Es geht um mutmaßliche Einflussnahme aus Katar und Marokko auf politische Entscheidungen des Europaparlaments. EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola hat eine "lückenlose Aufklärung" der Vorfälle angekündigt. Die Sozialistin Eva Kaili war eine ihrer 14 Stellvertreterinnen. Ihr und zunächst drei weiteren Beschuldigten werden Geldwäsche und Korruption vorgeworfen. Seit Anfang Februar hat sich der Personenkreis, gegen den ermittelt wird, um zwei weitere Abgeordnete der sozialdemokratischen Fraktion vergrößert. Im Zuge der Ermittlungen sollen unter anderem in Kailis Brüsseler Wohnung "Säcke mit Bargeld" gefunden worden sein.
Kaili weist den Vorwurf der Annahme von Bestechungsgeldern zurück. Das EU-Parlament setzte seine frühere Vize-Präsidentin dennoch kurz nach Bekanntwerden der Korruptionsvorwürfe mit überwältigender Mehrheit ab. Am 18. Januar wurde über Kailis Nachfolge entschieden. Der Sozialdemokrat Marc Angel aus Luxemburg setzte sich bei der Wahl durch.
Damit verteidigte die von der Affäre besonders betroffene S&D-Fraktion ihren Posten und stellt weiterhin fünf der 14 Vizepräsidentinnen und -präsidenten des Parlaments.
Worum geht es bei den Ermittlungen und wer wurde festgenommen?
Es geht bei den Ermittlungen der belgischen Staatsanwaltschaft um eine mutmaßliche kriminelle Organisation, versuchte Einflussnahme aus den Ländern Katar und Marokko sowie Vorwürfe von Korruption und Geldwäsche.
Belgiens Bundesstaatsanwalt durchsuchte am 9. Dezember 2022 im Rahmen einer groß angelegten Razzia wegen möglicher Korruption im Europäischen Parlament 16 Häuser in Brüssel. Dabei wurden laut Angaben der Ermittlungsbehörde mindestens fünf Menschen festgenommen und etwa 600.000 Euro in bar sowie Computerausrüstung und Mobiltelefone sichergestellt.
Prominenteste unter den Festgenommen ist die Griechin Eva Kaili, die seit 2022 eine der 14 Vizepräsidentinnen des EU-Parlaments war. Sie befindet sich in Untersuchungshaft. In ihrem Heimatland hat die Anti-Geldwäsche-Behörde Anfang Dezember 2022 alle Vermögenswerte der 44-Jährigen eingefroren.
Laut einem Bericht der belgischen Zeitung "L'Echo" entschlossen sich die Ermittler, die Wohnung Kailis zu durchsuchen, nachdem sie deren Vater mit einer großen Menge Bargeld in "einem Koffer" aufgegriffen hatten. Festgehalten werden muss freilich auch, dass für Kaili zunächst die Unschuldsvermutung gilt, solange es keine richterliches Urteil gibt.
Infolge der aktuellen Ereignisse verlor Kaili dennoch alle ihr übertragenen Befugnisse, Pflichten und Aufgaben im EU-Parlament. Dies ordnete Parlamentspräsidentin Roberta Metsola an. Die Abgeordneten des Europaparlaments stimmten am 13. Dezember 2022 für die sofortige Absetzung Kailis. Sie wurde außerdem von ihrer Partei, der Panhellenischen Sozialistischen Bewegung (Pasok), ausgeschlossen. Auch die sozialdemokratische Fraktion im EU-Parlament, der auch die SPD angehört, setzte Kailis Mitgliedschaft mit sofortiger Wirkung aus.
Bei den weiteren Festgenommenen handelt es sich um italienische Staatsbürger, darunter Kailis Lebensgefährten Francesco Giorgi, der parlamentarischer Mitarbeiter der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament war. In Gewahrsam genommen wurden zudem der Generalsekretär des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB), Luca Visentini sowie der ehemalige sozialdemokratische Europaabgeordnete und heutige Chef der Nichtregierungsorganisation "Fight Impunity" ("Kampf gegen Straffreiheit"), Pier Antonio Panzeri.
