll."
Sergej Sharov-Delaunay vom Komitee des 6. Mai sammelt derlei Zeugenaussagen.
"Wir haben eine große Anzahl sehr beunruhigender Hinweise darauf, dass das Sicherheitskonzept der Polizei große Löcher hatte. Vor meinen Augen haben Männer in schwarzen Trainingsanzügen und mit schwarzen Masken von hinten die Kette der OMON durchbrochen, haben sich zu den Demonstranten gesellt, Steine geworfen und sind dann wieder hinter den OMON-Leuten verschwunden."
Die Sicherheitsbehörden indes sagen, die Demonstranten hätten mit den Gewalttaten begonnen. In den folgenden Wochen wurde ein ganzes Heer von Fahndern tätig, um die Gewalttäter unter den Demonstranten aufzuspüren. Sie gehören zum "Ermittlungskomitee". Das untersteht direkt dem Präsidenten und ermittelt nicht nur gegen Demonstranten, sondern auch gegen mutmaßliche Terroristen, korrupte Beamte und Staatsfeinde. Seine Sprecher treten fast täglich in den Nachrichtensendungen des staatlich gelenkten Fernsehens auf.
Mitte Juni, einen Tag vor einer erneuten Protestkundgebung, durchsuchten die Ermittler die Wohnungen prominenter Oppositioneller. Die Begründung: Es bestehe der Verdacht, sie seien für die sogenannten Massenunruhen am 6. Mai verantwortlich. Vladimir Markin, Sprecher des Ermittlungskomitees, im Staatsfernsehen:
"Wir ermitteln streng im Rahmen des Gesetzes und auf der Basis richterlicher Beschlüsse. Heute werden wir mehr als zehn Durchsuchungen durchführen."
Die Maßnahmen seien völlig überzogen, sagt Arsenij Roginskij von der Menschenrechtsorganisation Memorial.
"Was am 6. Mai passiert ist, die Zusammenstöße, ob sie nun bewusst oder unbewusst von den Sicherheitskräften provoziert worden sind, sind einen so aufgeblasenen Prozess überhaupt nicht wert. Das ist lächerlich. Da müsste man ja praktisch alle Globalisierungsgegner für lange Zeit einsperren. Bei Großdemonstrationen kommt so etwas vor."
Von Massenunruhen könne keine Rede sein, meint auch der Anwalt Agranowskij.
"So etwas gab es bei uns 2002 nach einem verlorenen Fußball-Länderspiel. Da wurden Schaufenster eingeschlagen, Autos umgeworfen. Am 6. Mai geschah nichts dergleichen. Im internationalen Vergleich waren die Ausschreitungen auf dem Bolotnaja-Platz geringfügig. Die Reaktion des Staates ist absolut unangemessen."
Aber die Ermittler legten nach. Im Oktober präsentierten sie neue Anschuldigungen. Es ging nun nicht mehr nur um Widerstand gegen die Staatsgewalt und die Teilnahme an Massenunruhen, sondern um deren Organisation. Und zwar nicht mehr nur in Moskau, sondern auch in anderen russischen Regionen. Der Tenor lautete von nun an: Die Ausschreitungen am 6. Mai seien nicht spontan entstanden, sondern von langer Hand geplant. Und zwar vom Ausland, mit dem Ziel, die Regierung in Russland zu stürzen.
Im Zentrum der Vorwürfe stehen drei Personen: nicht mehr bis dahin weitgehend unbekannte Demonstranten, sondern der in Moskau bekannte Linkspolitiker Sergej Udalzow, einer der Anführer der Protestbewegung, sowie seine Assistenten Leonid Razwozschajew und Konstantin Lebedew. Gegen alle drei wurde Mitte Oktober Anklage erhoben, wegen angeblicher Organisation von Massenunruhen. Razwozschajew floh in die Ukraine, wollte dort politisches Asyl beantragen, wurde aber unter ominösen Umständen in Kiew aufgegriffen. Nach Angaben seiner Anwälte wurde er von russischen Sicherheitskräften entführt, zurück nach Russland gebracht und verhört. Erneut trat Vladimir Markin, Sprecher des Ermittlungskomitees, vor die Fernsehkameras.
"Razwozschajew hat sich am 21. Oktober von selbst an das Ermittlungskomitee gewandt, um ein Schuldeingeständnis zu unterzeichnen. Darin schildert er detailliert, wie er gemeinsam mit Sergej Udalzow, Konstantin Lebedew und anderen Massenunruhen auf dem Gebiet der Russischen Föderation vorbereitet hat. Und dass die genannten Personen an den Massenunruhen am 6. Mai auf dem Bolotnja-Platz in Moskau beteiligt waren."
