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Kopf und Zahl

Woher kommt die Mathematik? Nach Platon sitzt sie in einer Ideenwelt, und wir Menschen können uns bemühen, Teile von ihr zu erkennen. Evolutionsforscher hingegen sagen, die Orientierung im Raum und das Abschätzen von Mengen habe sich im Laufe der Entwicklung der Arten als Vorteil erwiesen. Wie aber kommt es, dass manche Menschen im Kopf Wurzeln aus hundertstelligen Zahlen ziehen können, während die Mundurucu-Indianer im Amazonas-Gebiet nur bis vier zählen und sich darüber hinaus mit groben Schätzungen zufrieden geben?

Von Jan Lublinski | 24.12.2008
    "Können sie mich denn alle gut verstehen? Auch in den hinteren Reihen? Ich fange mit ganz leichten Aufgaben an. Und vielleicht ist jemand so nett und rechnet diese Aufgaben am Computer mit."

    "Ganz spontan, wer traut sich zu eine zweistellige Zahl zu sagen. 91 – 8281. Ich nehme an, dass manche das schon im Kopf nachgerechnet haben. Man zieht von 10.000 9 mal 200 ab hat 8200 und addiert 81 zum Beispiel. Aber man kann auch über 90 Quadrat rechnen. Das ist Geschmacksache im Grunde genommen."

    Gert Mittring ist Kopfrechenweltmeister. Er führt seine Künste auf einer Betriebsfeier der Cundus AG vor, einem Computer-Dienstleistungsunternehmen in Duisburg. Zunächst quadriert er Zahlen, die er sich aus dem Publikum zurufen lässt.

    "Machen wir eine vierstellige zum Quadrat mal. Aus Spaß. Ich hab 4396 verstanden."

    Mittring schreibt die Zahl 19.324.816 auf ein Flipchart.

    "Stimmt! – Ach, Sie haben das mit dem Handy mitgerechnet. Das ist ja phantastisch."

    Die Aufgaben, die Mittring löst, werden immer schwerer. Auf einer Leinwand können die Zuschauer die Rechnungen verfolgen, die einer ihrer Kollegen zur gleichen Zeit auf einem Computer ausführt. Mittring hat seine Ergebnisse in der Regel schneller.

    "Der Rechner, ja, da wird noch gerechnet. Wir können…"

    Mathematik, Griechisch: Die Kunst des Lernens. Zahlen und Geometrie, Maß und Raum. Konzentration auf das Wesentliche: Die Zahl 3 unabhängig davon zu sehen, ob es sich gerade um drei Bleistifte, drei Autos oder drei Fliegen handelt. Ein nützliches Werkzeug für den Alltag, ein abstraktes Spiel. Aber auch: Eine besondere Wahrheit, verborgen hinter den sichtbaren Objekten. Woher aber kommt sie, die Mathematik? Nach dem griechischen Philosophen Platon sind die Zahlen in einer Ideenwelt beheimatet, die Menschen können sie zumindest teilweise erkunden. Doch Evolutionsforscher und Kognitionswissenschaftler sehen das heute anders.

    "The research findings have shown we all share this number sense."

    Stanislas Dehaene, Neurowissenschaftler am französischen Forschungszentrum CEA in Saclay.

    "Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass wir einen ‚Zahlensinn‘ haben: Das heißt, wir haben die Möglichkeit, eine Anzahl von Objekten zu erkennen und sehr einfache Rechnungen durchzuführen: Addition, Subtraktion, Vergleich. Dies sind sehr grundlegende Fähigkeiten, mit denen man geboren wird. Wir finden sie in den ersten Monaten des Lebens, aber auch bei Tieren. Es ist so eine Art Starterkit für Mathematik."

