Christiane Kaess: Fast 200.000 Kinder und Jugendliche lebten laut einer Sprecherin des Bundesfamilienministeriums im Jahr 2017 in Deutschland in Heimen, bei Pflegeeltern oder in Kinderdörfern. Oft haben sie, wenn sie volljährig werden, keinen einfachen Start in ein selbständiges Leben – unter anderem auch deshalb, weil der Staat ihnen finanziell einiges abverlangt. Darauf machen betreuende Einrichtungen jetzt aufmerksam.
Birgit Lambertz ist stellvertretende Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf. Guten Morgen, Frau Lambertz!
Birgit Lambertz: Ja, guten Morgen!
Jugendliche brauchen mehr Unterstützung
Kaess: Was passiert, wenn eines dieser Kinder, das in einem Heim aufwächst oder von Pflegeeltern betreut wird, volljährig wird?
Lambertz: Das ist ein großer Einschnitt für diese Kinder und die Situation ist deutlich anders, als sie wahrscheinlich bei vielen Kindern, die in intakten Familien aufwachsen können, normalerweise ist. Das heißt, dass sie mit Selbständigkeit eigentlich vollständig selbständig sein sollen. Sie müssen die Wohngruppe und die Einrichtung verlassen, die bisher ihr Zuhause gewesen ist. Und sie sollen auf eigenen Füßen stehen.
Da muss man wissen: Wir sprechen von Kindern und Jugendlichen, die oft schon ganz schwierige Lebenssituationen überstanden haben und für die wir eigentlich das gleiche Recht auf gute Rahmenbedingungen und Chancen für eine gute Zukunft fordern, wie sie andere Kinder in den Familien auch haben.
Kaess: Was würden Sie sich da konkret wünschen?
Lambertz: Dass die Jugendlichen zunächst einmal Jugendhilfe über das 18. Lebensjahr hinaus regelhaft erhalten können. Das ist heutzutage eine Kann-Bestimmung. Das bedeutet für junge Menschen, dass sie immer wieder einen Antrag stellen müssen, dass immer wieder hinterfragt wird, ob sie noch Hilfe brauchen.
Ich erinnere mich selber an einen jungen Erwachsenen, der im Rahmen der familiären Schwierigkeiten, bevor er zu uns gekommen ist, auf die Hauptschule wechseln musste und sich dann in der Wohngruppe in die gymnasiale Oberstufe zurückgekämpft hat. Dann musste er mit 18 ausziehen in der Klasse zwölf. Ich kann mir kaum vorstellen, dass normale Familien von ihrem Kind im zwölften Schuljahr erwarten, dass es sich in eine eigene Wohnung begibt, und dann auch noch sagen, ruf nicht mehr an, weil es ja dann keine Unterstützung mehr bekommt.
Es ist uns gelungen, mit viel Hilfe, mit vielen Gesprächen den Kostenträger zu bewegen, dass der junge Mann zumindest weiterhin eine stundenweise Begleitung erhalten konnte. Aber das hieß gerade in der Phase des Abiturs, eigentlich auf sich alleingestellt zu sein - die Zeit, die man normalerweise braucht, um das Fundament auch für ein gelingendes Leben zu legen.
Kostenheranziehung kann "extrem demotivierend" sein
Kaess: Auf sich alleingestellt sein, das ist eine Kritik, die Sie haben, dass das für viele dieser jungen Erwachsenen viel zu früh kommt. Ein anderer bezieht sich auf die finanziellen Verhältnisse, und da kommt die sogenannte Kostenheranziehung ins Spiel. Es gibt junge Erwachsene, die 75 Prozent ihres ersten Einkommens an den Staat abgeben müssen. Wen betrifft das genau?
Lambertz: Das betrifft eigentlich alle, selbst diejenigen, die einen Ferienjob machen, und normalerweise sind Ferienjobs ja etwas, die man als Eltern sehr begrüßt, weil die Kinder die ersten Erfahrungen mit der Arbeitswelt machen, weil sie erkennen, dass es einen Zusammenhang zwischen eigener Anstrengung und Erfolg gibt. Wenn man dann schon von einem Ferienjob, den man macht, 75 Prozent zur Kostenheranziehung abtreten muss, dann ist das natürlich extrem demotivierend, und das gilt selbstverständlich dann auch für Ausbildungsbeihilfe oder andere Einkünfte, die die jungen Menschen haben.
Kaess: Aber das gilt, um es noch mal deutlich zu machen, für diejenigen, für die der Staat nach wie vor Unterkunft, Verpflegung und Taschengeld zahlt.
Lambertz: Genau! Das ist durchaus nachvollziehbar, dass man, wenn man regelmäßiges Einkommen hat, dann natürlich auch seinen Beitrag zu diesen Kosten wie Kost und Logis leisten sollte. Man muss aber auch bedenken, dass junge Menschen, die in Familien aufwachsen, heutzutage den Begriff Kostgeld eigentlich gar nicht mehr kennen, oft nur einen sehr kleinen Beitrag leisten müssen und auch vielfältige Unterstützung von ihrer Familie bekommen.
Die jungen Menschen in der Jugendhilfe haben diese Unterstützung durch die Familien nicht und sie müssen viele Dinge selbst finanzieren und selbst bezahlen, die sie so von anderer Seite nicht bekommen können, und daher sollte dieser Kostenbeitrag fair sein, dass die jungen Leute auch noch eine Chance haben, zum Beispiel einen Führerschein zu machen, wenn sie den später für den Beruf auch brauchen, oder auch ein bisschen für die Zukunft zurückzulegen.
Hilfe für junge Volljährige sollte reguläre Leistung werden
Kaess: Das wäre jetzt genau die Frage. Wieviel Beteiligung von jungen Erwachsenen wäre denn aus Ihrer Sicht angemessen, oder was würden Sie sich konkret noch von der Politik wünschen?
Lambertz: Wir würden uns zwei Dinge ganz konkret von der Politik wünschen. Zum einen, dass die sogenannte Hilfe für junge Volljährige eine reguläre Leistung wird, die nicht immer im Einzelfall als Ausnahme gewährt wird, sondern die selbstverständlich so lange den jungen Leuten zugutekommt, bis sie tatsächlich auf eigenen Füßen stehen.
Kaess: Finanziell heißt das, weiter Geld, nachdem junge Erwachsene aus diesen betreuenden Einrichtungen ausgezogen sind?
Lambertz: Das bedeutet, dass sie vor allen Dingen Unterstützung bekommen durch Mitarbeiter, die ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen, die sie beraten. Es geht darum, an wen wende ich mich, wenn ich Ärger mit meinem Vermieter habe, was mache ich, wenn die Beziehung auseinandergebrochen ist und ich vor Liebeskummer nicht aus und ein weiß, wie gehe ich mit Formularen vom Amt um. Das sind alles Dinge, wo junge Leute Unterstützung brauchen, wo sie dann, wenn sie keine Familie haben, natürlich auch von Profis begleitet werden müssen, und das sind natürlich Dinge, die über die Jugendhilfe finanziert werden sollten.
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