Eine Sure aus dem Koran, vorgetragen von einem saudischen Rezitator. Das laute melodiöse Vorlesen der Suren aus dem heiligen Buch der Muslime ist eine alte Tradition, seit Jahrhunderten gepflegt. Die Gläubigen nehmen den Koran nicht nur mit dem Verstand wahr, sondern auch mit den Sinnen. Er ist für Muslime immer auch ein ästhetisches Erlebnis. Koranrezitationen seien in der islamischen Welt ständig präsent, sagt die Berliner Arabistikprofessorin Angelika Neuwirth.
"Diese Präsens des Verborgenen, der anderen Dimension, diese spielt, glaube ich, auch für das tägliche Leben eine ganz große Rolle. Nicht zuletzt in Krisensituationen, zum Beispiel also bei Trauerfeiern. Aber eben auch in alltäglichen Situationen gibt das gewissermaßen ein Gegengewicht, zu den ja oft nicht gerade besonders erbaulichen Verhältnissen, unter denen man zu leiden hat. Ich glaube, das ist eine Art Kompensation des häufig doch sehr tristen Alltags."
Man lässt Neuwirth nicht zu viel Ehre zukommen, wenn man sie als Grande Dame der deutschen Koranwissenschaften bezeichnet. Mit der Heiligen Schrift der Muslime beschäftigt sich die 68-Jährige, seitdem sie Anfang der 60er-Jahre erstmals in die iranische Hauptstadt Teheran reiste und...
" ... fasziniert war, gerade eben auch von der koranischen Präsenz. Und wenn man das so in situ kennengelernt hat, auch mit bestimmten anderen ästhetischen Erfahrungen, der Nahe Osten hat erfreulicherweise einen etwas klareren Himmel, also es idealisiert, man erinnert sich an ausgesprochen ungewöhnlich schöne Erfahrungen dort."
Jetzt ist die Wissenschaftlerin aus Berlin dabei, ihr Lebenswerk zu vollenden: Sie arbeitet mit den Wissenschaftlern des Forschungsprojektes Corpus Coranicum an einem dreibändigen Korankommentar, mehr als 2000 Seiten dick - und damit der umfänglichste seiner Art im Westen. Doch nicht nur dadurch sticht das Werk heraus, sondern auch durch seinen neuen Blick auf den Koran. Bislang ging die Forschung davon aus, dass das Buch mit Muhammad einen einzigen Autor hatte, der die Suren einseitig verkündete. Neuwirth dagegen bettet den Koran ein in sein historisches Umfeld auf der arabischen Halbinsel Anfang des siebten Jahrhunderts. Ihr Fazit: Die Suren des Koran seien nicht einseitig verkündet worden, sondern das Ergebnis einer intensiven Debatte zwischen dem Propheten und seinen religiös vorgebildeten Zuhörern:
"Ich will nicht behaupten, dass das ohne göttliche Inspiration auch gegangen wäre. Ich würde meinen, dass da ein erhebliches Sendungsbewusstsein seitens des Endformulierenden beteiligt war. Aber ich denke, dass diese Texte, die ja auch Debatten spiegeln, da kommen ja Diskussionen vor, dass die in der Tat etwas zusammenfassen, was dann Konsens ist für die wachsende Gemeinde."
Neuwirth löst ihren Blick auf den Koran von all dem, was muslimische Gelehrte über Jahrhunderte in den Text hineininterpretiert haben. Anders gesagt: Für sie ist der Koran am Anfang kein islamischer Text - denn den Islam gab es zu Muhammads Zeiten noch gar nicht. Vielmehr entstand er in einem Milieu, das jüdisch-christlich geprägt war und zu dem großen Kulturraum des Mittelmeeres gehörte. Neuwirths überraschende weitere Schlussfolgerung lautet: Der Koran ist damit ein Produkt der Spätantike, aus der sich auch Europa entwickelte. Den Islam sieht sie damit als Teil des europäischen Erbes.
"Ich betone so gerne das Europäische, weil wir oft vergessen, dass das, was wir später als 'der Islam', als Kultur des Islam abgrenzen, dass der im Grunde, also mindestens so wie die europäische, ja wie die sich aus der Spätantike entwickelnde europäische Kultur auf der Basis der Antike steht."