    "So there you can see, that the monkey is drinking juice. There the monkey is making the choice. There is the start response, now the first array... second array... and now the choices. You can see the monkey is really fast, so it’s hard to even narrate it…"

    Elisabeth Brannon führt in ihrem Büro an der Duke-University im US-Bundesstaat North Carolina ein Video vor: Zu sehen sind die beiden Rhesus-Affen Boxer und Feinstein, die auf einem Bildschirm herumtippen. Sie spielen ein Computerspiel - und lösen dabei einfache Additionsaufgaben. Brannon hat Mühe, die Bilder zu kommentieren, so schnell läuft alles ab:

    "Wir wollten wissen, ob die Affen zwei Punktmengen addieren können. Wir zeigten ihnen also ein erstes Bild mit einer bestimmten Anzahl roter Punkte, eine halbe Sekunde später dann ein zweites mit weiteren Punkten. Wieder eine halbe Sekunde später hatten die Affen dann die Wahl zwischen zwei Punktmengen als möglichen Summen. Jede richtige Antwort wurde mit einem Schluck Fruchtsaft belohnt. Jede falsche ließ den Bildschirm eine Zeit lang schwarz werden."

    Ergebnis: In 75 Prozent der Fälle haben die Affen korrekt geantwortet. Elisabeth Brannon hat auch ihre Studenten gebeten mitzuspielen, als Kontrollgruppe. Sie waren im Durchschnitt ein wenig besser als die Affen, mit 95 Prozent der richtigen Antworten. Allerdings wurden die schlechteren Studenten von den begabteren Affen übertroffen.

    "Die Affen lösen das Problem allerdings anders als Sie oder ich das tun würden. Wenn wir zwei Zahlen zusammen zählen sollen, wissen wir die richtige Lösung entweder sofort oder wir können sie ausrechnen. Affen wählen nur dann meistens die richtige Summe, wenn diese sich deutlich von der falschen Antwort unterscheidet. Wenn sie bei der Addition von fünf und sechs zwischen zwölf und der korrekten Antwort elf wählen müssen, liegen die Affen fast so häufig daneben, als wenn sie nur raten würden. Wie viele andere Tierarten haben sie also nur ein approximatives Zahlenverständnis."

    Ratten können Mengen vergleichen. Tauben, Salamander und viele andere Tiere ebenso. Schimpansen können sich darüber hinaus auch Ziffernfolgen als Kette von Mustern gut einprägen, Additionen im Zahlenraum bis 8 ausführen - wenn sie jahrelang trainiert werden. Der Mensch hat einen entscheidenden, weiteren Schritt genommen. Er hat für seine Zwecke Symbole entwickelt, die für Mengen stehen. Bereits bei den Höhlenzeichnungen sind sie vorhanden. Die Sumerer und Babylonier nutzten schon ein komplexes System aus Zahlzeichen. Sie ritzten 3000 vor Christus Kreditzinsen, Quadrate und höhere Potenzen in feuchten Ton. Später die Chinesen, die Ägypter, die Griechen. Ziffern, Symbole, Formeln. Mitteilbar von Mensch zu Mensch. Angelegt im Gehirn, mitteilbar durch Sprache und Kultur. Dehaene:

    "Die Menschen haben zusätzlich zum approximativen Zahlen-Sinn ein symbolisches System für Zahlen entwickelt. Wir haben auch Wörter für Zahlen, zum Beispiel ‚elf‘ oder ‚zwölf‘. Das ist eine erstaunliche Erweiterung, denn mit dem Zahlen-Sinn können wir nicht zwischen ‚elf‘ und ‚zwölf‘ unterscheiden. Kein Tier kann das. Aber wir sind dazu in der Lage, weil wir eine Arithmetik entwickelt haben, mit der wir Zahlen als Symbol und auch als Menge begreifen können. Beides verknüpfen wir ständig in unserem Gehirn."

