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Kopftuch-Urteil
"Ich verstehe auch die ganzen Jubelschreie nicht"

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegen ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrerinnen bezeichnete Lale Akgün als "leider kein weises Urteil". "Eine Lehrerin mit Kopftuch ist für mich nicht mehr religionsneutral", sagte die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete im DLF. Solch ein Gesetz werde die Gesellschaft weiter polarisieren.

Lale Akgün im Gespräch mit Thielko Grieß |
    Die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün.
    Die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün kritisiert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum pauschalen Kopftuchverbot. (imago / Horst Galuschka)
    "Ich fürchte, die Richter haben ein Urteil gefällt, weil sie meinen, sie müssten nun auch auf den Zug aufspringen, dass der Islam zu Deutschland gehöre", sagte Lale Akgün. Das Kopftuch sei einst vom politischen Islam bewusst als Zeichen des Islam konstruiert worden, erklärte die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete, die selbst dem muslimischen Glauben angehört. "Es war nie das Symbol einer normalen gläubigen Frau." Die deutsche Gesellschaft habe sich aber daran gewöhnt, nur die Frauen mit Kopftuch als Muslimas zu erkennen. Das Schema "ohne Kopftuch kein Islam" bezeichnete Akgün als weit verbreiteten Denkfehler.
    Das Kopftuch werde in erster Linie nicht getragen, um sich als Muslimin erkennen zu geben, sondern - zurückzuführen auf den Koran - um sich vor den Blicken der Männer zu schützen. Insofern gehe es bei dem Kopftuch "immer darum, die Frau aus der Gesellschaft irgendwie auszuschließen."
    Eine mit Kopftuch unterrichtende Lehrerin bezeichnete Akgün als "nicht mehr religionsneutral".

    Das Interview in voller Länge:
    Thielko Grieß: Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat sich gestern korrigiert. Bundesländern ist es künftig nicht mehr erlaubt, ihren Lehrerinnen pauschal zu untersagen, ein Kopftuch zu tragen. Das sei ein unzulässiger Eingriff in die Glaubensfreiheit der Beamtinnen. Das Bundesverfassungsgericht hatte vor zwölf Jahren noch anders geurteilt und es den Bundesländern freigestellt, so ein Verbot auszusprechen. Nun aber sollen pauschale Verbote nur noch dann zulässig sein, wenn der Schulfrieden konkret gefährdet werde. Ebenso, meinen die Richter in Karlsruhe, ist es künftig unzulässig, christliche Symbole in irgendeiner Weise zu bevorzugen. Am Telefon begrüße ich jetzt Lale Akgün, ehemalige Bundestagsabgeordnete der SPD, einstige Islambeauftragte ihrer Fraktion und heute in der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalens für internationale Angelegenheiten zuständig. Frau Akgün, schönen guten Morgen!
    Lale Akgün: Guten Morgen!
    Grieß: Als die Richter in Karlsruhe gestern zum Urteilsspruch ihre eigene rote Kopfbedeckung abgesetzt hatten, haben Sie danach aus ihren Mündern ein weises Urteil gehört?
    Akgün: Leider nein. Ich habe nur gehört, dass der politische Islam seine vor 40 Jahren kreierte Konstruktion von diesem Kopftuch, was kein bisschen Haar sehen lässt, endlich auch in Deutschland in die Amtsstuben reinbekommen haben.
    "Eine Lehrerin ist eine besondere Person"
    Grieß: Folgen die Richter hier einem vermeintlichen politischen Zeitgeist der politischen Korrektheit?
    Akgün: Ich fürchte, ja. Ich fürchte, die Richter haben ein Urteil gefällt, weil sie meinen, sie müssten jetzt auch auf den Zug aufspringen, dass der Islam zu Deutschland gehöre. Aber die Frage ist doch, welcher Islam gehört zu Deutschland, und gehört das Kopftuch so zu Deutschland. Ich verstehe auch die ganzen Jubelschreie nicht über die Freude, dass endlich, endlich Lehrerinnen mit Kopftuch junge Mädchen, Jungen unterrichten dürfen. Eine Lehrerin ist eine besondere Person, ist eine Lehrperson. Was für ein Signal geht von einer Lehrerin aus, die vor der Klasse verhüllt, Hals, Kopf, alle Haare zu, unterrichtet?
    Grieß: Also wenn ich Sie richtig verstehe, dann gehört der sogenannte, ich nenne ihn jetzt mal so, Kopftuch-Islam nach Ihrer Lesart nicht zu Deutschland, wohl aber der Islam Lale Akgüns?
