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Kontrollverlust

Peter Kurzeck erzählt auf "Mein wildes Herz" von seinem Schlaganfall, der ihn 2004 in Frankreich ereilte. Doch geht es dem Autor dabei nicht um Mitleid, sondern um die genaue Beobachtung und die Beschreibung eines Kontrollverlustes.

Von Florian Felix Weyh |
    "Seit einigen Jahren hab ich eigentlich den Wunsch – oder fast den Zwang – gelegentlich einen Satz über Rembrandt in meine Bücher reinzuschreiben."
    Das ist wunderlich, aber kein Grund zu Besorgnis. Zwänge quälen viele Menschen, und Peter Kurzeck – Bewohner des Planeten Chronologos, auf dem die Pflicht zur akribischen Weltverzeichnung herrscht – muss allein schon um seiner Aufgabe als Schriftsteller willen mit einem guten Schuss Rigidität ausgestattet sein. Lebt er in den Wintermonaten im südfranzösischen Uzés, folgen seine Tage daher dem gleichförmigen Rhythmus einer beinahe mönchischen Arbeitsklausur: Aufstehen, kurz im Café einen Espresso nehmen, schreiben, zuweilen Mittagessen in einer der nahegelegenen Städte Nîmes oder Alès, dann wieder schreiben. Es kommt allerdings vor, dass der Dichter von Sonderangeboten abgelenkt wird, zum Beispiel von Wanduhren in Nîmes:

    "Ich ertrage nicht gut, wenn Uhren genau richtig gehen. Bestenfalls bei Funkweckern, wo man das ja nicht ändern kann, die kann man ja nicht vorstellen oder so. Sondern ich will, dass die Uhren vorgehen, aber alle unterschiedlich! Sodass man nicht einfach auf die Uhr schaut und weiß, es ist soundso spät, sondern dass ein Umrechnungsmodus erforderlich ist. Ähnlich wie mit der Währung in einem anderen Land beispielsweise. Und dann dachte ich: Kauf vier oder fünf solche Uhren, jetzt gleich, und die kannst du dann alle um dich herum aufstellen, um deinen Arbeitstisch herum, und das wird dir helfen, mehr zu arbeiten und noch deutlicher – obwohl mir das wehtut eigentlich, schon mein Leben lang – noch deutlicher zu spüren, wie die Zeit vergeht."
    Wie gewohnt bei Peter Kurzecks erzählter Hörliteratur weiß man auch in "Mein wildes Herz" zu Beginn nicht ganz, wohin die Reise geht, wird allerdings durch Signalworte gelenkt. Zeit spielt eine große Rolle, ablaufende Zeit, drängende Zeit, Zeitdruck und Abgabefristen:

    "Und eben: Du hast deine Steuer noch nicht gemacht! Was mich einfach nicht mehr zur Ruhe kommen ließ."

    Und das, man ahnt es mehr und mehr, ist der Gesundheit abträglich. "Mein wildes Herz" schildert einen Schlaganfall, und der ereignet sich im Zusammenhang mit Rembrandt. Dessen Geburtsdatum ist Kurzeck entfallen. Nach langwieriger Suche findet er jenes Büchlein, das ihm darüber Auskunft geben kann. Es ist jener Februartag im Jahr 2004, an dem Peter Kurzeck mit seinem halben Dutzend Uhren aus Nîmes nach Uzés zurückgekehrt ist. Die Dunkelheit senkt sich schon nieder.

    "Und wie ich mit diesem Buch da stehe und anfange es aufzuklappen, um hinten die Zeittafel zu suchen, wird mein linker Arm steif, fängt an zu zittern – so als würde er mir nicht mehr gehören, so konnte ich ihn ansehen –, wird steif, zittert, und ich hatte die Vorstellung, man könnte ihn abbrechen oder er würde von alleine abbrechen und zur Erde fallen."
    Peu à peu erfahren wir die Vorgeschichte der Erkrankung, ein Herzfehler aus einer vor Jahren verschleppten Infektion – diese elenden Lesereisen! –, und fast wie eine Nebensächlichkeit eingestreut vernehmen wir von einer langwierigen Krebserkrankung mit zwei Dutzend Operationen. Es geht Kurzeck nicht ums Lamento, nicht um Mitleid, sondern um Beobachtung, Hinsehen und Hinhören:

