Am 13. November 2017 läuft bei uns in "Europa heute" ein Beitrag von unserem freien Korrespondenten Hans-Günter Kellner aus Madrid. Es geht nicht, wie so oft in diesen Tagen Ende 2017, um die katalanische Unabhängigkeit, sondern um die Korruptionsermittlungen gegen die regierende Volkspartei. Und die Rolle von Regierungschef Rajoy.
Die spanischen Behörden ermitteln seit bald zehn Jahren, auch wir haben schon oft über den "Fall Gürtel" berichtet. Aber noch nie wurde ein entsprechender Online-Beitrag bei "Europa heute" so oft im Netz abgerufen. Erstaunlich: In den ersten vier Tagen, in denen normalerweise die meisten Aufrufe gezählt werden, wurde der Beitrag aus Madrid kaum wahrgenommen. Erst am 17. November steigen die Abrufzahlen auf einmal stark an.
Die meisten Nutzer kommen aus Spanien, das lässt sich feststellen. Viele von ihnen aus Katalonien, das haben Stichproben ergeben. Fast alle landen über einen Direktzugriff auf der Seite - dazu gehören auch die Nutzer, die auf einen Link in einem Newsletter oder aus einer App heraus klicken. Bei weiteren zehn Prozent der Nutzer lässt sich mit Sicherheit sagen, dass sie über das soziale Netzwerk Facebook auf unsere Seite gekommen sind. Dort kursiert die Quintessenz des Beitrags längst mit spanischer Übersetzung: "Rajoy unter Druck" ist da zu lesen. Und darunter ein Zitat aus dem Beitrag, etwas gerafft: "Katalonien sollte nicht dazu dienen, die Korruption zu verbergen."
"Medienstrategie der Separatisten in Katalonien"
Katrin Michaelsen: Die Korruption in Spanien spricht so viele Nutzer an wie noch nie. Was steckt hinter dieser erstaunlichen Karriere des Beitrags? Hans-Günter Kellner, der Autor, ist jetzt aus Madrid zugeschaltet. Herr Kellner, wie erklären Sie sich den Erfolg dieses Beitrags?
Hans-Günter Kellner: Guten Morgen, Frau Michaelsen. Es gibt auf der einen Seite ein katalanisches Internetportal, elnacional.cat heißt das, das sehr beliebt ist bei den Anhängern einer katalanischen Unabhängigkeit. Und dieses Portal zitiert unseren Beitrag genau am 17.11.2017, also an dem Tag, an dem auch massiv auf diesen Beitrag zugegriffen wird. Viele Leute veröffentlichen das Stück daraufhin dann privat in den sozialen Netzwerken, neben Facebook auch Twitter, das kann man sehr gut nachverfolgen. Und diese Welle hält dann eben bis zum Januar an. Aber die Frage ist ja, warum sorgt das für so großes Aufsehen, und ich denke, das erklärt sich zum einen damit, dass in Katalonien sehr aufmerksam beobachtet wird, wie die internationale Presse über diesen Konflikt berichtet. Das hat zu einer ausgesprochenen Medienstrategie geführt, vor allen Dingen im separatistischen Lager, die eben auch die internationale Presse auswertet. Und wenn man glaubt, dass ein Bericht die eigenen Thesen pro Unabhängigkeit stützt, dann wird er massiv weiterverbreitet, wie es hier geschehen ist.
"Separatisten unterschlagen Korruption im eigenen Lager"
Michaelsen: Haben die Separatisten den Beitrag also missverstanden?