Einflüsse des Christen- und Judentums sind im Koran deutlich zu erkennen. Die frühen Suren der Schrift etwa ähneln Psalmen aus der Bibel. Einige Forscher gingen in der Vergangenheit so weit, den Koran allein als Nachahmung der Bibel zu sehen. Diese These aber hält Neuwirth für unhaltbar - trotz des christlich-jüdischen Hintergrunds.
"Der Islam wird dadurch zum Islam, dass er letztendlich aus dem gleichen Fonds zehrt, aber neue Antworten findet, also sich abgrenzt gegen die vorhandenen Antworten auf die universalen Fragen. Im Grunde sind die Fragen vielleicht jüdisch-christlich, kann man sagen, weil die einfach länger da sind. Aber die Antworten sind genuin neu."
Neuwirths Zugang zum Koran ist ein europäischer. Ihre historisch-kritische Methode wurde über Jahrzehnte in der christlichen Bibelwissenschaft entwickelt. Neuwirth liest den Koran als einen historischen Text - und nicht als heilige Botschaft Gottes. Sie säkularisiert den Koran geradezu. Damit setzt sie sich in Gegensatz zur traditionellen islamischen Koranforschung. Diese betrachtet den Koran als das unverfälschte Wort Gottes, das in einer Urform immer schon existierte und von Muhammad dem Menschen eins zu eins verkündet wurde. Trotzdem hofft Neuwirth mit ihrer Forschung die Kluft zu überbrücken, die seit Langem zwischen islamischer und westlicher Koranforschung klafft. Beide Seiten müssten in ein Gespräch miteinander kommen:
"Ich spreche da immer sehr gerne von einem Foto und einem Röntgenbild. Man muss die beiden ja nicht immer unbedingt gegeneinander ausspielen. Das Röntgenbild hat ästhetisch nichts zu bieten. Aber dennoch hat es einen gewissen Wahrheitswert. Und da habe ich bisher auch die Erfahrung gemacht, dass das einleuchtet."
Bei Vorträgen vor Geistlichen im Iran etwa seien ihre Forschungsergebnisse auf großes Interesse gestoßen, erzählt Neuwirth. Sie setzt auch darauf, dass die junge islamische Theologie in Deutschland den Koran mit modernen wissenschaftlichen Methoden liest und so ein neuer Diskurs entsteht. Einen Anfang macht die Arabistin gerade in Jerusalem: Dort hält sie derzeit Vorlesungen für katholische, protestantische und muslimische Theologiestudenten aus Deutschland.
"Diese Präsens des Verborgenen, der anderen Dimension, diese spielt, glaube ich, auch für das tägliche Leben eine ganz große Rolle. Nicht zuletzt in Krisensituationen, zum Beispiel also bei Trauerfeiern. Aber eben auch in alltäglichen Situationen gibt das gewissermaßen ein Gegengewicht, zu den ja oft nicht gerade besonders erbaulichen Verhältnissen, unter denen man zu leiden hat. Ich glaube, das ist eine Art Kompensation des häufig doch sehr tristen Alltags."
Man lässt Neuwirth nicht zu viel Ehre zukommen, wenn man sie als Grande Dame der deutschen Koranwissenschaften bezeichnet. Mit der Heiligen Schrift der Muslime beschäftigt sich die 68-Jährige, seitdem sie Anfang der 60er-Jahre erstmals in die iranische Hauptstadt Teheran reiste und...
" ... fasziniert war, gerade eben auch von der koranischen Präsenz. Und wenn man das so in situ kennengelernt hat, auch mit bestimmten anderen ästhetischen Erfahrungen, der Nahe Osten hat erfreulicherweise einen etwas klareren Himmel, also es idealisiert, man erinnert sich an ausgesprochen ungewöhnlich schöne Erfahrungen dort."
