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Kosten des demografischen Wandels
"Mehrbelastung schon heute Realität"

Rente, Gesundheit und Pflege werden in zehn Jahren zu einer Mehrbelastung von bis zu einem dreistelligen Milliardenbetrag führen. Das hat die EU-Kommission errechnet. Diese Prognose sei schon jetzt Realität und auch für jeden nachlesbar, sagte der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg im DLF.

Herwig Birg im Gespräch mit Jürgen Liminski |
    Zwei Spaziergänger gehen am 13.01.2014 in Ostfildern bei Stuttgart (Baden-Württemberg) durch den Scharnhauser Park, einer von ihnen nutzt einen Rollator.
    Herwig Birg: "Unser gesamtes soziales Sicherungssystem ist verfassungswidrig." (picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert)
    Jürgen Liminski: In zehn Jahren, so die EU-Kommission, dürfte die jährliche Mehrbelastung einen dreistelligen Milliardenbetrag ausmachen. Aber das sind noch Zahlen für die Zukunft. Gibt es heute schon einen Niederschlag durch das demografische Defizit?
    Herwig Birg: Ja, nicht erst heute schon, sondern auch in den vergangenen Jahren kann das jeder nachlesen. Zum Beispiel beträgt der steuerfinanzierte Zuschuss zur Deckung des Rentendefizits der gesetzlichen Rentenversicherung bereits über 80 Milliarden Euro pro Jahr und hinzu kommen Zuschüsse zur Pflegeversicherung, Krankenversicherung.
    Also, wir haben heute schon einen dreistelligen Betrag, der nicht erst in zehn Jahren auf uns zukommt. Zu bedenken ist aber auch, dass unser jährliches Wirtschaftswachstum um einen ganzen Prozentpunkt niedriger ist, als es wäre, wenn wir eine stabile demografische Entwicklung hätten. Ein Prozentpunkt vom Bruttoinlandsprodukt sind auch wieder 30 Milliarden Euro, die uns jährlich entgehen. Entsprechend hoch sind die entgangenen Steuereinnahmen. Also, was die Kommission hier für die Zukunft voraussagt, ist schon Realität heute.
    "Kinderlosigkeit hat viele Faktoren"
    Liminski: Der Bericht geht kaum auf die Ursachen, sondern vorwiegend auf die Folgen der Vergreisung ein. Und eigentlich ist es ja schön, dass wir alle ein wenig länger leben. Was ist denn die Hauptursache der Vergreisung und kann man daran heute etwas ändern?
    Birg: Die Hauptursache der niedrigen Kinderzahl pro Frau, die ja seit Jahrzehnten etwa 1,4 beträgt, liegt darin, dass ein immer größerer Teil der Bevölkerung eine Geburtenrate von null hat, also zeitlebens nicht 1,4 Kinder, sondern null Kinder hat. Dieser Anteil an den verschiedenen Geburtsjahrgängen wuchs ständig, seit Jahrzehnten. Er beträgt jetzt beispielsweise bei den 1970 Geborenen bereits 26 Prozent. Und wenn man die alten Bundesländer betrachtet, sogar über 30 Prozent.
    Diese Zahlen sind hinter dem Durchschnitt von 1,4 und bedeuten, dass der Durchschnitt aus zwei Teilen sich zusammensetzt: Eine Geburtenrate von null und eine Geburtenrate von Menschen, die überhaupt Kinder haben. Und diese zweite Geburtenrate beträgt rund zwei Kinder pro Frau, seit Jahrzehnten konstant. Also, die Gesellschaft spaltet sich in einen Teil, der eine Geburtenrate von null hat, und einen Teil, der Kinder hat. Und die beiden Teile driften ständig auseinander. Das ist sozusagen technisch gesehen die Hauptursache. Was nun wiederum die Faktoren sind, die dazu geführt haben, ist ein weites Feld.
    Das reicht von Einstellungen zum Leben überhaupt, also, beispielsweise können wir aus der Schweizer Volkszählung entnehmen, dass die höchsten Geburtenrate Menschen haben, die religiös orientiert leben, die Hindus und Moslems haben weltweit die höchste Geburtenrate. Diese Faktoren, die also an die religiöse Orientierung des Menschen erinnern, sind zu kombinieren mit ganz handfesten Benachteiligungen der Familien durch die Steuergesetzgebung, durch viele andere Dinge.
    Liminski: Die Politik versagt, schreiben Sie in Ihrem Buch. Was könnte die Politik denn heute schon oder noch tun?
    Birg: Zunächst einmal wäre wichtig, dass die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Themenfeld umgesetzt werden. Sie werden ja bisher ignoriert, da gibt es zwei wichtige Urteile. Das sogenannte Trümmerfrauenurteil und das Urteil zur Pflegeversicherung sagen ja, zugespitzt ausgedrückt, dass unser gesamtes soziales Sicherungssystem verfassungswidrig ist, weil Menschen im Alter, die keine Kinder haben, von den Nachkommen der anderen, die Kinder haben, versorgt werden müssen. Das geht gar nicht anders. Und zwar entweder durch die Beitragszahlungen des Sozialversicherungssystems oder durch Steuerzahlungen. Das ist in den Urteilen klar als Grund zu entnehmen und die Politik ignoriert diese Urteile.
    Also, wenn man sie endlich umsetzen würde, würde man die Probleme der sozialen Gerechtigkeit endlich besser lösen und damit gleichzeitig auch das demografische Problem entscheidend entschärfen, weil zu erwarten ist, dass dann die Geburtenrate steigt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.