Archiv


Kosmische Kollision

Die verheiratete Astrophysikerin Harriet trifft durch einen Zufall auf ihre alte Jugendliebe Peter - und verfällt ihm erneut. Ohne Rücksicht auf Verluste. Draesner erzählt eine Geschichte aufgeladener Elemente - zwischen Anziehung und Abstoßung.

von Claudia Kramatschek | 09.08.2010
    Weiß die Sekunden in der Parabel, Flug um Flug, Sturz um Sturz, das Weiß der Rotation, als noch einmal etwas aus ihrem Schädel dringt, obwohl ihr Gehirn sich bereits außerhalb der Knochen befindet – von Neuem wölbt es sich aus, presst durch kleinste Ritzen nach unten und außen, Beschleunigung auf höchster Stufe.

    Sieben Minuten hält es Harriet Saramandipur in der Testkapsel aus, in der sie mit überirdischer Geschwindigkeit um sich selbst gewirbelt wird. Denn Harriet hat einen Traum: Die Astrophysikerin der Spitzenklasse und Ulrike Draesners erzählerisches Zentralgestirn möchte die Erdenschwere überwinden und ins Weltall fliegen. Obwohl gerade sie am besten weiß, dass das All: nichts ist. Doch ausgerechnet die Schwerkraft wird ihrem Traum vom Fliegen einen profanen Strich durch die Rechnung ziehen. Denn Harriets Lebensgefährte Ash, ein Luftfahrtingenieur, übersieht beim Abbiegen mit dem Auto eine Frau auf dem Fahrrad: Es ist Maria, die kirschmundige Ehefrau von Harriets einstiger Jugendliebe Peter, einem evangelischen Pfarrer. Amor fati frohlockt: Harriet begegnet Peter beim Pflichtbesuch im Krankenhaus und verfällt ihm erneut. Ohne Rücksicht auf Verluste – denn nicht nur ihr wohlgeordnetes Leben mit Ash wird aus den Fugen geraten.

    "Ein anderer Titel für dieses Buch wäre gewesen "Die Liebesegoisten". Weil sie eigentlich alle sehr egoistisch handeln, Harriet allemal. Sie hat sozusagen diese große Liebesenttäuschung am Anfang erlebt, dann hat sie sich davon erholt, wie man sich so erholt davon mit Affären, hat dann eine längere Beziehung begonnen, hat angefangen sich auf ihren Beruf zu konzentrieren und auf die Anforderungen dieses Berufs. Da geht es um Spitzenforschung, und da geht es darum zu funktionieren, nämlich spitz wie eine Nadel, um sich da durchzusetzen. Der Wettkampf ist brutal, und er ist international, er ist global, und da funktioniert sie relativ gut. Auf Kosten des Innenlebens und des Gefühlslebens. Und diese Figur, die so zur Nadel geschrumpft ist und so akut geworden ist – die wird plötzlich mit dem alten eigenen Ich, das so stark fühlte, konfrontiert und muss lernen, wieder, was fühlen überhaupt sein könnte."

    "Vorliebe", Draesners dritter Roman, handelt damit auf den ersten Blick von einer alltäglichen und insofern fast kitschig anmutenden Geschichte: einem Ehebruch zwischen zweien, deren Liebe nicht funktionieren kann, weil es Ehebruch ist. Doch der erste Blick täuscht – "Vorliebe" ist eben keine moderne Neuauflage der "Wahlverwandtschaften". Nur von Ferne bezieht Draesner sich auf das im 19. Jahrhundert angesagte literarische Schema des klassischen Ehebruchromans. "Vorliebe" dagegen lebt nicht so sehr von dem, was Draesner erzählt, sondern wie Draesner erzählt: Bewusst spielt sie hier nämlich mit einem ganzen Arsenal tradierter Klischees über die romantische Liebe und speist es ein in unsere heutige Welt, in der ein Ehebruch nur scheinbar kein Tabu mehr ist.

    Peter war ein Fisch im Kescher, glitzernd und zappelnd am pechschwarzen Rand ihres Bewusstseins ... Ihr vernünftiger Teil sagte: es ist etwas Berufliches. Mit einem Theologen reden. Das gibt Reibung, Inspiration! Astrophysiker versuchten, das Reich der Zahlen auszudehnen in dunklen endlosen Raum, der aus dunklen endlosen Räumen bestand. Unendlichkeit, Unfassbares. ... Ihren Lieblingssatz wollte sie ihm sagen: "Wir Astrophysiker sind die Romanciers unter den Naturwissenschaftlern. Wir erzählen euch Geschichten vom Anfang der Welt." Sie hatte nachgelesen und entdeckt, dass die Bibel die Schöpfung in zwei Versionen enthält. Es wunderte sie nicht.