Razvozschajew widerrief das Geständnis. Auf ihn sei Druck ausgeübt, er sei gefoltert worden. Der Widerruf blieb ohne Folgen. Razwozschajew sitzt in Untersuchungshaft. Die beiden anderen Angeklagten, Konstantin Lebedew und Sergej Udalzow, stehen seit Monaten unter Hausarrest.
Grundlage für die Anklage gegen Razvozschajew, Lebedew und Udalzow war der Fernsehfilm "Anatomie des Protests 2". Der Streifen wurde Anfang Oktober in dem vom Kreml gesteuerten landesweiten Sender NTW ausgestrahlt. NTW hatte schon in den Monaten zuvor reißerische Hetzfilme gegen Kremlkritiker gesendet.
"Warum fährt die Opposition nach Europa und nach Georgien? Wer berät und lenkt den Protest in Russland? Wer gibt Geld? Wie viel? Und wofür? Einzigartige Mitschnitte geheimer Verhandlungen Udalzows mit den georgischen Konstrukteuren bunter Revolutionen. Heute in unserem Programm."
In dem Film sitzen Menschen, die aussehen wie Udalzow, Razwozschajew und Lebedew, gemeinsam mit anderen Männern auf Sofas und Sesseln und reden. Die Bilder sind angeblich in Minsk gedreht, mit versteckter Kamera, grünstichig und unscharf. Meist spricht ein korpulenter Mann. Bei ihm handelt es sich offenbar um Giwi Targamadze, Parlamentsabgeordneter aus Georgien. Die Stimmen sind schlecht zu verstehen und deshalb untertitelt. Der Georgier berichtet demnach, er habe in London einen aus Russland geflohenen Oligarchen getroffen. Dieser russische Oligarch sei bereit, 50 Millionen US-Dollar für einen Machtwechsel in Russland zu zahlen und bei Freunden weitere 150 Millionen zu besorgen.
"Wir haben auch gute Kontakte zu Tschetschenen. Wir könnten irgendeine gute wirkungsvolle Provokation organisieren. Wir haben eine etwas verrückte Idee. Man könnte doch versuchen, die Macht in Kaliningrad zu übernehmen. Ideal wäre es, an zwei entgegengesetzten Enden des Landes gleichzeitig zu beginnen, in Kaliningrad und in Wladiwostok."
Darauf – angeblich – Udalzow:
"Man sollte es so machen: Kaliningrad, Moskau, Wladiwostok und wenigstens noch ein paar große Städte."
Es ist eine Szene wie aus einem Agentenroman. Georgien und Russland haben 2008 Krieg geführt. Der Präsident Georgiens, Micheil Saakaschwili, ist Putins Lieblingsfeind. Der Abgeordnete Giwi Targamadze aus dem Film zählt zu Saakaschwilis Mitstreitern der ersten Stunde. Er organisierte die Rosenrevolution in Georgien, die Saakaschwili 2003 an die Macht brachte. Friedliche Revolutionen wie die in Georgien sind das Schreckgespenst Putins. Der Sprecher in dem Film schließt in bester Tschekistenmanier, mit dem Appell, wachsam zu sein.
"Daran, dass unsere Opposition aus dem Ausland finanziert wird, ist auch unser Staat schuld, weil er die Augen davor verschlossen hat. Und die Gesellschaft, weil sie das akzeptiert hat. Uns fällt es schwer, zu beurteilen, ob Udalzow bei dem Treffen mit den georgischen Beratern eine Straftat vereinbart hat und ob sein Handeln Hochverrat entspricht. Wir hoffen, das werden kompetente Organe klären."
Die "kompetenten Organe" ließen nicht lange auf sich warten. Vladimir Markin, Sprecher des Ermittlungskomitees, Mitte Dezember in den Nachrichten:
"Wir haben Materialien gesammelt, die belegen, dass Giwi Targamadze die russische Opposition finanziert, dass er eine konkrete Rolle bei der Organisation der Massenunruhen auf dem Bolotnaja Platz gespielt hat und dass er das Handeln der Oppositionsführer beim Marsch der Millionen in Moskau unmittelbar lenkt."
Udalzow bestreitet, Targamadze getroffen zu haben. Der Film sei eine Fälschung. Auch der Georgier weist die Vorwürfe als "Propaganda" zurück. Leute, die Targamadze kennen, meinen, es sei gut möglich, dass der umtriebige Politiker bei einem oder mehreren Glas Alkohol irgendwo von einer Revolution in Russland geredet habe - allerdings eher in einer Weinlaune. Konstantin Lebedew hingegen, Udalzows Mitangeklagter, soll nach mehreren Monaten unter Hausarrest zugegeben haben, dass ein Treffen mit Targamadze in Minsk stattgefunden habe.
