Dramatische Nachtsitzungen, Marathon-Verhandlungen, Hinterzimmer-Gespräche – wer in Brüssel auf EU-Ebene arbeitet, kennt diese Begleitumstände europäischer Politik. Schon immer ist es schwierig, die unterschiedlichen Interessen der mittlerweile 27 EU-Länder auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die gewaltige Dimension des von der EU geplanten Corona-Hilfspaketes macht es diesmal jedoch offenbar besonders schwierig, einen für alle Seiten tragbaren Kompromiss auf die Beine zu bringen.
Bert van Roosebeke arbeitet am Zentrum für Europäische Politik, einer europapolitischen Denkfabrik mit Sitz in Freiburg. Die Verhandlungen über einen EU-Haushalt für sieben Jahre seien auch in der Vergangenheit ein Pokerspiel gewesen, sagt er. Aber diesmal habe die Auseinandersetzung doch etwas sehr Grundsätzliches: "Es entlädt sich eigentlich all das, was sich über die Jahre aufgestaut hat an unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie die Eurozone regiert wird und was die Europäische Union für die Mitgliedsstaaten überhaupt sein soll."
Die Fronten sind van Roosebeke zufolge äußerst verhärtet. Der Norden empfinde es als unfair, Geld in den Süden zu verteilen. Der Süden hingegen wolle nicht bevormundet werden, indem Gelder an Reformen geknüpft würden. Deutschland und Frankreich hatten sich im Vorfeld des Gipfels für 500 Milliarden Euro Zuschüsse ausgesprochen, die nicht zurückgezahlt werden müssen - eine Summe, die am Montag von den selbsternannten "Sparsamen Fünf" auf unter 400 Milliarden Euro heruntergehandelt war.
"Es entlädt sich, was sich über die Jahre aufgestaut hat"
Auch hier offenbare sich eine Kräfteverschiebung. Der traditionsreiche "deutsch-französische Motor" habe die Tiefe der Gräben und das Ausmaß an Gegenwehr unterschätzt, sagt der Politikbeobachter. Dabei seien die Positionen etwa der Niederlande vorher bekannt gewesen:
"Holland hat jetzt in den letzten zwei Jahren immer wieder an sehr vielen Punkten Bescheid gegeben, dass es hier eine sehr schmerzliche Linie ist, die überschritten wird. Wir haben auch noch andere Gruppen, die hanseatische Gruppe mit deutlich mehr Mitgliedsstaaten. Man weiß schon, dass im Norden der Eurozone, im Norden Europas sehr viel Widerstand da ist. Unterm Strich hat man, glaube ich, schon unterschätzt, wie weit diese Gruppe gehen will, wie aufmüpfig die sind."
Es sei sehr vieles im Fluss in der Union, und die Überzeugungskraft Deutschlands und Frankreichs zusammen sei "definitiv nicht mehr so vorhanden, wie sie es vor wenigen Monaten noch war", so van Roosebeeke.
Das Interview im Wortlaut:
Stefan Heinlein: Viel Dramatik, lange Verhandlungen in Brüssel – ist das alles aus Ihrer Sicht nur Theaterdonner? Das Happy End ist bereits geschrieben?
van Roosebeke: Na ja. Solche Verhandlungen und insbesondere, wenn es um den Haushalt der EU geht, der ja nur alle sieben Jahre verhandelt wird, das sind immer Pokerspiele. Das dauert immer lange, das wird immer auch sehr emotional. Aber ich glaube, dieses Mal sehen wir doch so etwas wie eine Offenbarung. Es entlädt sich eigentlich all das, was sich über die Jahre aufgestaut hat an unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie die Eurozone regiert wird und was die Europäische Union für die Mitgliedsstaaten überhaupt sein soll.
