Die Aufräumarbeiten in den vom Hochwasser betroffenen Gebieten an der Ahr laufen weiter. Währenddessen laufen aber auch politische und juristische Diskussionen. Cornelia Weigand, Bürgermeisterin der Verbandsgemeinde Altenahr, hatte gemeinsam mit anderen Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern in einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsidentin Malu Dreyer unter anderem einen Sonderbeauftragten der Bundesregierung mit weitreichenden Kompetenzen für das Ahrtal gefordert.
Wissenschaftliches Know-how muss zusammengezogen werden
"Aus unserer Sicht ist es ganz wichtig, dass es auf Bundesebene einen Sonderbeauftragten mit umfassenden Kompetenzen und einem Stab und finanzieller Ausstattung gibt", sagte sie im Dlf. Der Umfang der Lage sei sehr groß und sehr komplex. Es müsse mit Sicherheit auch in die Bundesgesetzgebung eingegriffen werden, unter anderem im Baugesetzbuch, so Weigand weiter. Es müsse wissenschaftliches Know-how aber auch Wissen aus entsprechenden, spezialisierten Unternehmen zusammengezogen werden - und das auf Bundesebene. Die Menschen brauchten akut eine Perspektive. Einige Dörfer hätten immer noch keinen Zugang zu Trinkwasser. Zudem würden viele Häuser über Monate nicht bewohnbar sein, weil es etwa keine Heizung mehr gebe oder die Abwasserversorgung nicht funktioniere.
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) sowie Finanzminister Olaf Scholz (SPD) hatten die Berufung eines nationalen Sonderbeauftragten für den Wiederaufbau hingegen abgelehnt. Es gebe bereits sehr gut funktionierende Strukturen von Bund und Ländern. Diese Aufgabe könnten die Länder vor Ort besser übernehmen, sagte Dreyer am Freitag im Dlf.
Bei einem am Dienstag geplanten Treffen von Bund und Ländern ist der Wiederaufbaufonds Gegenstand von Beratungen. Nach einem Bericht des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" soll er mit mindestens zehn Milliarden Euro ausgestattet werden. Demnach wollten sich Bund und Länder die Summe je zur Hälfte teilen. Das Bundesfinanzministerium plane, den Fonds jedes Jahr nach Bedarf aufzufüllen.
Das Interview im Wortlaut:
Jürgen Zurheide: Was machen Sie heute?
Cornelia Weigand: Wir haben heute unsere Ortsbürgermeister wieder eingeladen zu einer Dienstbesprechung, um ihnen wieder aktuelle Informationen zu geben, von ihnen den Stand der Lage wieder zu hören und wichtige Bedürfnisse und Bedarfe zusammenzuführen und die Akteure auch direkt zusammenzubringen.
"Immer noch ganze Orte, die noch kein Trinkwasser haben"
Zurheide: Wie ist denn jetzt gerade die Lage, Sie haben wahrscheinlich, ja, im Moment jeden Tag, sieben Tage die Woche sind Sie mit den Menschen zusammen und müssen was zuerst tun?
Weigand: Es ist in den Orten relativ unterschiedlich, wir hoffen jetzt, dass wir die letzten Orte innerhalb der nächsten, ich sage mal vorsichtig, ein bis zwei Wochen wieder mit fließend Wasser notdürftig versorgen können. Das heißt, wir haben immer noch ganze Orte, die noch kein Trinkwasser außer aus Flaschen und Tanks haben. Es werden in großen Mengen baufällige Häuser noch abgerissen, es wird entkernt. Es ist immer noch das Thema, besteht die Verpflegung, viele Menschen müssen auch woanders unterkommen, weil klar ist, dass ganze Dörfer auch noch über Monate nicht wirklich bewohnbar sein werden, weil 80, 90, teilweise 100 Prozent der Häuser keine Heizung haben, entkernt sind, nicht bewohnbar sind, die Abwasserversorgung nicht gewährleistet ist und so weiter.
"Menschen benötigen ganz akut auch eine Perspektive"
Zurheide: Das heißt, das sind die ganz aktuellen Dinge, die wirklich mit den Grundbedürfnissen des Lebens zu tun haben. Jetzt versuchen wir, das mal abzuschichten. Sie haben angesprochen, da sind Ortsteile, wo 80, 90 Prozent der Häuser im Moment nicht bewohnbar sind. Erstens, wie kann man überhaupt jetzt die Entscheidung treffen, das muss ja relativ schnell passieren, kann man da sanieren, wiederaufbauen? Wie gehen Sie da vor ganz praktisch?