    "Das ist schon merkwürdig, so ein Moment dann. Man versucht in sich reinzuhorchen natürlich. Ich konnte die meiste Zeit mein Herz spüren, also seit Tagen, auch den ganzen Winter über schon öfter. Und manchmal eben wirklich so, dass man den Eindruck hat: Das singt wie eine Saite, die gleich reißen wird."
    In Deutschland wäre der Verlauf der Geschichte nun klar: Actionszenen mit Blaulicht und Martinshorn müssten einsetzen, danach folgte der Hightechmedizinbetrieb mit seinen "optimistischen Topfpflanzen" in den Warteräumen, wie es Peter Kurzeck später in einem Frankfurter Klinikum auch noch beschreibt. Doch im ländlichen Frankreich? Dort ticken die Uhren anders, es gibt herumfahrende Landärzte, die sogar das entscheidende Handicap des deutschen Schriftstellers irgendwie umschiffen:

    "Ich kann nicht Französisch, was mir eigentlich keiner glaubt, weil ich seit 15 Jahren da lebe. Aber der Grund, warum ich nicht Französisch kann, ist eigentlich der, dass ich erstens am liebsten mit den Augen lebe, also durch die Wahrnehmung meiner Augen, und das geht besser, wenn man die Sprache nicht kann. Und dass ich gerne wie ein Kind lebe. Eben auch wie ein Kind, das die Sprache nicht braucht oder nicht versteht. Und dass ich außerdem ... wenn man die Sprache nicht kann, kann man nicht behelligt werden, oder fast nicht."
    Unbehelligt sein, um schreiben zu können, bleibt das große Ziel des Eremiten, doch in den zwei eindringlichen Hörbuchstunden mit Peter Kurzeck erleben wir, wie die Welt der Abgeschiedenheit zu bröckeln beginnt. Noch vor den ersten körperlichen Symptomen tropft Wasser aus der Decke des Badezimmers – ein Menetekel, das weit mehr als nur einen physischen Schaden ankündigt, bestimmen doch so fremde Einflüsse übers Leben im Kokon. Und allmählich beschleicht den Hörer die Gewissheit, dass mit der Sprachaufzeichnungstechnologie eine Situation geschaffen wurde, die es eigentlich nicht geben kann: Man lebt mit jemandem zusammen, der sich selbst für jegliches Zusammenleben als untauglich erklärt, ein Einsiedler, dem niemand zuhören könnte, spräche er seine Empfindungen nicht auf CD. Zum Glück tut er das, denn die Nähe auf Zeit bereichert den Zuhörer ungemein. Es ist wie damals, als die Menschen abends noch vor dem Kamin saßen und einem begnadeten Erzähler lauschten.

    "Und einmal hatte ich eine Zeitung, ich glaube den Stern gekauft, worin die verschiedenen - ich weiß nicht - Weltreligionen oder Weltanschauungen verglichen wurden. Wie Autotestberichte ungefähr, welche Vorteile und welche Nachteile sie haben, und da stand Ayurveda dabei, und ich dachte: Ob das etwas für mich ist? So ähnlich, wie wenn man Gebrauchtwagenanzeigen liest. Und dann stand da, dass zu dieser Weltanschauung gehört, dass man übergroßes Leid vermeiden soll, aber auch übergroße Freuden. Weil beides schädlich ist. Und noch während ich dabei war, diesen kleinen Absatz zu Ende zu lesen, dachte ich: Dann ist es nichts für mich! Ohne übergroßes Leid und ohne übergroße Freuden könnte ich es auf der Welt nicht aushalten."

    Mein wildes Herz - Peter Kurzeck erzählt
    Konzeption und Regie: Klaus Sander
    2 Audio-CDs, 120 Minuten
    ISBN 978-3-932513-98-5
    Euro 19,80