Kellner: Ja, ein bisschen schon, denn die Stoßrichtung ist ja nicht, dass in dem Beitrag für die Unabhängigkeit berichtet wird. Sondern es geht dabei um die Korruption bei der Spanischen Volkspartei, und auch darum, dass der Konflikt um Katalonien diese Korruption ein Stück weit in den Schatten stellt. Allerdings, und das wird eben bei den katalanischen Nationalisten gern unterschlagen: Es gibt ja auch im separatistischen Lager sehr schwere Fälle der Korruption. Diese Woche gab es zum Beispiel ein Gerichtsurteil mit sehr hohen Haftstrafen wegen Korruption und illegaler Finanzierung der seit Jahren in Katalonien regierenden Nationalistischen Partei. Und wenn der Konflikt in Katalonien also eine Nebelkerze ist, der die Probleme bei den spanischen Konservativen unterbelichtet lässt, dann ist das eben im separatistischen Lager genauso der Fall.
Michaelsen: Wie gehen denn die katalanischen Nationalisten mit dem Thema Korruption um?
Kellner: Eben widersprüchlich. Da ist die Korruption der Volkspartei ein Argument für den Kampf um die Unabhängigkeit. Die Korruption demonstriert, wie verfault der spanische Staat ist, den man so schnell wie möglich verlassen muss. Aber im eigenen Lager wird sie eben ausgeblendet. Wenn man sie darauf anspricht, das habe ich mehrmals getan, dann sind die Antworten oft, dass es sich ja um sehr alte Fälle handelt, oder dass es die Partei, um die es da geht, ja gar nicht mehr gibt. Das sind teilweise ähnliche Antworten, mit denen auch Spaniens Konservative auf den Korruptionsvorwurf reagieren. Und diese Partei, um die es geht, die hat natürlich eine Nachfolgepartei, der auch der ehemalige Ministerpräsident Puigdemont angehört. Und es gibt noch einen weiteren Widerspruch: Die spanische Justiz wird oft als Willkürjustiz dargestellt, wenn sie beispielsweise separatistische politische Anführer verfolgt. Diese Justiz steht dann politisch völlig unter Kontrolle der spanischen Regierung - so ist das Narrativ. Gleichzeitig ist hier die Ermittlungsarbeit von Polizei und Justiz aber ganz offenbar glaubwürdig, wenn sie sich eben gegen den politischen Gegner richtet.
"Keine Debatte zwischen den politischen Lagern"
Michaelsen: Was Sie uns schildern, was sagt das aus über die politische Debatte in Katalonien, wo sich ja heute in Barcelona das neue Parlament konstituiert?
Kellner: Man könnte jetzt ketzerisch fragen, welche Debatte? Denn ich denke, es gibt überhaupt keine politische Debatte in Katalonien, zumindest nicht zwischen den politischen Lagern. Jeder spricht nur für das eigene Lager. Der öffentliche Raum ist ein Stück weit ersetzt worden auch in Katalonien durch diese sogenannten Filterblasen, die dann auch von den Medienstrategen viel leichter zu kontrollieren sind. Und da gibt es dann nur Nachrichten eben, die den eigenen Standpunkt schon bestätigen und keine, die ihn infrage stellen. Das führt dann auch zu ganz konkreten politischen Entscheidungen. Es wurde zum Beispiel lange darüber diskutiert, ob Puigdemont für das Amt des Ministerpräsident überhaupt kandidieren kann, wenn er denn nicht aus dem Exil in Belgien nach Spanien zurückkehrt. Der juristische Dienst des Parlaments hat ganz klar gesagt, das geht nicht, es kann niemand Ministerpräsident werden, der nicht auch in Katalonien ist. Aber das dringt eben nicht in die Filterblase der Separatisten hinein. Gestern Abend haben sie eine ganz konkrete Entscheidung getroffen: Sie haben sich eben darauf geeinigt, Puigdemont zu nominieren für diese Kandidatur im Parlament. Voraussichtlich Ende dieses Monats kommt es dann zur Wahl. Es gibt auf der anderen Seite aber eben auch Parallelwelten. Das führt dazu, dass die Konservativen nicht über eine umfassende Föderalismusreform sprechen wollen, und das Ergebnis ist, es gibt eben überhaupt keine Kommunikation.
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