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Korrekturen an der Agenda 2010
"Wenn lange Bezugszeiten da sind, ist der Druck aus dem Kessel"

In der Diskussion über die Agenda 2010 warnt der Arbeitsmarktforscher Joachim Möller im DLF davor, die Bezugszeiten von Arbeitslosengeld zu verlängern. Zur Befristung von Verträgen sagt er nicht grundsätzlich nein - kritisch aber sieht er, dass Arbeitnehmer oft kurzfristige Kettenverträge erhalten.

Joachim Möller im Gespräch mit Mario Dobovisek |
    Der Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Joachim Möller.
    Die Agenda 2010 sei alternativlos gewesen, "denn sonst hätten wir die Axt an die Wurzeln des Sozialstaats gelegt", sagte Arbeitsmarktforscher Möller im DLF. (picture alliance / dpa / Daniel Karmann)
    Mario Dobovisek: Martin Schulz streichelt die sozialdemokratische Seele, wenn er zwar nicht von der schröderschen Agenda 2010 abkehren, sie aber sehr wohl korrigieren will und dabei von Fehlern spricht. Denn seit ihrer Einführung vor 14 Jahren klafft eine große Wunde in der deutschen Sozialdemokratie. Beim Arbeitnehmerflügel vor allem, aber auch bei früheren SPD-Wählern, die politisch längst andere Wege gehen. Nun entschrödert Schulz sozusagen die SPD zumindest ein bisschen und kommt bei den Genossen damit offensichtlich ganz gut an, und das mehr als nur ein bisschen.
    Am Telefon begrüße ich Joachim Möller. Er leitet das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, das zur Bundesagentur für Arbeit gehört. Guten Tag, Herr Möller.
    Joachim Möller: Ja, guten Tag.
    Dobovisek: Schulz spricht ja auch viel von Ungerechtigkeiten. Als solche sehen viele Arbeitnehmer auch den Fakt an, dass jemand, der nach 25 Jahren im Betrieb arbeitslos wird, genauso lange Arbeitslosengeld 1 bezieht wie ein Kollege, der erst wenige Jahre dabei ist. Ist das ungerecht?
    De-Qualifizierungsprozesse bei Langzeitarbeitslosen
    Möller: Ich würde einmal generell sagen, dass das Thema Ungerechtigkeit oder, sagen wir mal, Fairness im Arbeitsleben zurecht von Schulz thematisiert wird. Es geht um Zusammenhalt in der Gesellschaft, um den Kitt der Gesellschaft. Das finde ich grundsätzlich richtig.
    Die Frage ist, ob jetzt an den Bezugsdauern von Arbeitslosigkeit gedreht werden sollte. Das würden wir aus wissenschaftlicher Sicht eher kritisch sehen. Wir haben Forschungsergebnisse, die sagen, dass je länger die Bezugsdauer ist, je höher die Arbeitslosigkeit oder die Länge der Arbeitslosigkeit ist, und diese Ergebnisse sind sehr eindeutig. Das Problem ist ja, dass, wenn jemand über längere Zeit arbeitslos ist, dann die sogenannten de-Qualifizierungsprozesse einsetzen. Das heißt, es wird immer schwerer, wieder in einen Job zu kommen. Und wenn die Abfederung da sehr gut ist und lange Bezugszeiten da sind, dann ist dieser Druck aus dem Kessel.
    "Eine lange Frist auch im internationalen Vergleich"
    Dobovisek: Das sucht sich ja nicht jeder Arbeitslose so aus.
    Möller: Das sucht sich sicher nicht jeder Arbeitslose aus. Wir müssen unbedingt auch sehen, wir müssen dann die Angebote machen, dass man möglichst schnell wieder in Arbeit kommt. Das muss das Ziel sein. Aber – wir haben das früher mal genannt "süßes Gift" – wenn die Bezugszeiten ausgedehnt werden, die ja schon auch für über 50 Jährige höher sind als für unter 50 Jährige, dann würde man doch diesen Mechanismus wieder bestärken. Und für über 58 Jährige ist ja schon die Regelung der Agenda 2010 zurückgenommen worden. Das heißt, da haben wir ja bis zu 24 Monaten. Das ist aus meiner Sicht eine lange Frist auch im internationalen Vergleich.
    "Diese Strategie einer schnellen Integration ist richtig"
    Dobovisek: Sie sagen ganz klar wie auch die Arbeitgeber, eine Verlängerung von Arbeitslosengeld 1 würde eine schnellere Wiederaufnahme von Arbeit erschweren?