Panzeri wird zum wichtigsten Akteur
Mitte Januar 2023 gab die belgische Staatsanwaltschaft bekannt, dass sie eine schriftliche Vereinbarung mit Panzeri getroffen habe. Für seine vollumfängliche Kooperation handelte sich der 67-Jährige offenbar eine mildere Strafe aus. Aufgrund dessen wird damit gerechnet, das schnell Licht in die Einzelheiten dieses Skandals kommt.
Dementsprechend äußerte sich die Vizepräsidentin des Europa-Parlaments, Katarina Barley, im Deutschlandfunk. Die SPD-Politikerin sagte, sie erhoffe sich, dass man durch Panzeris Aussage schnell wisse, wer alles verwickelt gewesen sei in diese "unsägliche Geschichte".
Was ist über die Hintergründe bekannt?
Laut Timo Lange von der Nichtregierung LobbyControl hat es in den vergangenen Jahren verschiedene Fälle gegeben, in denen autoritäre Staaten versucht hätten, massiv mit legalen wie illegalen Aktionen ihre Reputation aufzubessern. Dabei seien Politikerinnen und Politiker Zielscheibe von Lobby- und anderen Aktivitäten geworden, sagte Lange im Dlf. Gerade auch Katar sei dabei aufgefallen, mit verschiedenen Mitteln der Public Relations und der Lobbyarbeit in den USA und Europa Einfluss zu nehmen.
Katar war Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft 2022. Das Emirat steht seit Jahren wegen der Menschenrechtslage und der Bedingungen für ausländische Arbeiter in der Kritik. Zahlreiche Mitglieder des Exekutivkomitees des Weltfußballverbandes FIFA, das 2010 die WM nach Katar vergeben hatte, sind inzwischen der Korruption überführt. Katar selbst hat den Vorwurf der Bestechung jedoch stets bestritten.
Auch das EU-Parlament hatte die WM-Vergabe an den Wüstenstaat unter Verweis auf „glaubwürdige Vorwürfe der Bestechung und Korruption“ kritisiert, zuletzt kurz vor Beginn des Turniers Mitte November. Anders äußerte sich damals Ex-Parlamentsvize Kaili. Vor dem Plenum bezeichnete sie Katar als Vorreiter bei Arbeitsrechten. Die WM sei Beweis dafür, „dass Sportdiplomatie einen historischen Wandel in einem Land bewirken kann, dessen Reformen die arabische Welt inspiriert haben“.
Das Land habe sich der Welt geöffnet. „Dennoch rufen einige hier dazu auf, sie (die Katarer) zu diskriminieren. Sie schikanieren sie und beschuldigen jeden, der mit ihnen spricht, der Korruption“, sagte Kaili weiter. Kurz vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft hatte sich Kaili mit dem katarischen Arbeitsminister Ali bin Samich Al Marri getroffen und im Namen der EU die Verpflichtung Katars begrüßt, "die Arbeitsreformen fortzusetzen". Das twitterte damals der EU-Botschafter in Doha, Cristian Tudor.
Was bedeutet der Fall für das Europaparlament?
Dem Europäischen Parlament, das sich gern als Vorreiter im Kampf gegen Korruption sieht, droht ein ungeheurer Image-Schaden. „Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, handelt es sich sicherlich um einen der größten Korruptionsskandale im Parlament in Brüssel in den letzten Jahren, wenn nicht Jahrzehnten“, so die Einschätzung von Timo Lange von LobbyControl. „Das ist ein schwerwiegender Fall, der natürlich mit einem großen Vertrauens- und Ansehensverlust einhergeht.“ Wichtig sei nun eine möglichst schnelle Aufklärung.
Grundsätzlich stellte Lange dem EU-Parlament in Sachen Antikorruptionsregeln ein gutes Zeugnis aus. Diese seien nach vergangenen Skandalen weiter verschärft worden, sagte er im Dlf-Interview. Allerdings sei weiterhin keine unabhängige Aufsicht etabliert worden. Ähnlich äußerte sich Transparency International.