    Akgün: Wenn Sie den liberalen Islam, der mit der Zeit gehen will und der bereit ist, auch sich den Gegebenheiten einer modernen Gesellschaft anzupassen, als Lale-Akgün-Islam bezeichnen, dann gehört dieser Islam zu Deutschland.
    "Das Kopftuch war nie ein Symbol des normalen, gläubigen Menschen"
    Grieß: Die beiden Klägerinnen haben zu erkennen gegeben, dass sie ihr Kopftuch gänzlich freiwillig tragen und sie das allenfalls als Kennzeichen ihrer Religion verstehen, das habe aber wohl nichts mit Unterdrückung zu tun.
    Akgün: Was sie verstehen und was Wirklichkeit ist, sind zwei paar Schuhe. Ich weiß nicht, wer hinter den beiden Lehrerinnen steckt, wer sich bis zum Bundesverfassungsgericht durchgeklagt hat, aber eins weiß ich genau. Das Kopftuch ist von der Politik, vom politischen Islam zum Zeichen des Islam auserkoren worden. Das Kopftuch war nie ein Symbol des normalen, gläubigen Menschen oder einer gläubigen Frau. Und da setzt der Denkfehler auch ein in Deutschland. Der Denkfehler, zu denken, ohne Kopftuch kein Islam - wir müssen doch den Leuten ihre Religionsfreiheit zugestehen.
    Grieß: Wollen Sie nicht einbeziehen, dass sich die Bedeutung eines solchen Symbols auch wandeln kann?
    Akgün: Nein, das ist ja bewusst konstruiert worden. Ich erinnere mich an Demonstrationen in Köln von islamischen, politischen Verbänden, die noch vor 20 Jahren herumgebrüllt haben, das Kopftuch ist unsere Fahne, das Kopftuch ist unsere Ehre, das Kopftuch ist unser Symbol. Meinen Sie, diese Einstellung hat sich geändert? Ich meine, nein. Ich meine, diese Einstellung hat sich durchgesetzt. Das Problem ist, wir haben uns dran gewöhnt, nur noch die Frauen mit Kopftuch als Muslime zu erkennen oder zu identifizieren, und denken, Kopftuch gleich Islam.
    "Es geht immer darum, die Frau aus der Gesellschaft irgendwie auszuschließen"
    Grieß: Was raten Sie jungen Musliminnen, die sich zu erkennen geben wollen als Muslimin. Was sollen sie tragen?
    Akgün: Ich frage mich, ob man seine Religion immer zu erkennen geben muss. Auch das ist ein Vorstellung –
    Grieß: Muss vielleicht nicht, aber darf man es nicht müssen können?
    Akgün: Wieso dann nur die Frauen? Woran erkennen Sie denn einen muslimischen Mann auf der Straße?
    Grieß: Über die reden wir gleich noch.
    Akgün: Oder erwarten Sie, dass ein muslimischer Mann sich unbedingt zu erkennen geben muss, dass das wichtig ist? Ich glaube, Sie machen da an der Stelle folgende Logik, die gern hier in der Mehrheitsgesellschaft verbreitet wird. Das Kopftuch wird ja nicht getragen, um sich als Muslimin zu erkennen zu geben in der Gesellschaft – Achtung, hier kommt eine Muslimin. Das Kopftuch wird getragen, um sich vor den Blicken der Männer zu schützen. Das ist doch das, was eigentlich immer wieder propagiert wird. Schützt euch vor den Blicken der Männer. Es wird auf bestimmte Koranstellen hingewiesen, aus diesen Koranstellen lesen die Fundamentalisten heraus, die Frau muss sich bedecken. Und ich sage Ihnen, erst war ein Kopftuch nicht mehr genug. Dann kommen weitere Verhüllungen. Es geht immer darum, die Frau aus der Gesellschaft irgendwie auszuschließen.
    "Der Staat ist neutral durch diejenigen, die den Staat repräsentieren"
    Grieß: Aber noch einmal, Frau Akgün. Wenn wir eine Parallele ziehen zum Beispiel zum Tragen des christlichen Kreuzes - auch da gibt es immer wieder Wandlungen. Wenn ich jemanden sehe, der ein Kreuz um den Hals hängen hat, dann kann das unterschiedliche Bedeutungen haben. Ich kann es hier mit einem klerikalen Fundamentalisten zu tun haben oder mit jemandem, der ein Evangelium lebt, das liberal ist.