    Weit ab von der westlichen Zivilisation, im brasilianischen Amazonas-Gebiet leben die Mundurucu-Indianer. Ihr Wortschatz für Zahlen ist sehr begrenzt. Lediglich für die Zahlen 1, 2, 3, und 4 gibt es in ihrer Sprache ein Wort. Statt der 5 kommt dann eine Zahl, die wortwörtlich übersetzt "Hand voll" heißt. Sie umschreibt Mengen von vier bis acht Objekten. Danach kommt "zwei Handvoll" und auch das ist eine ziemlich vage Mengenangabe. Dehaene:

    "Interessanterweise können sie diese Zahlen nicht abzählen: Also sie können nicht sagen: ‚1, 2, 3, 4, 5‘. So wie wir das machen – Trotzdem haben unsere Untersuchungen ergeben, dass die Mundurucu eine sehr ausgeprägte Wahrnehmung für Zahlen haben."

    Gemeinsam mit dem Pariser Linguisten Pierre Pica, der regelmäßig zu den Mundurucu reist, hat Stanislas Dehaene sich verschiedene Tests ausgedacht, um das Mathematik-Verständnis dieser Ureinwohner zu untersuchen:

    "Wir haben ihnen eine waagerechte Linie gezeigt. Am linken Ende der Linie war ein Punkt zu sehen und am rechten Ende befanden sich zehn Punkte. Und dann gaben wir ihnen eine bestimmte Zahl dazwischen – entweder in Worten oder non-verbal, zum Beispiel mit einer Anzahl von Steinen. Und die Mundurucu mussten uns dann zeigen, wo auf der Linie diese Anzahl hingehört. Dabei stellte sich heraus: Sie haben keine lineare Vorstellung von den Zahlen sondern eine logarithmische."

    Das heißt je größer die Zahlen werden, desto näher liegen sie für die Mundurucu beieinander. Die 5 liegt nicht in der Mitte zwischen 1 und 9 sondern eher bei der 9. Denn sowohl 5 als auch 9 sind für sie schon recht viele Steine. Für diese Zahlenauffassung hat Stanislas Dehaene eine neurowissenschaftliche Erklärung parat: Wir haben in unserem Gehirn bestimmte Neuronengruppen, die sofort feuern, wenn wir eine bestimmte Anzahl von Objekten sehen:

    "Es gibt sehr viele Neuronen, die auf die Zahl 1 warten und dann feuern. Andere reagieren auf 2, wieder andere auf 3. Aber je größer die Zahlen werden, desto unschärfer wird die Reaktion. Ein Neuron, das am stärksten bei 5 reagiert, tut dies auch bei 4 und bei 6. Und je größer die Zahlen werden, desto breiter gestreut ist diese Reaktion."

    Bei Kindern in westlichen Kulturen lässt sich die gleiche Unschärfe beobachten wie bei den Mundurucu. Je größer die Zahlen werden, desto ungenauer erkennen sie diese. Erst im Laufe der Zeit lernen sie, Zahlen direkt mit einer linearen Raumvorstellung zu verknüpfen. Diesen Zusammenhang stellen sie irgendwann automatisch her: Kleine Zahlen ordnen sie im Geiste links an, und große Zahlen rechts. Es ist also die Verknüpfung von Raum und Zahl, die für unser Verständnis von Mathematik entscheidend ist. Sie wird kulturell geprägt.

    1-1 plus 1-1 ist gleich 1-5. Die Römer eroberten die Welt, doch mathematisch standen sie still. Zwei plus Zwei ist gleich eins weniger als fünf: Schon das Multiplizieren mit römischen Ziffern - ein Ding der Unmöglichkeit. Zuvor waren auch die Griechen an ihre Grenzen gestoßen: Ihnen fehlte die Zahl Null. Erst die Inder, Experten der Leere und des Nichts, erkannten die Bedeutung: Die Zahl Null, im 5. Jahrhundert nach Christus, ein historischer Durchbruch. Die Ziffern von 0 bis 9 als Stellenwertsystem. Eine Revolution im Kopf, die sich um den Globus ausbreitet, weitergegeben von Generation zu Generation. Das Rechnen auch mit großen Zahlen wird denkbar.

    "Vier Milliarden Sechshundert, Nein,... usw. usw... 67941 soll das darstellen."