    Möller: Das sagen unsere Forschungsergebnisse. Natürlich ist die Frage, wie man das politisch bewerten möchte, eine andere, aber von der Forschungsseite her ist es eindeutig, dass das nachteilig ist für die Beteiligten. Über längere Sicht könnte man sicher argumentieren, was denn besser ist für die Personen, ob es nicht besser ist, auf diese Strategie einer schnellen Integration wieder zu setzen. Ich glaube, das ist richtig.
    "Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung" konnte halbiert werden
    Dobovisek: Können wir zu diesem Punkt vielleicht noch mal später kommen? Bleiben wir im Moment noch mal bei dem Arbeitslosengeld 1 und einer möglichen Verlängerung. Da steht ja noch nicht so viel fest, das soll ja alles erst in den nächsten Wochen ausgearbeitet werden, sagt Schulz. Nehmen wir aber mal an, das wird um ein Jahr verlängert, über welchen Kostenrahmen sprechen wir da insgesamt?
    Möller: Das kann ich aus dem Stegreif jetzt nicht beantworten. Aber mit Sicherheit würde das erhebliche Kosten bedeuten. Wir haben ja die sehr positive Entwicklung gehabt, dass wir den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung halbieren konnten über die letzten Jahre, und das ist auch ein Wert, den wir nicht aufgeben sollten. Das heißt, die Kosten sind da deutlich nach unten gegangen, und das entlastet ja auch die Masse der Arbeitnehmer genauso wie die der Betriebe.
    "Für den Einstieg in den Arbeitsmarkt ist der Zwei-Jahres-Zeitraum angemessen"
    Dobovisek: Der zweite große Punkt, den Schulz verändern will, betrifft die Befristung von Arbeitsverträgen. Jeder zweite neue Arbeitsvertrag sei inzwischen befristet, sagt er. Deckt sich das mit Ihrem Bild vom Arbeitsmarkt?
    Möller: Ich denke, dass man da sehr differenzieren muss. Die Möglichkeit auch einer sachgrundlosen Befristung für einen gewissen Zeitraum, für maximal zwei Jahre, ist ein Mittel auch des Austestens von Mitarbeitern.
    Dobovisek: Dafür gibt es ja normalerweise die Probezeit.
    Möller: Die Probezeit. Aber ich denke, in manchen Fällen reicht die Probezeit da auch nicht aus, sodass für den Einstieg in den Arbeitsmarkt dieser Zwei-Jahres-Zeitraum durchaus angemessen ist. Das Problem liegt ganz woanders. Das Problem liegt bei den Kettenverträgen, dass wir plötzlich Personen haben, die Ende 30, Anfang 40 oder Mitte 40 sind oder vielleicht noch älter, die eine Biografie haben von ständigen kurzfristigen Verträgen. Ich glaube, da müsste man ansetzen. Diese Kurzfristigkeit von Verträgen, die ist kritisch. Die ist dann auch, wenn wir an Familiengründung und so etwas denken, sicher ein Problem. Wenn junge Leute erst mal einsteigen mit Mitte 20 mit einer Sachgrundbefristung, dann sehe ich das weitaus weniger kritisch.
    "Die Verhinderung solcher Ketten von Befristungen"
    Dobovisek: Das heißt, einmalige Befristung, begrenzt auf zwei Jahre ja, aber dann keine weiteren Befristungen mehr?
    Möller: Das heißt mögliche Verhinderung solcher Ketten von Befristungen. Das ist, glaube ich, das Hauptproblem.
    Dobovisek: Welchen Stellenwert haben aus Ihrer Sicht diese Kettenverträge im Moment?
    Möller: Das kommt darauf an. Die sind in einzelnen Wirtschaftsbereichen ganz unterschiedlich. Wir haben im Öffentlichen Dienst dann ein Problem, gerade auch in der Wissenschaft. Ich denke aber, dass da gerade ein Bewusstseinswandel stattfindet und diese Missstände, die es da gegeben hat, abgestellt werden.
    Mindestlohn sei ein richtiger Schritt gewesen
    Dobovisek: Wie kann oder wie sollte Politik das zukünftig verhindern?
    Möller: Kettenverträge meinen Sie jetzt?
    Dobovisek: Ja.
    Möller: Ich denke, dass wiederholte Befristungen zu vermeiden sind und vor allen Dingen auch kurzfristige Ansätze. Ich denke, das hängt wieder ab von der Größe des Betriebes. Die Flexibilität von Betrieben ist da auch natürlich sehr unterschiedlich. Aber ein Großbetrieb, der sollte so flexibel sein, dass man solche Dinge wirklich verhindert.
    Dobovisek: Wir haben jetzt über zwei Punkte gesprochen, die Martin Schulz angesprochen hat. Sie haben vorhin noch viel weiter über den Zusammenhalt der Gesellschaft gesprochen und über andere Dinge, die auch mit Blick auf den Arbeitsmarkt relevant wären. Welche sollte die SPD jetzt anpacken statt derer, die wir besprochen haben?