    Akgün: Das ist richtig. Ich unterstelle auch, dass einige junge Mädchen experimentieren mit dem Kopftuch, Reaktionen austesten in der Gesellschaft, wieder das Kopftuch abnehmen. Aber wir reden hier von einer Beamtin. Wir reden hier von einem jungen Mädchen auf der Straße, wir reden von einer Beamtin mit einem appellativen Kopftuch vor der Klasse. Und wir reden davon, dass der Staat eigentlich religionsneutral sein muss. Der Staat ist aber ein abstraktes Gebilde. Der Staat ist neutral durch diejenigen, die den Staat repräsentieren. Und eine Lehrerin mit einem Kopftuch ist für mich nicht mehr neutral.
    Grieß: Der Staat ist aber in Deutschland ohnehin nicht ganz religionsneutral. Wir alle kennen die Verwebungen zwischen Staat und Kirchen, zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. Es gibt Religionsunterricht in der Schule. Ist das nicht auch ein Zeichen dafür und ein Sinn oder eine Begründung dafür, dass Religion in Schulen thematisiert werden sollte, auch vielleicht anhand von Kleidung?
    Akgün: Dass in Deutschland der Staat nicht - oder religionsfreundlich ist, das ist sicherlich richtig. Aber ich komme noch mal zurück auf die Lehrerin. Die Lehrerin steht vor einer Klasse. Wir haben in Deutschland Schulpflicht, das heißt, jeder Mensch ist gezwungen, seine Kinder in die Schule zu schicken. Im Gegenzug garantiert der Staat Religionsneutralität den Familien gegenüber. Und auch - eine Lehrerin mit Kopftuch ist aber nicht mehr religionsneutral. Und sie wird nicht nur im Religionsunterricht vor der Klasse stehen, sondern, so wie ich es verstanden habe, in Zukunft auch Deutsch, Mathematik, Englisch unterrichten. Was macht eigentlich eine Kopftuch-Lehrerin, die ja ihre Reize verhüllen will, die sich anders geben will als das, was eigentlich für unser Verständnis von der Gleichheit von Mann und Frau ist, wenn sie im Deutschunterricht eine Liebesszene mit den Kindern durchgehen möchte? Was ist, wenn sie über sexuelle Beziehungen von Mann und Frau reden möchte? Was macht eine Biologielehrerin mit Kopftuch?
    "Diesen Widerspruch müssen wir eigentlich sehen und thematisieren"
    Grieß: Dann behält sie ihr Kopftuch auf dem Kopf und beruft sich auf den liberalen Islam nach Ihrer Lesart, Lala Akgün, und geht genau das durch, den Sexualunterricht.
    Akgün: Ja, aber das ist mit dem Frauenbild eigentlich, was sie da schriftlich vermittelt - also, sie unterrichtet was anderes, als was sie selbst appellativ nach vorne trägt. Diesen Widerspruch müssen wir eigentlich sehen und thematisieren. Wie müssen vieles thematisieren. Ich meine, jetzt ist das so entschieden, und wer weiß, was in zehn Jahren sein wird, welche Entscheidungen dann kommen. Aber ich finde es wichtig, auch diese Dinge zu sehen. Wir müssen auch sehen, dass leider so ein Gesetz eigentlich noch mehr die Gesellschaft polarisieren wird. Es werden ja die Eltern nicht klagen, die werden ihre Kinder einfach aus Schulen herausnehmen und woanders anmelden. Das wird noch einmal eine Veränderung in den Zusammensetzungen der Schulen nach sich ziehen. Ich sehe auch nicht das Problem in bestimmten Stadtteilen, wo Eltern auch nicht dem Einfluss bestimmter orthodoxer, politischer islamischer Richtungen unterworfen sind. Ich sehe das Problem vor allem in den Stadtteilen, wo eh Moscheevereine versuchen, Einfluss auf Eltern zu nehmen. Und jetzt ist sozusagen, die Schule wird zu einer Verbündeten dieser Moscheevereine.
    Grieß: Sagt Lale Akgün von der SPD, früher Islambeauftragte ihrer Fraktion im Deutschen Bundestag, heute in der Staatskanzlei in Nordrhein-Westfalen. Sie hält das Urteil aus Karlsruhe zum Kopftuchtragen von Lehrerinnen von gestern für ein Fehlurteil. Danke für das Gespräch, Frau Akgün!
    Akgün: Gerne!
    Grieß: Ein schönes Wochenende wünschen wir.
    Akgün: Danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.