"Die Grundlage unserer Legitimität ist das Vertrauen der Bevölkerung", sagt Alvaro Ortiz. Er ist in Spanien derzeit ein gefragter Gesprächspartner. Als Vorsitzender des Verbands der Fortschrittlichen Staatsanwälte darf er, was seinen Kollegen nicht gestattet ist: Er darf sich öffentlich über die Zustände in seinem Berufsstand beschweren. Der Staatsanwalt nimmt kein Blatt vor den Mund:
"Diese vielen Skandale und Veröffentlichungen der letzten Tage führen dazu, dass wir dieses Vertrauen verlieren. Es hat Jahre gebraucht, dieses Vertrauen aufzubauen und wir können es ganz schnell wieder zerstören. Das betrifft die Arbeit aller Staatsanwälte."
Ortiz bezieht sich unter anderem auf ein abgehörtes Gespräch von Ignacio González, dem ehemaligen und inzwischen inhaftierten konservativen Regierungschef der Region Madrid mit einem Parteifreund: "Wir könnten uns doch um den Antikorruptionsstaatsanwalt kümmern", sagt Ignacio González wörtlich und weiter: "Moix ist seriös und gut. Entweder hast Du den Staatsapparat und die Medien unter Deiner Kontrolle oder Du bist so gut wie tot." Am Ende ernannte der Generalstaatsanwalt tatsächlich den vom Politiker favorisierten Juristen zum Chef der Sonderstaatsanwaltschaft für Korruption:
Alles andere als Small Talk
"Das hört sich vielleicht nach Small Talk an. Aber was danach geschieht, erhärtet doch den Verdacht, dass hier nicht einfach geplaudert wurde. Im Anschluss wurde der Generalstaatsanwalt ausgetauscht und ein neuer Chef für die Antikorruptionsstaatsanwaltschaft ernannt. Das ist sehr besorgniserregend. Man stelle sich einmal vor, es ginge hier um ein Terrorkommando, und einer der Anführer sagt zum anderen: 'Besser es wird dieser oder jener Staatsanwalt'"
In Spanien benennt die Regierung den Generalstaatsanwalt, der seinerseits alle obersten Staatsanwaltschaften in den Regionen besetzt. So geschah es auch im November, nachdem Manuel Rajoy nach einer langen politischen Blockade im Parlament zum Ministerpräsidenten wiedergewählt wurde. Seither greift die Generalstaatsanwaltschaft immer stärker in die Untersuchungen von Korruptionsfällen ein: Ermittelnde Staatsanwälte werden abgelöst, Ermittlungen infrage gestellt. Manche haben schon gedroht, sich Dienstanweisungen zu widersetzen. Die Organisation Fortschrittlicher Staatsanwälte fordert darum seit Langem eine Justizreform, die die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft von der Regierung sicherstellt. Doch für einen grundsätzlichen Kurswechsel in der Korruptionsbekämpfung reiche auch das nicht aus, sagt ihr Sprecher:
"Es gibt keine Bereitschaft zur Zusammenarbeit seitens der Behörden oder der Politik bei den Ermittlungen. Das vermissen wir sehr. Ihnen geht es weniger um Aufklärung als darum, Dinge zu vertuschen. Wenn die Politiker in Spanien sagen, sie wollen mit der Justiz zusammenarbeiten, sehen wir davon in der Praxis nichts. Uns werden keine Indizien, Daten oder Dokumente zur Verfügung gestellt, mit der wir die Korruption bekämpfen können. Dabei wäre jeder Beschäftigte in einer Behörde in der Lage, korruptes Verhalten als solches festzustellen."
Ciudadanos: "Eine klare rote Linie bei der Korruption ziehen"
Auch bei der mutmaßlichen doppelten Buchführung der Volkspartei hielt sich die Bereitschaft zur Aufklärung in Grenzen. Die Partei ließ die Festplatten des Computers ihres inhaftierten Ex-Geschäftsführers zerstören. Mariano Rajoy soll in dem Fall demnächst vor Gericht als Zeuge vernommen werden. Dennoch sitzt der spanische Regierungschef fest im Sattel. Seine Regierung hat gerade den Haushalt für das laufende Jahr ins Parlament eingebracht, der Ministerpräsident ist zuversichtlich, die für die Parlamentsmehrheit notwendige fehlende Stimme zu bekommen. Politologe Fernando Vallespín meint dennoch, die Volkspartei bezahle inzwischen einen hohen Preis für die Korruption:
"Die Volkspartei hat jetzt einen Wettbewerber in ihrem eigenen ideologischen Terrain, Ciudadanos. Der rechtskonservative Wähler hat jetzt die Möglichkeit, sich für eine andere Partei zu entscheiden. Ciudadanos will Spanien nicht unregierbar machen, zieht aber bei der Korruption eine klare rote Linie und hat sich der ethischen Erneuerung des politischen Systems Spaniens verpflichtet."
Misstrauensvotum der Opposition bislang gescheitert
Allerdings: Abwählen würde Ciudadanos Rajoy trotz allem nicht. Die linkspopulistische Podemos versucht gerade, eine Mehrheit für ein Misstrauensvotum zusammenzubringen. Doch das scheitert an der zerstrittenen Opposition:
"Für ein Misstrauensvotum benötigt man bei uns einen Gegenkandidaten. Auf einen solchen gemeinsamen Kandidaten, der Rajoy ablösen würde, kann sich die Opposition aber nicht einigen. Das Gute an dem Vorgehen von Podemos ist trotzdem: Es gibt eine Parlamentsdebatte über die Korruption, die Leute sehen, wie inakzeptabel das alles ist."