Heinlein: Steht die EU, wenn ich Sie richtig verstehe, auf diesem Gipfel durchaus am Scheideweg? Steht in Brüssel in diesen Tagen auch der europäische Gedanke, Solidarität, Zusammenarbeit auf dem Prüfstand?
van Roosebeke: So weit würde ich nicht gehen. Aber dass die EU als solche am Scheideweg steht, das ist, glaube ich, unbestritten. Das Paket, das auf dem Tisch liegt, ist eine enorme Änderung gegenüber all dem, was wir in den letzten zehn Jahren schon an Krisenmaßnahmen hatten, und das waren ja auch nicht wenige. Jetzt soll die EU massiv Schulden aufnehmen. Jetzt soll Geld als Zuschuss letztlich verschenkt werden, wenn man so will. Es wird im Großen und Ganzen auf wirtschaftspolitische Auflagen verzichtet, oder die werden zumindest abgemildert. Viel weitergehend als alles, was wir in den letzten im Rahmen des ESM etwa gesehen haben, und dass das zu großen Diskussionen sehr, sehr, sehr grundlegender Art führt, wo es letztlich auch um Vertrauen geht, das ist logisch, das ist normal, aber das macht die Sache natürlich extrem schwierig.
"Die Probleme sind hausgemacht"
Heinlein: Sie sagen in Ihrer ersten Antwort, es entlädt sich jetzt, was sich in vielen Jahren angestaut hat. Was hat sich denn angestaut?
van Roosebeke: Je nach Perspektive, wenn wir mal anfangen mit Nordeuropa, die sparsamen Vier oder Fünf. Ich glaube, in diesen Ländern gibt es ein Gefühl, das auch durchaus mit bestimmten Fakten unterlegbar ist, dass der Süden Europas reformunwillig ist und dass es letztlich, vereinfacht gesagt, um eine Art Subventionierung des Südens geht. Da werden Vergleiche auf den Tisch gelegt. Die Lebensarbeitszeit ist etwa in den Niederlanden deutlich höher als in Europa. Gleichzeitig ist das Vermögen in Südeuropa, wenn es denn so richtig gemessen wird, höher als im Norden. Man empfindet es letztlich als unfair, Geld nach Süden zu verteilen.
Andersherum denkt man im Süden, wir werden bevormundet von reichen Nordeuropäern und wir wollen nicht gesagt bekommen, welche Reformen wir durchführen sollen.
In so einer Lage ist es natürlich sehr schwierig, politische Kompromisse zu finden, die jeder einzelne Politiker auch zu Hause bei den nächsten Wahlen verkaufen kann.
Heinlein: Das wollte ich Sie gerade fragen. Welche Rolle spielen denn innenpolitische Erwägungen bei diesen harten Verhandlungen, bei diesem Nervenkrieg? Der Niederländer Mark Rutte etwa, der steht ja kurz vor Wahlen.
van Roosebeke: Ja, die spielen eine Rolle. Die spielen immer eine Rolle in Europa. Wenn Sie 27 Staaten haben, gibt es immer irgendeinen Staat, der demnächst Wahlen hat. Das spielt eine Rolle, das ist normal, das würde ich nicht überschätzen. Es gibt hier und da dann Äußerungen, die sagen, der europäische Gipfel, der Europäische Rat ist durch die Einstimmigkeit unregierbar geworden, weil immer jemand durch diese anstehenden Wahlen letztlich wenig Kompromisse eingehen kann. Das halte ich für vorgeschoben.
Die Probleme sind sehr grundlegend, sind hausgemacht, und es wird sehr schwierig werden, eine überzeugende dauerhafte Lösung zu finden.
Kräfteverschiebungen in der Union
Heinlein: Sie haben die Grüppchenbildung innerhalb der Europäischen Union gerade beschrieben: Nord gegen Süd, Ost gegen West, Arm gegen Reich. Ist diese Gruppenbildung fix, oder verlaufen die Fronten je nach Konflikt da eher fließend?
van Roosebeke: Die Gruppenbildung war ja bis vor wenigen Monaten noch ganz anders. Die deutsche Bundesregierung war bis vor wenigen Monaten durchaus auf der Seite der Gruppe, die wir jetzt die sparsamen Vier oder Fünf nennen. Die Richtungsänderung der Bundesregierung mit Frankreich, mit Slowenien, diese Zuschüsse vorzuschlagen, das hat natürlich eine sehr große Änderung bewirkt. Der Brexit genauso. Stellen Sie sich vor, wir würden diese Gespräche jetzt mit Großbritannien am Tisch führen. Ich glaube, da wären wir gar nicht so weit gekommen und da würden wir eher jetzt über die britische Regierung reden als über die holländische.
