Sein Büro in einem Hinterhof sei schwer zu finden, hat Rron Gjinovci am Telefon gesagt – und vorgeschlagen sich stattdessen in der Nationalbibliothek zu treffen, einem Achtzigerjahre-Klotz im Zentrum von Pristina. Außerdem, sagte er, sei das genau der richtige Ort, um über "Unregelmäßigkeiten" im kosovarischen Bildungssystem zu sprechen. "Unregelmäßigkeiten" – bei dem Begriff muss der 28-Jährige dann selbst ein bisschen grinsen. Denn was er und seine Mitstreiter über die Zustände an der größten und wichtigsten Hochschule im Land, der staatlichen Universität Pristina, herausgefunden haben, lässt sich nur als Betrug im großen Stil beschreiben.
Der Fall des früheren Rektors der Uni Pristina, Ibrahim Basha stand am Anfang. Er musste 2014 nach tagelangen Studentenprotesten zurücktreten, weil klar geworden war, dass er seine Arbeiten bei dubiosen, so genannten "Raubverlagen" veröffentlicht hatte. Der Investigativ-Journalist Rron Gjinovci gründete daraufhin "Orca", eine Organisation, die die Qualität der Bildung im Kosovo genauer unter die Lupe nimmt.
"Ich war mir sicher, dass Basha kein Einzelfall ist. Wir haben dann 2016 in einer ersten Untersuchung die Universitätsleitung - Rektor, Senatoren, Dekane – geprüft und festgestellt: Ein Drittel dieser Leute publiziert ebenfalls in dubiosen, in der Wissenschaft nicht anerkannten Journalen. Ein Jahr später dann haben wir uns sämtliche 481 Professoren von allen zwölf Uni-Fakultäten genauer angeschaut. Das schockierende Ergebnis: 72 Prozent dieser Professoren sind eigentlich nicht berechtigt, ihren akademischen Titel zu tragen."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Bildung im Kosovo - Versagen eines jungen Staates".
Für ihre 100 Seiten starke Studie hatten Gjinovci und sein Orca-Team vor allem die Lebensläufe der Hochschullehrer ins Visier genommen. Ein Lehrstuhlinhaber zum Beispiel muss laut Statuten der Uni Pristina mindestens fünf Artikel in international anerkannten Publikationen vorweisen können. 122 von 138 Professoren erfüllten diese Voraussetzungen bis 2017 allerdings nicht – und sie hatten trotzdem einen Lehrstuhl.
Bankrotterklärung des Bildungsministers
Auch Shyqyri Bytyqi dürfte täglich an den Sumpf aus Betrug und Korruption an der Uni Pristina erinnert werden: Der Bildungsminister hat sein Büro direkt gegenüber des Campus-Geländes. Natürlich sei das ganze Bildungssystem im Kosovo in keinem guten Zustand, erklärt er kleinlaut. Warum muss aber erst eine Organisation wie Orca auf die Idee kommen, die Qualität von Hochschullehrern zu kontrollieren? Die Antwort des Ministers kommt einer Bankrotterklärung gleich:
"Die Regierung hatte einfach nicht die Möglichkeit an relevante Informationen zu kommen. Darum haben wir unabhängigen Organisationen erlaubt das zu untersuchen - in Kooperation mit uns."
Nicht nur Betrug, auch Korruption grassiert im kosovarischen Hochschulwesen. Zu diesem Schluss kommen etwa zwei schottische Bildungsexperten in einem Bericht vom März 2017, erstellt im Auftrag der EU.
"One of the things when we spoke to the students… one of the things they said was that they were aware of what we’ve called' 'vulgar corruption'."
Alltägliche Korruption
Was das konkret heißt, berichteten Tom Hamilton und Ian Smith auch im kosovarischen Fernsehen: "Vulgar corruption", also Korruption auf einem niedrigen, alltäglichen Level sei im kosovarischen Hochschulwesen völlig normal - Studenten zum Beispiel, die Bestechungsgelder für gute Noten an Dozenten zahlten genauso wie Hochschullehrer, die von sich aus ein solches Angebot machten.
Auf dem Uni-Campus wird diese Praxis von vielen Studierenden hinter vorgehaltener Hand bestätigt. Auch könne man Haus- und Abschlussarbeiten kaufen, im Internet werde das ab 200 Euro angeboten.
Immerhin seien Themen wie Betrug und Korruption im Hochschulwesen jetzt auf dem Tisch, und es gebe durchaus spürbare Fortschritte, resümiert Rron Gjinovci. So seien unmittelbar nach Veröffentlichung der Orca-Studie sämtliche Beförderungen an der Uni Pristina ausgesetzt geworden. Es gebe seit Anfang 2018 auch schärfere Regularien, die exakt festlegen, wo und wie Professoren veröffentlichen dürfen. Dennoch bleibt das gesamte Thema Bildung für Orca-Chef Rron Gjinovci ein Fass ohne Boden:
"Selbst wenn einzelne, wie der Bildungsminister, im System etwas grundlegend ändern wollen, fehlt meistens der politische Wille in seiner Partei oder aufseiten der Regierung. Das verpufft. Wenn es um Bildung geht im Kosovo, wird immer nur improvisiert. Niemand hier, keine der politischen Parteien, hat aber einen echten Plan, wohin es gehen soll mit der Bildung. Wie soll sich da wirklich etwas ändern? Alle Entscheider aus Politik und Zivilgesellschaft müssen darum dringend an einen runden Tisch, um einen solchen Plan zu entwerfen. Wenn das nicht innerhalb der kommenden zwei Jahre passiert, sehe ich schwarz für die Bildung im Kosovo."