Weigand: Viele von den Menschen möchten gerne dort bleiben, dort wiederaufbauen. Und die benötigen ganz akut auch eine Perspektive. Das ist natürlich etwas, was wir auf der untersten Ebene gar nicht leisten können. Deshalb sind wir auch hingegangen – zusammen mit unseren Ortsbürgermeistern – mit Herrn Böselager und mir und haben einen offenen Brief an die Kanzlerin und an die Ministerpräsidentin des Landes Rheinland-Pfalz geschrieben mit entsprechenden Hilferufen, Bitten, was aus unserer Sicht jetzt aktuell passieren muss.
Zurheide: Was muss denn passieren?
Weigand: Aus unserer Sicht ist es ganz wichtig, dass es einen Sonderbeauftragten mit umfassenden Kompetenzen und natürlich einen Stab und finanzielle Ausstattung gibt auf Bundesebene, weil der Umfang dieser Lage extrem groß und sehr komplex ist auch weit über Rheinland-Pfalz hinaus. Es muss mit Sicherheit auch in die Bundesgesetzgebung eingegriffen werden – unter anderem im Baugesetzbuch. Es sind Themen wie eine Sonderbauzone, eine Sonderhandelszone notwendig. Und es ist auch wichtig, dass sich bei den Dimensionen, Sie haben es ja auch angesprochen, man muss Wohnen an Flüssen auch neu denken, nicht nur für uns, sondern auch prospektiv für Mitteleuropa. Da braucht es Experten, die auch national und international zusammengezogen werden müssen.
Bauen muss neu gedacht werden
Zurheide: Ich will zunächst mal fragen, wir können wiederaufbauen, ich habe das aus Grimma gelernt, erstens kann man den Hochwasserschutz verbessern, wenn das überhaupt geht, zweitens, wenn man dann wiederaufbaut, muss man die Frage stellen, macht man das überhaupt? Und drittens, wenn man dann wiederaufbaut, muss man möglicherweise anders bauen. Schichten wir das mal ab, wie Sie das gerade sehen: Können Sie mehr Hochwasserschutz machen?
Weigand: Das ist, glaube ich, ein ganz schwieriges Thema. Wir haben uns alle vorbereitet, dazu liefen auch die Hochwasserschutzkonzepte auf ein Jahrhunderthochwasser, vielleicht auch ein Jahrhunderthochwasser plus X Meter. Auch die entsprechenden Evakuierungsstellen sehen dann nachher ein zweihundertjähriges Hochwasser, aber das war nicht die halbe Höhe von dem, was passiert ist. Insofern wird man bis zu einem gewissen Maße Hochwasserschutz machen können, bei einem solchen Ereignis wie dem, was wir am 14. Juli hatten, wird das nicht ausreichen meines Erachtens. Deshalb kommt eben auch das Thema andere Bauformen mit ins Boot, um dann auch Gebäude zu haben, die mit Wassermassen umgehen können, die standhalten können, die Überflutungsbereiche haben. In Küstenregionen, in Asien gibt es das zum Teil, da muss neu gedacht werden, weil wir ja nicht die einzige Flussregion im Mittelgebirge sind, wo sich solche Gefahrenlagen entwickeln können mit dem Klimawandel.
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Zurheide: Jetzt haben Sie gerade gesagt, Sie brauchen da andere Kompetenzen oder der oder die Beauftragte, welche Kompetenzen braucht er, um solche Fragen überhaupt auch schnell beantworten zu müssen?
Weigand: Es muss wissenschaftliches Know-how, aber auch Wissen aus entsprechenden spezialisierten Unternehmen zusammengezogen werden auf Bundesebene und darüber hinaus. Das muss eben in großem Maßstab passieren, das heißt, da müssen auch Gelder freigegeben werden, Prioritäten gesetzt werden, dass sich diese Verbünde überhaupt bilden können. Ich glaube, das Land Rheinland-Pfalz ist aktuell dabei, solche Teams zusammenzustellen, aber auch die werden einige Zeit brauchen, um Know-how in erste grundlegende Überlegungen dazu wirklich zusammenfassen zu können.