Jetzt ist die Wissenschaftlerin aus Berlin dabei, ihr Lebenswerk zu vollenden: Sie arbeitet mit den Wissenschaftlern des Forschungsprojektes Corpus Coranicum an einem dreibändigen Korankommentar, mehr als 2000 Seiten dick - und damit der umfänglichste seiner Art im Westen. Doch nicht nur dadurch sticht das Werk heraus, sondern auch durch seinen neuen Blick auf den Koran. Bislang ging die Forschung davon aus, dass das Buch mit Muhammad einen einzigen Autor hatte, der die Suren einseitig verkündete. Neuwirth dagegen bettet den Koran ein in sein historisches Umfeld auf der arabischen Halbinsel Anfang des siebten Jahrhunderts. Ihr Fazit: Die Suren des Koran seien nicht einseitig verkündet worden, sondern das Ergebnis einer intensiven Debatte zwischen dem Propheten und seinen religiös vorgebildeten Zuhörern:
"Ich will nicht behaupten, dass das ohne göttliche Inspiration auch gegangen wäre. Ich würde meinen, dass da ein erhebliches Sendungsbewusstsein seitens des Endformulierenden beteiligt war. Aber ich denke, dass diese Texte, die ja auch Debatten spiegeln, da kommen ja Diskussionen vor, dass die in der Tat etwas zusammenfassen, was dann Konsens ist für die wachsende Gemeinde."
Neuwirth löst ihren Blick auf den Koran von all dem, was muslimische Gelehrte über Jahrhunderte in den Text hineininterpretiert haben. Anders gesagt: Für sie ist der Koran am Anfang kein islamischer Text - denn den Islam gab es zu Muhammads Zeiten noch gar nicht. Vielmehr entstand er in einem Milieu, das jüdisch-christlich geprägt war und zu dem großen Kulturraum des Mittelmeeres gehörte. Neuwirths überraschende weitere Schlussfolgerung lautet: Der Koran ist damit ein Produkt der Spätantike, aus der sich auch Europa entwickelte. Den Islam sieht sie damit als Teil des europäischen Erbes.
"Ich betone so gerne das Europäische, weil wir oft vergessen, dass das, was wir später als 'der Islam', als Kultur des Islam abgrenzen, dass der im Grunde, also mindestens so wie die europäische, ja wie die sich aus der Spätantike entwickelnde europäische Kultur auf der Basis der Antike steht."
Einflüsse des Christen- und Judentums sind im Koran deutlich zu erkennen. Die frühen Suren der Schrift etwa ähneln Psalmen aus der Bibel. Einige Forscher gingen in der Vergangenheit so weit, den Koran allein als Nachahmung der Bibel zu sehen. Diese These aber hält Neuwirth für unhaltbar - trotz des christlich-jüdischen Hintergrunds.
"Der Islam wird dadurch zum Islam, dass er letztendlich aus dem gleichen Fonds zehrt, aber neue Antworten findet, also sich abgrenzt gegen die vorhandenen Antworten auf die universalen Fragen. Im Grunde sind die Fragen vielleicht jüdisch-christlich, kann man sagen, weil die einfach länger da sind. Aber die Antworten sind genuin neu."
Neuwirths Zugang zum Koran ist ein europäischer. Ihre historisch-kritische Methode wurde über Jahrzehnte in der christlichen Bibelwissenschaft entwickelt. Neuwirth liest den Koran als einen historischen Text - und nicht als heilige Botschaft Gottes. Sie säkularisiert den Koran geradezu. Damit setzt sie sich in Gegensatz zur traditionellen islamischen Koranforschung. Diese betrachtet den Koran als das unverfälschte Wort Gottes, das in einer Urform immer schon existierte und von Muhammad dem Menschen eins zu eins verkündet wurde. Trotzdem hofft Neuwirth mit ihrer Forschung die Kluft zu überbrücken, die seit Langem zwischen islamischer und westlicher Koranforschung klafft. Beide Seiten müssten in ein Gespräch miteinander kommen:
"Ich spreche da immer sehr gerne von einem Foto und einem Röntgenbild. Man muss die beiden ja nicht immer unbedingt gegeneinander ausspielen. Das Röntgenbild hat ästhetisch nichts zu bieten. Aber dennoch hat es einen gewissen Wahrheitswert. Und da habe ich bisher auch die Erfahrung gemacht, dass das einleuchtet."
Bei Vorträgen vor Geistlichen im Iran etwa seien ihre Forschungsergebnisse auf großes Interesse gestoßen, erzählt Neuwirth. Sie setzt auch darauf, dass die junge islamische Theologie in Deutschland den Koran mit modernen wissenschaftlichen Methoden liest und so ein neuer Diskurs entsteht. Einen Anfang macht die Arabistin gerade in Jerusalem: Dort hält sie derzeit Vorlesungen für katholische, protestantische und muslimische Theologiestudenten aus Deutschland.