    Möller: Ich denke, ein wichtiger Schritt war ja die Einführung des Mindestlohns, und ich glaube, das ist tatsächlich ein Fehler gewesen, dass das nicht zusammen mit der Agenda 2010 gekommen ist. Das ist ein richtiger Schritt gewesen aus meiner Sicht, der im Unterschied zu dem, was viele befürchtet haben, keine Arbeitsplätze im größeren Stil gekostet hat.
    "Geringqualifizierte verdienen heute im Schnitt weniger"
    Dobovisek: Aber trotzdem noch viele Lücken aufweist.
    Möller: Noch viele Lücken aufweist, das ist richtig. Da muss man sehen, dass auch die Durchsetzung des Mindestlohns tatsächlich passiert. Aber im Großen und Ganzen wird er ja eingehalten und das hat für Millionen von Arbeitenden doch zu Verbesserungen geführt. Das ist für mich ein Ansatz, auch bei der Entlohnung die Frage nach Gerechtigkeit zu sehen. Wir sehen ja, dass bestimmte Gruppen heute weniger in Kaufkrafteinheiten haben, als sie es vor 30 Jahren gehabt haben.
    "Spielraum für die Gestaltung von Lohnunterschieden"
    Dobovisek: Welche Gruppen meinen Sie?
    Möller: Beispielsweise Geringqualifizierte verdienen heute im Schnitt weniger in Kaufkraft gemessen, als sie es vor 30 Jahren getan haben. Da ist sicher zu fragen, ob wir da die Gewichte richtig setzen und ob nicht da auch Gerechtigkeitsaspekte verstärkt hinzukommen müssen. Das ist immer begrenzt dadurch natürlich, wenn man die Schraube da zu stark andreht, dass dann wieder Beschäftigung verloren geht. Das wäre sicher auch nicht im Sinne der Betroffenen. Aber ich glaube, dass die Gesellschaft einen gewissen Spielraum hat für die Gestaltung von Lohnunterschieden, ohne dass das jetzt Beschäftigung kosten muss, und das wäre ein Ansatz aus meiner Sicht, wie man Ungerechtigkeit und das abgehängt sein von bestimmten Gruppen verhindern kann in der Gesellschaft.
    "Tarifverhandlungen mit den Personen am unteren Bereich"
    Dobovisek: Wie hoch müsste Ihrer Meinung nach ein Mindestlohn sein, der auch für Geringqualifizierte gerecht wäre?
    Möller: Ich würde jetzt nicht den Mindestlohn nehmen. Das ist wirklich die absolute Untergrenze. Ich denke jetzt eher an Tarifverhandlungen, die auch schauen müssen, was ist mit den Personen am unteren Bereich.
    Dobovisek: Das bedeutet?
    Möller: Ja, dass man beispielsweise Festbeträge vereinbart. Das passiert ja auch. In vielen Bereichen haben wir ja diese Entwicklung. Aber das würde wieder die Lohnspreizung verringern.
    Die Agenda 2010 sei "ein Riesenerfolg"
    Dobovisek: Sie haben insgesamt bei der Agenda 2010 über Fehler gesprochen, über Fehler, die jetzt nach und nach teilweise ausgeglichen werden. Ist denn aus Ihrer Sicht die Agenda 2010 insgesamt der richtige Schritt zur richtigen Zeit gewesen?
    Möller: Meines Erachtens gab es wirklich dazu keine Alternative. Wir hatten – und das haben wir schnell vergessen – fünf Millionen Arbeitslose 2005 in der Spitze und wir sind heute deutlich unter drei Millionen. Das heißt, es sind über zwei Millionen weniger in Arbeitslosigkeit. Das ist aus meiner Sicht ein Riesenerfolg. Auch die Langzeitarbeitslosigkeit ist ja um 40 Prozent gesunken. Und wenn wir das über lange Zeiträume anschauen – wir hatten ja diesen unseligen Anstieg der Sockelarbeitslosigkeit seit den 1970er-Jahren. Mit jeder Krise ist die Sockelarbeitslosigkeit gestiegen, und das hat die Agenda 2010 erstmalig durchbrochen. Wir haben tatsächlich wieder einen Rückgang der Sockelarbeitslosigkeit. Aus dieser Sicht war das ohne Alternative, denn sonst hätten wir die Axt an die Wurzeln des Sozialstaats gelegt. Dann wäre das letztlich nicht mehr finanzierbar, unser sozialer Standard.
    Dobovisek: Joachim Möller ist Volkswirtschaftler und Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das zur Bundesagentur für Arbeit gehört. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Möller.
    Möller: Ja, gern geschehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.