Als tiefen Schlag für das Ansehen des Parlaments bezeichnete auch der Europaparlamentarier Bernd Lange (SPD) die Vorgänge, insbesondere auch vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen mit EU-Mitglied Ungarn um gesperrte Haushaltsgelder in Milliardenhöhe. EU-Parlament und -Kommission werfen der ungarischen Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orban mangelnde Maßnahmen gegen Korruption vor. Orban werde sich freuen, mutmaßte Lange im Dlf-Interview. Die Korruptionsermittlungen in Brüssel seien „wirklich eine Relativierung unserer Anstrengungen für Rechtsstaatlichkeit und Antikorruption“.
Tatsächlich ließ die Häme aus Budapest nicht lange auf sich warten. Ungarns Regierungssprecher Zoltan Kovacs schrieb auf Twitter, er freue sich auf die Tweets von Europaabgeordneten, die sich regelmäßig deutlich gegen Korruption positionierten. „Aber zu der großen Korruptionsuntersuchung, in die Europaabgeordnete verwickelt sind, hatten sie nichts zu sagen."
Wie läuft die politische Aufarbeitung?
Die politische Aufarbeitung verläuft zögerlicher als die strafrechtliche. Die Aufhebung der politischen Immunität Kailis zieht sich bereits über Monate und kann erst im Februar in Kraft treten. In der ersten Plenumswoche 2023 ist es zwar zu Debatten und Aussprachen gekommen, doch tatsächliche Beschlüsse wurden nicht gefasst, etwa die Einsetzung von Untersuchungs- oder von Sonderausschüssen, insbesondere die Einsetzung einer Untersuchungsgruppe innerhalb der Fraktion der Sozialdemokraten und Sozialisten (S&D).
Denn bisher sind in der Affäre ausschließlich Abgeordnete der S&D-Fraktion (Socialists and democrats) betroffen. Der Verdacht liegt nahe, dass sich Staaten wie Marokko oder Katar auf eine Fraktion konzentrieren, wenn sie mit Schmiergeldern Einfluss nehmen wollen. Einzelne Abgeordnete innerhalb der Fraktion erklären wiederum, es handele sich um schwarze Schafe, es sei kein systemisches Problem.
Dennoch wächst die Ungeduld - besonders bei der größten Fraktion, der Europäischen Volkspartei (EVP). Deren Chef Manfred Weber kritisierte: "Ich sehe nicht, dass hier die notwendigen Schritte getan werden. Wir müssen schauen, wie sich das in den nächsten Wochen und Monaten entwickelt." Daraus könnte ein parteipolitischer Wahlkampfstreit werden: 2024 stehen Europawahlen an.
Parlamentspräsidentin Metsola hat strengere Transparenzregeln vorgeschlagen, Beschlüsse dazu sind allerdings noch nicht gefasst. Über die Pläne Metsolas wird heftig diskutiert, beispielsweise über den Vorschlag, dass Abgeordnete in Zukunft alle Kontakte zu Dritten offenlegen müssen. Das geht Christdemokraten wie Daniel Caspary zu weit. Dies würde unter anderem die Arbeit der Parlamentarier einschränken, so die Begründung.
Weitere vorgeschlagene Maßnahmen zur Bekämpfung möglicher Korruption sind der Schutz von Whistleblowern, die Hinweise zu Fehlverhalten geben und das Verbot von "Freundeskreisen", die von Drittstaaten initiiert werden und keinerlei Regularien unterliegen. Außerdem soll es Abgeordneten nach ihrer Tätigkeit verboten werden, Lobbyisten zu werden, solange sie das sogenannte Übergangsgeld beziehen.
Antikorruptionsregeln wurden im Europäischen Parlament in den vergangenen Jahren nur sehr schwach kontrolliert. Es gab zahlreiche Reisen von Abgeordneten, die zum Beispiel von Staaten oder von Einladenden bezahlt wurden. Darunter waren auch weitgehend unverdächtige Tätigkeiten, wie Reisen zu Vorträgen. Nun ist im Parlament ein gewisses Grundmisstrauen spürbar. Nach al dem, was in den vergangenen Wochen bekannt wurde, rücken nun kleine Dinge in den Fokus, die bisher nicht so ernst genommen wurden, etwa Gastgeschenke im Geldwert von unter 150 Euro - Wimpel, Zinnteller, Teekännchen, Keramikfigürchen - die aber meldepflichtig sind. Doch das ist bislang nur in geringem Umfang geschehen.
Quelle: Klaus Remme, dpa, afp, rtr