    Harriet erfährt den Spagat zwischen zwei Versionen der Liebe am eigenen Leib. Draesner aber zielt auf dem Hintergrund dieser Folie zugleich ab auf eine Art kosmischer Kollision: auf das Ringen von Projektion und Wirklichkeit, von Liebesseligkeit und der von ihr sogenannten Erdenblödigkeit, ausgetragen zwischen der Physikerin und dem Theologen, die beide über die sogenannten letzten Dinge nachdenken und feststellen müssen, dass die Theorie das eine, der Körper aber das andere ist. Doch Vorsicht: Bei aller vermuteten Leidenschaft entpuppt sich "Vorliebe" wie ein auf Gefrierschock eingestelltes Erzähllabor: Mit kühlem Blick schickt Draesner nämlich ihre vier Figuren wie aufgeladene Elemente in ihren erzählerischen Teilchenbeschleuniger und schaut, was zwischen Anziehung und Abstoßung passiert. Peter ist so sehr fliehende Kraft, wie Harriet die treibende Kraft ist in diesem Spiel – auch, wenn sie selbst sich treiben lässt im Strudel der Gefühle, der ihr den Boden unter den Füßen immer mehr entzieht. Maria ist eine Künstlerin der Anpassung; Ash dagegen leidet an Reibungsverlust. Peter aber wird am Ende wie Orpheus untergehen.

    "Ich finde es ein sehr schönes Bild zu sagen, da ist sozusagen ein Gefäß, nämlich eine bestimmte Lebenswelt, und da werden die vier Figuren hinein gestellt. Und dann gucken wir mal, was passiert, wenn die sich plötzlich berühren oder einfach auch räumlich/zeitlich einander nahe kommen oder auseinander treiben. Es gibt ein Motto zu diesem Buch, das ist von Novalis und heißt: Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft. Da war meine Vorstellung immer: Man ist dieses Ich im Beruf, dieses Ich vor den Eltern, dieses Ich den Kindern gegenüber, dieses Ich bei Partner X und dieses Ich bei Partner Y. Das ist quasi der Normalzustand: diese ausgeprägten einzelnen Identitäten, die dann auch im einzelnen Wesen, im Individuum anfangen miteinander zu reagieren, und sich auf unterschiedliche Weise mit den anderen ganz vielen Ichs da gegenüber verschalten: plötzlich habe ich 16 Figuren, die agieren. So explodiert das und so wird das unberechenbar und überraschend, was der Einzelne macht."

    Für Peter ist Harriet – mit deren Wahrnehmung wir fast durchgängig verschaltet sind – Harriet, für Ash dagegen ist sie Jet. Ich ist viele, aber wer ist ich? Immer größere emotionale Verwirrung beschleicht Harriet. Konsequent lässt Draesner daher auch die formale Struktur des Romans offen – es gibt kein Zentrum, dafür Sprünge und Brüche, in immer neuen Anläufen.

    Alles wie immer: Die sogenannte Liebe zerrte Menschen hinter sich her wie ein Hund Blechbüchsen, die man an seinen Schwanz gebunden hatte. Schnell und schneller rennt das Tier, die Liebenden hängen fest, suchen die Liebe, doch die rennt ja voraus, und irgendwann wirft sie die Liebenden ab, dong, und immer erst den einen, und dann den anderen, ding, und da kam Ashley zurück, und sie gingen, Ashley und Jet, in dasselbe Bett.

    Auch sprachlich balanciert Draesner gekonnt auf Messers Schneide: Realistisches und poetisches Erzählen stehen sich hier zwar nicht versöhnt, aber doch auf Augenhöhe gegenüber. Einerseits Einschübe aus der Erkenntnistheorie und böse Seitenhiebe auf die Wissenschaft, andererseits Anspielungen auf den Fundus von Märchen und Mythen. Es darf, es soll knirschen in diesem Roman. Als elegantes Scharnier und einzig verlässliches Navigationssystem dienen in diesem Gefüge allein die Farben – sie erzählen von Wärme- und Kältezuständen, von Lust und Last der Protagonisten. Kein Wunder: Schließlich ist es der Beruf der Fehlfarbenspezialistin Harriet, die Unendlichkeit in verständliche, aber dennoch fiktive Bilder zu übersetzen. Ist aber letztlich auch die Liebe nichts als ein Bild? Und: Was ist hinter dem Punkt, an den die Bilder reichen?

    "Es zeigt sich ja in allem, was Harriet tut als Astrophysikerin, dass die sogenannten harten Gesetze der Natur, das, was man berechnen kann, tatsächlich sehr bald an eine Grenze führt. Und da brechen diese Gesetze zusammen. Sie ist ja auch deswegen Physikerin, weil sie versucht, in diesen Bereich hinein zu kommen mit ihrem Denken. Und am Ende ist die Physik vielleicht, auf ihre Weise, irrationaler als die Theologie. Also irrational in dem Sinn: Sie muss ähnliche Verfahrensweisen anwenden, auch sie baut immer nur Modelle, aber weiß dabei, dass es Modelle sind. Und wunderbar war natürlich, dass die Urknall-Theorie von einem katholischen Theologen erfunden wurde."

    Letztlich werden Harriet und Peter nur zwei gemeinsame Tage vergönnt sein – dann schlägt die Schwerkraft der Realität auf ihren Wunsch, die Grenzen der 'Erdenblödigkeit' zu überschreiten, wie ein Bumerang zurück. Dass es nicht gut ausgeht, für keinen der Vier, hat man da schon lange geahnt. Draesner aber verhandelt dieses Drama mit der eiskalten Hitze einer Forscherin, die nicht die Synthese sucht, sondern die Dekonstruktion. Wer das mag, wird auch "Vorliebe" in seiner eleganten Sprödnis mögen.


    Ulrike Draesner: Vorliebe. Roman. Luchterhand Verlag 2010. 254 Seiten. Euro 19,95