    Auf der Betriebsfeier der Cundus AG geht Gert Mittring zum Wurzelziehen über. Er lässt den Mitarbeiter am Computer eine Zahl hoch drei nehmen und rechnet dann umgekehrt – bildet also die dritte Wurzel im Kopf. Und auch die 7. Wurzel macht ihm keine große Mühe.

    "Er rechnet, 57.400 könnte ganz gut sein. Jetzt ist die Frage: Wie viel könnte da noch sein? Mal überlegen. Jetzt bin ich echt am Überlegen. Doch das könnte zutreffend sein. 185193 19112 - Ja ich meine, das scheint richtig zu sein."

    "Es handelt sich einmal um einen Menschen, der hochbegabt ist. Das heißt also, der problemsensitiv ist. – Die meisten von uns kämen gar nicht auf die Idee, sich das Lösen einer 137. Wurzel aus einer 1000stelligen Zahl zum Problem zu machen. Das heißt, er ist sensibel auf bestimmte Probleme und entwickelt dann bereichsspezifische Lösungen."

    Klaus-Martin Klein, Psychologe von der Universität Siegen.

    "Der zweite Punkt ist eben der, dass er aufgrund seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit Zahlen, täglichen, stündlichen vielleicht sogar minütlichen, wir wissen es nicht – er rechnet mit Autokennziffern, mit Hausnummern, dass er da im Bereich des Arbeitsgedächtnisses eine Erweiterung hat, die deutlich größer ist als die normaler Probanden, wie Du und ich sozusagen."

    Wurzeln, Logarithmen. Beweisverfahren, Computeralgorithmen. Einsichten und Rechenwege, erkundet, bewiesen, eingeübt. Seit die Inder ihre neuen Ziffern erfanden, und mit ihnen die Null, ist auch das abstrakte Rechnen ohne geometrische Verknüpfung kein Problem mehr. Algebra wird plötzlich möglich. Abstrakte Objekte, Wechselbeziehungen von Zeichen, Variablen im Kopf. Dynamische Verschaltungen im Hirn.

    Etwas Abseits des Campus des Forschungszentrums CEA in Saclay bei Paris steht ein neues Gebäude namens "Neurospin". Weite Hallen, viel Glas, großzügige, etwas kalte Stahlbau-Architektur in Dunkelgrau. Hinter einer Stahltür befindet sich derzeit noch eine Baustelle, groß wie eine Turnhalle. Hier soll ein gigantischer Magnet genau hineinpassen. Er wird eine Feldstärke von elf Tesla haben und damit der größte seiner Art sein. Dehaene:

    "This is the place of the future 11 Tesla magnet. This will be the most powerful human magnet in the world."

    In der Mitte des Magneten werden bald Probanden liegen, und ihre Gehirnaktivitäten sollen dann in bislang ungeahnter Qualität aufgelöst werden. Die Hirnforscher wollen mit dieser Maschine zusehen, wie einzelne Bündel von Neuronen ihre Botschaften weiterleiten. Wie die einzelnen Hirnareale zusammenarbeiten, um Mathematik zu machen. Dehaene:

    "It begins to be big science. I used to do psychology with pencil and paper – and patients."

    Die Neurowissenschaft werde langsam zur "Big Science", zur Großgeräteforschung, meint Dehaene. Dabei habe er doch ursprünglich als Psychologe mit Bleistift, Papier und Patienten begonnen, erinnert er sich. Patienten nach einem Schlaganfall, die nicht mehr richtig rechnen können und deren Situation Aufschluss darüber gibt, welche Teile des Hirns gebraucht werden – für die Mathematik.

    Schlaganfall. Nach starken Blutungen im Hirn arbeiten einzelne Areale nicht mehr wie früher. Dehaene:

    "Die linke Seite des Gehirns beinhaltet mehr sprachliche Repräsentationen als die Rechte."

    Die Patienten können nicht mehr richtig sprechen – und auch nicht mehr richtig rechnen. Dehaene:

    "Auf diesem Diagramm sehen wir die Bereiche, welche die Identität einer bestimmten Ziffer erkennen. Also zum Beispiel die Form der Ziffer 5."

