"Wir gewinnen mehr als wir verlieren. Erstens haben die Bürger jetzt mehr Alternativen, was die Mobilität in der Stadt angeht. Zweitens gibt es Umweltvorteile, zum Beispiel die verbesserte Luftqualität. Drittens hat sich der Verkehrsfluss verbessert, und die Anzahl der Autos auf der Straße ist um rund zehn Prozent gesunken."
Tallinns inzwischen wegen nicht eben landesuntypischer Bestechungsvorwürfe suspendierter Bürgermeister Edgar Savisaar im Mai 2013 - damals noch in Amt und Würden und mächtig stolz auf das Prestigeprojekt seiner estnischen Hauptstadt. Nach einer Volksabstimmung hatte man die freie Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel eingeführt. Kosten: 16 Millionen Euro jährlich. Finanzierung: Steuermehreinnahmen durch neu zugezogene Bürger, freiwerdende Mittel nach abgeschlossenen Großbauprojekten und Fördergelder der EU. Für Risto Piirsalu bedeutete das einen sicheren Arbeitsplatz. Er ist Busfahrer und meint:
"Seit der öffentliche Nahverkehr hier kostenlos ist, fahren deutlich mehr Leute mit dem Bus. Sicherheitsprobleme habe ich nicht bemerkt. Da hatte es ja anfangs Bedenken gegeben."
Passagierzahlen nur geringfügig gestiegen
Vor allem die Angst vor hoffnungslos überfüllten Bussen und Straßenbahnen. Aber das ist nicht passiert. Nach fünf Jahren verzeichnet der öffentliche Nahverkehr ein Plus von gerade einmal zehn Prozent. Merliin Grauberg ist erst vor kurzem nach Tallinn gezogen und vom Angebot begeistert, er sagt:
"Seit ich in Tallinn arbeite, nutze ich täglich den öffentlichen Nahverkehr. Das ist praktisch, weil ich ja nichts bezahlen muss."
Doch nicht alle machen mit. Viele würden gerne, können aber nicht, denn einige Vororte der Hauptstadt sind auch fünf Jahre nach dem Start des kostenlosen Nahverkehrs nicht optimal ans Netz angebunden. Das soll sich ändern. Neue Strecken sind geplant, seit Kurzem sind auch Regionalzüge im Umkreis Tallinns ins System einbezogen, und die estnische Regierung denkt über die ganz große Lösung nach, sagte Wirtschaftsministerin Kadri Simson Ende vergangenen Jahres im estnischen Rundfunk:
"2018 wird die Unterstützung für den öffentlichen Nahverkehr in ganz Estland 34,8 Millionen Euro betragen. Das genügt, um ab dem 1. Juli das Liniennetz zu verbessern und alle Zentren für den öffentlichen Nahverkehr zu unterstützen. Wir haben in der Koalition vereinbart, dass diese Zentren selbst beschließen sollen, ob sie die Gelder dazu nutzen, kostenlosen Nahverkehr einzuführen, oder nicht."
Es könnte also ab Sommer in ganz oder zumindest in fast ganz Estland freie Fahrt geben für alle, wohlgemerkt für alle Esten: Schon jetzt dürfen in der Hauptstadt nur die etwa 430.000 Bewohner umsonst fahren, wenn sie einen Personalausweis haben und registrierte Kunden sind. Die vor allem durch den Boom der Ostsee-Kreuzfahrten immer zahlreicheren Besucher der Stadt müssen Fahrkarten kaufen oder sie besorgen sich am besten gleich für zwei Euro eine Smartcard, auf die dann Tickets geladen werden, übrigens zu ziemlich günstigen Preisen. Die 24-Stunden-Karte kostet gerade mal drei Euro!