"Die Menschen haben jetzt noch die Kraft und den Willen, wiederaufzubauen"
Zurheide: Aber irgendwo beißt sich das doch gerade, Sie haben die Menschen angesprochen, die natürlich verständlicherweise sagen, ich möchte zurück in mein Haus, ich möchte da anfangen zu renovieren, restaurieren, je nachdem, was da ansteht. Auf der anderen Seite müssen diese Grundsatzfragen geklärt werden. Wie kann ich diese sich schneidenden Linien entwirren?
Weigand: Wenn Sie da eine gute Lösung haben, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Aber das ist natürlich das Dilemma, in dem wir stecken, die Menschen haben jetzt noch die Kraft und den Willen, wiederaufzubauen. Dann brauchen eben die zwei Perspektiven, es muss die Aussage geben, ob die Strukturen, ob Infrastruktur wiederaufgebaut wird und damit mit Sicherheit auch ein Zeithorizont. Es sind Teams gebildet, erste Ergebnisse kommen in, ich weiß nicht, vier, sechs, acht Wochen. Die werden diskutiert, dann wird festgelegt, wo kann man bauen, welche grundlegenden Maßnahmen werden jetzt gesehen. Gleichzeitig brauchen auch die Menschen, die an Flüssen ja oft schwierig Elementarschädenversicherungen bekommen, eine gewisse Perspektive, dass wenn ihre gesamte Existenz zerstört ist und oft gleichzeitig noch ihr Arbeitgeber, dass sie Unterstützung bekommen im Wiederaufbau. Ansonsten wird das Tal zum Teil schlussendlich erst mal entvölkert sein, eine wichtige Tourismusregion für das Land Rheinland-Pfalz zerstört sein, das Zuhause von vielen Menschen, die dort teilweise in vielen Generationen leben, einfach weg sein.
"Ein solcher Umfang mitten im Herzen von Europa war nicht denkbar"
Zurheide: Was bringen in diesen Tagen die Besuche der Politikerinnen und Politiker? Wir haben vorhin schon über die Macht der Bilder gesprochen, egal ob die positiv oder negativ sind. Was erwarten Sie von Spitzenpolitikern, die im Moment zu Ihnen kommen, oder sagen Sie, die sollten ihren Job lieber woanders machen im Moment?
Weigand: Ganz im Gegenteil, ich lade sie ganz herzlich ein, zu kommen, weil Bilder und auch Videoaufnahmen nicht ansatzweise wiedergeben, wie extrem zerstört es tatsächlich ist. All die Menschen, die zu uns kommen, da sind auch Katastrophenhelfer dabei, die in ganz anderen Teilen der Welt, sei es in Haiti oder in Thailand oder Kriegs- und Krisengebieten unterwegs waren, die kommen zu uns, die kommen aus dem Tal hoch und die sind geschockt, weil sie einen solchen Umfang, wie uns das auch geschildert wird, noch nicht erlebt haben, und weil ein solcher Umfang mitten im Herzen von Europa war nicht denkbar. Insofern gibt jedes Bild davon die Realität nicht annähernd wieder.
Zurheide: Jetzt gibt es in der kommenden Woche auch wieder Sitzungen der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin. Was erwarten Sie da, es gibt auch Gespräche da dann jeweils mit dem Chef der Staatskanzleien Rheinland-Pfalz und dem Chef des Bundeskanzleramtes. Was erwarten Sie als konkrete nächste Schritte?
Weigand: Das eine ist mit Sicherheit die Festsetzung von entsprechenden Sonderfonds zur Unterstützung des Wiederaufbaus. Da betrifft es ja sehr stark das Ahrtal, aber auch nicht nur das Ahrtal. Das zweite Thema ist tatsächlich auch, die ersten Weichen zu stellen, dass klar ist, man muss in die Bundesgesetzgebung eingeben, Baugesetzbuchänderungen, über eine Sonderhandelszone nachdenken. Wenn ich Aufbausummen im zweistelligen Milliardenbereich brauche, dann ist es, glaube ich, opportun, davon gleich die Mehrwertsteuer wieder abzunehmen. Es braucht den Aufbau von Experten vor Ort, auch dort wird es entsprechend Power geben muss, Unternehmen geben müssen, Wiederaufbaugesellschaften geben müssen, die mit Fachpersonal bestückt sind. Insofern bedarf es auch einer Weichenstellung zur Priorisierung, dass gegebenenfalls Landes- und Bundesbaustellen, die warten können, nach hinten priorisiert werden und sowohl Arbeitskraft als auch Material und Know-how in die Krisengebiete fokussiert wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.