    Patientin P. weiß nicht mehr, wie die Zahlen heißen. Sie sagt 7 minus 2 ist gleich 9, oder 2 oder 11. Jede Zahl scheint ihr möglich. Gibt man ihr aber mögliche Ergebnisse vor, so nickt sie bei 5, der richtigen Zahl. Sie rechnet, ohne sprechen zu können. Dehaene:

    "Ebenfalls in der linken und rechten Hirnhälfte: Systeme zur Darstellung von Mengen, hier können Zahlen subtrahiert oder verglichen werden."

    Patient N. gibt die Ergebnisse von Additionen nur noch Schätzungsweise an. 2 plus 2 ist für ihn 3 oder 4 oder 5. Aber niemals 9. Er rechnet im Ungefähren. Dehaene:

    "Aber wenn es um Fakten geht wie Multiplikation, dann nutzen wir in erster Linie die sprachliche Repräsentation in der Linken Hirnhälfte."

    Patientin M. kann die Multiplikationstabellen noch auswendig: 3 mal 9 ist 27, 4 mal 9 ist 36 und so weiter. Aber sie hat keine Ahnung, was 4 minus 2 ist. Sie hat den Zahlensinn verloren.

    Einzelbeobachtungen an Patienten, die Experimente im Kernspintomographen, andere bildgebende Verfahren, Untersuchungen an kleinen Kindern, an Tieren - Stanislas Dehaene stellt all diese Informationen und Einsichten zusammen und bündelt sie in neurowissenschaftlichen Modellen. Er schreibt Formeln auf, mit denen er die Mathematik im Gehirn berechnet. Er will verstehen, wie die Mathematik im Kopf entsteht.

    "Das Verhältnis von Bewusstem und Unbewusstem ist in diesem Zusammenhang sehr interessant. Wenn unser Gehirn Information aus verschiedenen Bereichen zusammensetzt, braucht es Bewusstsein. Man könnte auch sagen: Das Bewusstsein besteht gerade darin, verschiedene Informationen in neuer Weise zu kombinieren und zu verarbeiten."

    Dehaene feilt seit vielen Jahren an einer Theorie des menschlichen Bewusstseins, die sich "globaler Arbeitsraum", englisch "Global Workspace" nennt. Nach diesem Ansatz, der von verschiedenen in Hirnforschern in unterschiedliche Richtungen weiterentwickelt wird, kann man sich das Bewusstsein als eine Art Windows-Desktop im Kopf vorstellen. Die Abfolge unseres bewussten Denkens und Handelns wird von hier aus gesteuert, es werden Inhalte und Vorgänge aufgerufen und nach und nach abgearbeitet. Voraussetzung dafür sind verschiedene Systeme im Gehirn, die ständig unbewusst vor sich hin arbeiten und quasi darauf warten, in den globalen Arbeitsraum geholt zu werden. Geschieht dies, so können Informationen und Prozesse aus verschiedenen Bereichen verknüpft und konzentriert bearbeitet werden.

    So lange einzelne Bereiche des Gehirns ihre Arbeit allein erledigen können, tun sie das unbewusst. Ein Beispiel dafür ist der Vergleich von Zahlen. Wenn man zum Beispiel Testpersonen zwei Zahlen für extrem kurze Zeiten zeigt, ohne dass sie diese bewusst wahrnehmen, wird doch ein Zahlenvergleichs-Prozess im Gehirn gestartet. Wenn es aber darum geht, diese Information mit anderen zu kombinieren, braucht es den globalen Arbeitsraum, also bewusste Verarbeitung. Ist aber solch ein Vorgang abgeschlossen, verschwindet er aus dem Bewusstsein. Er wird, für die weitere Verarbeitung in Bereiche verschoben, wo Prozesse eher automatisch ablaufen. Der globale Arbeitsraum ist dann wieder frei für noch komplexere mathematische Prozesse.