Für Präsident Putin steht die Echtheit des Videos außer Zweifel. Er sagte bei seiner Pressekonferenz vor mehreren Hundert Journalisten über Targamadze:
"Er hat versucht - und versucht vielleicht immer noch - Bürger der Russischen Föderation zu illegalen Handlungen anzustacheln, zu Terroranschlägen, zur illegalen Machtergreifung. Ich denke, das wurde sehr überzeugend in den Aufnahmen gezeigt."
Der Film "Anatomie des Protests 2" zog weitere Aktivitäten der Ermittler nach sich. Bald begannen die ersten Durchsuchungen bei Oppositionellen außerhalb Moskaus: Im "Haus der Menschenrechte" in Woronesch, etwa 500 Kilometer südlich von Moskau. Dort sitzen mehrere Menschenrechtsorganisationen unter einem Dach. Viele der dort Beschäftigten waren am 6. Mai am Bolotnaja-Platz. Fahnder aus Moskau durchsuchten ihre Wohnungen und Büros und beschlagnahmten Computer, Flugblätter, Literatur. Sie suchten Beweise für die Vorbereitung der sogenannten "Massenunruhen" am 6. Mai. Das Ermittlungskomitee verbreitete später eine Erklärung:
Im Rahmen der Ermittlungen wurden Beweise dafür gesammelt, dass die Verdächtigen Treffen von Anhängern der Oppositionsbewegung organisiert haben. Und dass sie mit ihnen Seminare durchgeführt haben, deren Ziel es war, sie zur Teilnahme an Massenunruhen zu bewegen.
Sie hätten Papiere gefunden, die belegen, dass eine der Organisationen in Woronesch Geld aus den USA erhalten habe: umgerechnet rund 10.000 Euro, "angeblich", wie es in der Erklärung heißt, für Menschenrechtsarbeit.
Aleksej Kozlow setzt sich in Woronesch für Versammlungsfreiheit und gegen Folter ein. Er schließt aus dem Vorgehen der Ermittler, dass sie nach Personen suchen, denen sie vorwerfen können, sie hätten Geld aus dem Ausland an Udalzow und seine Mitstreiter weiter geleitet.
"Wir haben aber gar keine direkte Verbindung zu diesen Leuten, zu Udalzow, Razwozschajew und Lebedew. Viele wissen natürlich, wer Udalzow ist, er ist nun mal bekannt. Aber ich kenne ihn nicht näher. Und das geht auch den anderen so, deren Wohnungen durchsucht wurden."
Kozlov hält sich zurzeit in Deutschland auf, aus Angst. Er fürchtet, dass er der nächste Angeklagte sein könnte. Er verweist noch einmal auf den Film "Anatomie des Protests 2".
"Dort war von den Regionen die Rede. In den Augen der Ermittler ergibt sich folgendes Bild: Es gibt eine Moskauer Gruppe, die Massenunruhen organisiert. Und es gibt eine Region, in der das gleiche passieren sollte. Dort brauchen sie eine Hauptfigur. Jemanden, der für das alles dort verantwortlich ist."
Kozlow würde in das Bild der Ermittler passen. Er war seinerzeit Mitglied bei Otpor, der Demokratiebewegung in Serbien, die den Diktator Milosevic friedlich aus dem Amt demonstrierte. Und Kozlows Organisation erhält Geld aus dem Ausland, unter anderem von der Heinrich Böll Stiftung. Allerdings nicht für einen Umsturz, sondern für Demokratieprojekte. Einige Bürgerrechtler sprechen bereits von einem bevorstehenden Schauprozess im Zusammenhang mit dem 6. Mai. Sie sehen das Jahr 1937 mit seinem stalinistischen Terror wieder aufziehen. Arsenij Roginskij von der Menschenrechtsorganisation Memorial widerspricht.
"Damals wurden die Menschen zu Zigtausenden umgebracht. Das geschieht nicht. Aber wie damals dient die Justiz auch heute nicht der Wahrheit, sondern der Propaganda der Machthaber."
Und die besteht darin, der Bevölkerung Feindbilder einzupflanzen.
"Das Beste, was Putin tun könnte, wäre, die Hexenjagd rund um den 6. Mai zu stoppen. Das ist doch kein Indikator eines starken Staates, sondern zeugt von Komplexen und Ängsten. Die Wurzeln dessen liegen in der Vergangenheit, die nicht aufgearbeitet ist. In der überholten stalinistischen Vorstellung, das Land sei von Feinden umgeben, und Bürger Russlands würden hier im Auftrag der Feinde als fünfte Kolonne bei Demonstrationen Gewalt ausüben."
Nach Angaben der Behörden stehen die Ermittlungen rund um den 6. Mai kurz vor dem Abschluss.