    "Ja ich meine, das scheint richtig zu sein."

    Kopfrechnen in Sekundenbruchteilen: Arbeitsteilung, schnelle Kommunikation. Die Systeme für Zahlenmengen und Raumvorstellung werden zusammengeschaltet. Dazu arabische Ziffern, gesprochene Sprache. Operationen werden ausgeführt, geprüft, Zwischenergebnisse bereit gehalten. Der globale Arbeitsraum steuert, verarbeitet und ordnet ein. Schnelle, unbewusste und bewusste Vorgänge, ermöglicht durch Anlagen im Hirn, erweitert durch die mathematische Kultur, verfeinert durch besondere Begabung und - Training.

    Gert Mittring, der Rechenkünstler, nimmt sich an diesem Abend immer längere Zahlenkolonnen vor, aus denen er die Wurzel berechnet. Der Computer, auf dem seine Rechnungen parallel geprüft werden, geht dazu über, die großen Zahlen nicht mehr ganz genau, mit allen Stellen, sondern nur noch mit Zehnerpotenzen und dem Buchstaben E anzuzeigen. Und das erweist sich als Problem. Mittring:

    "Also es ist in der Größenordnung von 4600. Da muss ich jetzt die Gradienten hochrechnen. 47. Primzahl, kann man nichts machen. Ich versuche jetzt über logarithmische Approximation. Es ist auf jeden Fall unter 4700. Es scheint auf jeden Fall nicht richtig zu sein. Es ist auf jeden Fall eine zurückhaltende Äußerung da."

    Das Publikum leidet mit ihm. Je länger er nachrechnet und sich korrigiert, desto auswegsloser wird seine Lage.

    "Im Zweifelsfall ist das hier bei uns ein kleiner Wackler im Taschenrechner. Neinnein. Es ist mir peinlich. Vielleicht können wir nochmal ein anderes Beispiel probieren, aber das habe ich noch nie erlebt. Das ist das gewesen hier. Statt 6 hab ich 7 hingeschrieben."

    "Ja, das ist natürlich auch eine Methode, die ich noch nie in der Form so angewendet habe. Normalerweise, wenn ich die großen Wurzeln rechne, habe ich Spezialstrategien, die konstruiere ich dann und dann wäre es mir auch möglich, mehrstellige Lösungen zu finden. Hier habe ich das Problem, dass ich keine Endziffernhilfe habe, das heißt, ich habe nur die Chance über die Anfangsziffern eine grobe Abschätzung zu finden. Da habe ich keine weiteren Hilfsmittel zur Hand. Das muss man nochmal an dieser Stelle sagen."

    Gert Mittring, studierter Informatiker, promovierter Pädagoge, promovierter Psychologe. Er betreibt eine eigene Praxis, in der er Kinder bei Verdacht auf Hochbegabung berät. Liest gern Krimis, reist viel - und er hat sich an wissenschaftlichen Untersuchungen beteiligt, in denen Psychologen versuchten, seiner Rechenkunst auf den Grund zu gehen. Jürgen Bredenkamp und Klaus-Martin Klein wollten wissen, was sich in Mittrings Kopf abspielt. Worin liegt seine besondere Begabung und Leistung? Was unterscheidet sein Rechenvermögen von dem anderer Menschen? Die Wissenschaftler ließen sich am psychologischen Institut der Universität Bonn zunächst seine Rechenstrategien im Detail erklären. Dann beobachteten und prüften sie diese mit einer Vielzahl von psychologischen Tests. Klein:

    "Es stellte sich dann heraus dass Gert Mittring keineswegs immer zu einer richtigen Lösung kommt. Häufig, aber nicht immer. Das heißt also, dass es Fehler gibt. Und dann stellte sich heraus, dass er bei verschiedenen Problemen – im Gegensatz zum Computer – unterschiedlich lange braucht. Mal ein paar Sekunden mehr, mal ein paar Sekunden weniger."

    Die Untersuchungen konzentrierten sich dann auf eine außergewöhnliche Leistung, die Mittring immer wieder gelingt: Die 137. Wurzel aus einer 1000stelligen Zahl. Mittring zerlegt dieses von ihm selbst gewählte Problem in mehrere Teile. Zunächst einmal stehen die ersten beiden Ziffern der achtstelligen-Lösung von vornherein fest: Die Lösungszahl beginnt immer mit 1 und 9, also 19 Millionen. Die letzten drei Ziffern kann Mittring über die Anwendung von festen Rechenregeln finden. Damit sein Gedächtnis nicht allzu sehr belastet wird, nutzt er eine geringe Zahl von Rechenschritten, die er immer wieder und sehr schnell hintereinander anwendet. Klaus-Martin Klein hat diese Operationen in einem Baum-Diagramm aufgezeichnet, das über mehrere Seiten geht. Klein:

    "Er kann zum Beispiel mit einer Aufgabenendung konfrontiert werden und muss dann zweimal ein Regel C anwenden, dann die Regel A dann die Regel B. Oder eine andere Aufgabenstellung zwingt ihn vier Mal die Regel C anzuwenden, dann erst die Regeln A und B. Das ganze kann man eben statistisch testen, das heißt, wir haben Untersuchungen gemacht, bei denen er gezwungen wurde, diese Regeln anzuwenden, haben Reaktionszeiten gemessen, und konnten anhand eines bestimmten statistische Modells testen, wie viel Zeit er braucht."

    Besonders anspruchsvoll ist der letzte, abschließende Schritt: Um auch noch die mittleren drei Ziffern der Lösungszahl zu ermitteln, nutzt Mittring eine Findestrategie, eine sogenannte Heuristik: er schätzt ab, rät und macht schnelle Kontrollrechnungen. Klein:

    "Und bei den Untersuchungen, die sehr kompliziert waren, stellte sich dann heraus, dass hier die größten Belastungen des Arbeitsgedächtnisses vorlagen. Das waren dann auch Prozesse, die die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses überforderten und dann auch Fehler produzierten. Die Fehler kann er zum Teil noch auffangen, weil er bestimmte Prüf-Algorithmen eingebaut hat. Zum Teil eben aber auch nicht."

    Mittring:

    "Also die Zeit darf nicht zu lange dauern, es darf das Gedächtnis nicht zu sehr belasten, ich nenne das ‚gedächtnisökonomisch‘ und es muss relativ sicher sein. Aber dadurch, dass es ganz kurz ist, ganz wenig Schritte enthält, kann es auch mal sein, dass ich mich vertue. Weil ich eben nur Grobschätzungen einfließen lasse. Da kann es dann passieren, dass ich nicht immer die richtige Lösung finden muss. Zum Beispiel würde ich dann einen Nachbarn, einen Lösungsnachbarn treffen. Die Gefahr ist natürlich bei so einer Methode dann da."

    Das Geheimnis von Mittrings Rechenkunst, besteht also in einer Kombination aus mehreren Faktoren: Einer außergewöhnliche Begabung im unbewussten und bewussten Umgang mit Zahlen, tägliches Training, sowie geschickten Strategien für spezielle Probleme. Am Ende der Untersuchungsreihe wussten die Bonner Psychologen sogar ein wenig genauer über Mittrings Rechenwege Bescheid als er selbst. Es stellte sich heraus, dass Mittring in den anspruchsvolleren Rechenabschnitten sich selbst oft nicht mehr so ganz bewusst ist, was sich alles in seinem Kopf abspielt. Sie gaben ihm daraufhin Tipps, wie er sein Verfahren verbessern konnte. Und prompt stellte der Rechenkünstler einen neuen Weltrekord auf. Klein:

    "Das heißt, er hat Regeln entwickelt, mit denen er das Arbeitsgedächtnis entlasten kann. Fehler vermeiden und Zeit reduzieren kann. Was dann dazu geführt hat, dass sein Problem – 137. Wurzel aus einer 1000stelligen Zahl, das damals in 50 Sekunden bewältigt werden konnte - in etwas über 13 Sekunden bewältigen konnte. Das heißt also, er hat sein Verfahren aufgrund unserer Ergebnisse optimieren können."

    Mathematik, Griechisch: Die Kunst des Lernens. Zahlen und Geometrie, Maß und Raum. Ein Werkzeug für den Alltag, ein Spiel mit Zeichen und logischen Schlüssen. Eine Herausforderung für begabte und weniger begabte Menschen. Eine maßgebliche Leistung unserer Kultur. Aber auch: Eine besondere Wahrheit, verborgen hinter den sichtbaren Objekten? Stanislas Dehaene:

    "I think we should reserve the term ‚number‘ for this construction in the brain or in the mind of animals and humans."

    Der Neurowissenschaftler Stanislas Dehaene ist der Ansicht, der Begriff der Zahl sollte ausschließlich für das benutzt werden, was in den Hirnen von Tieren und Menschen konstruiert wird. Die platonische Vorstellung vieler Mathematiker, nach der die Welt der Zahlen und Formeln eine Ideenreich ist, hält Dehaene für eine Illusion.

    "Ich denke, die Zahlen sind Schöpfungen unserer Hirne. So wie auch die Farben. Sie helfen uns, Objekte zu unterscheiden. Wenn wir sagen, die Mathematik ist universell gültig, dann lassen wir ihre Geschichte außer acht. Die komplexen Zahlen, zum Beispiel, waren lange Zeit nicht allgemein anerkannt. Die Leute stritten sich um sie, viele fanden die Wurzel aus minus 1 lächerlich - aber irgendwann stabilisiert sich dann die Mathematik als kulturelle Konstruktion. Sie ist also nur universell in dem Sinne, dass wir alle die gleichen kognitiven Möglichkeiten und das gleiche Gehirn haben."

    Der große Mathematiker Leopold Kronecker sagte Ende des 19. Jahrhunderts: "Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, der Rest ist Menschenwerk." – Dehaene hingegen sieht hier nur Menschenwerk. Die Zahlen und Formeln sind den menschlichen Gehirnen entsprungen, sie sind ein Produkt der Evolution und der Kultur. Die meisten Mathematiker wiederum würden Dehaene widersprechen, sie betrachten sich nicht als Erfinder ihrer Gleichungen und Beweise sondern als deren Entdecker. Sie sehen in den Zahlen und den Strukturen der Mathematik etwas Universelles, etwas, was unabhängig vom Menschen existiert. Dehaene:
    "Das ist wohl auch eine Illusion, die das Gehirn schafft. Denn wenn man ein Top-Mathematiker sein will, dann muss man sich die mathematischen Elemente als möglichst real und konkret vorstellen. Man muss die ganze Wahrnehmung im Gehirn darauf abstimmen, die mathematischen Objekte intuitiv zu begreifen, als etwas, mit dem man jonglieren und spielen kann."

    Aber dieses Argument lässt sich auch umdrehen: Wenn die Psychologen und Neurowissenschaftler ihre Experimente und Theorien entwickeln, müssen sie daran glauben, dass alles Geistige und Psychische im Menschen sich als Eigenschaft des Gehirns erklären lässt, dass Mathematik nichts weiter ist als eine Verschaltung von Nerven.

    Woher kommt die Mathematik? Zahlen und Geometrie, Maß und Raum. Logisches Schließen. Ein Werkzeug, ein Spiel. Eine besondere Wahrheit, konstruiert Laufe der Evolution und der kulturellen Entwicklung. Oder doch: eine besondere Wahrheit, verborgen hinter den sichtbaren Objekten. Mathematik, griechisch: Die Kunst des Lernens. Gert Mittring:

    "Das Wesentliche, ganz wichtig ist, dass es mit Freude und Spiel zu tun hat. Strategische Betrachtungen wie kann man das Ganze so elegant, so einfach wie möglich machen."