Es gibt eine gewisse Änderung, vor allem durch die Änderung der Bundesregierung in der Meinung, aber ansonsten denke ich, dadurch, dass die Nettozahler-Positionen in der Europäischen Union doch über die Jahre, um nicht zu sagen Jahrzehnte doch relativ fix sind, gibt es einfach eine Gruppe von Nettozahlern, die aufmucken und sagen, liebe Leute, wenn wir dauerhaft Geld transportieren müssen, dann wollen wir dafür eine Gegenleistung sehen. Das finde ich gar nicht so abwegig, die Idee zu sagen, wir geben gerne Geld, und wenn wir so viel Geld geben, wie wir es derzeit machen wollen, dann wollen wir auch tatsächlich wirtschaftspolitische Reformen sehen, um sicherzustellen, dass das eine einmalige Sache bleibt.
Verfestigte Wirtschaftsprobleme, fehlendes Vertrauen
Heinlein: Diese Gruppe der Nettozahler, das sind ja nicht nur diese vier oder fünf, die sich jetzt als frugal bezeichnen. Passt denn dieses Adjektiv, oder muss man die eher als sparsam oder vielleicht sogar als geizig beschreiben?
van Roosebeke: Ich glaube schon, dass man sagen kann, dass es wirtschaftspolitisch grundlegende Unterschiede gibt zwischen diesen vier, fünf Ländern und einigen Ländern Südeuropas. Da darf man natürlich auch nicht alle in einen Topf werfen. Es sind natürlich auch Sonderinteressen mit dabei – schauen Sie sich Schweden und Dänemark an. Das sind Nicht-Euro-Staaten, die haben den Euro eben nicht übernommen.
Das Reformpaket, das derzeit diskutiert wird, ist im Kern ein Paket für die Eurozone. Das Problem ist natürlich die Coronakrise, aber wir brauchen ein Paket, so ist die Überzeugung, für die Eurozone. Diese Nicht-Euro-Staaten werden da mit reingezogen und sind dann auch noch Nettozahler. Das ist natürlich für den Osten Europas nicht der Fall.
Deswegen: Man kann nicht alles in einen Topf werfen. Jedes Land hat seine eigenen nationalen Interessen. Aber am Ende des Tages ist unser Hauptproblem in Europa, dass wir eine Verfestigung von wirtschaftlichen Problemen haben. Der Norden schafft es gut in der Eurozone, der Süden schafft es weniger. Und es fehlt grundlegend an Vertrauen in der Reformwilligkeit anderer Staaten und zusätzlich auch noch in der Europäischen Kommission.
Überzeugungskraft Deutschlands und Frankreichs geschwunden
Heinlein: Fehlt es auch an Vertrauen, Herr van Roosebeke, in den deutsch-französischen Motor? Denn es fällt ja auf, dass die kleinen Länder sich jetzt zusammenschließen zu diesen Grüppchen und dann gegen Deutschland, gegen Macron und Merkel, Front machen.
van Roosebeke: Ja, dieser Motor hat sicher sehr viel an Überzeugung verloren. Das ist, wenn nicht peinlich, dann doch schon sehr überraschend für Frau Merkel und Herrn Macron, dass ihr Vorschlag jetzt auf so viel Gegenwehr stößt. Das ist vorher bekannt gewesen, wie diese Länder sich verhalten. Holland hat jetzt in den letzten zwei Jahren immer wieder an sehr vielen Punkten Bescheid gegeben, dass es hier eine sehr schmerzliche Linie ist, die überschritten wird. Wir haben auch noch andere Gruppen, die hanseatische Gruppe mit deutlich mehr Mitgliedsstaaten. Man weiß schon, dass im Norden der Eurozone, im Norden Europas sehr viel Widerstand da ist. Unterm Strich hat man, glaube ich, schon unterschätzt, wie weit diese Gruppe gehen will, wie aufmüpfig die sind, und es ist sehr vieles im Fluss. Es entlädt sich sehr vieles und die Überzeugungskraft Deutschlands und Frankreichs zusammen ist definitiv nicht mehr so vorhanden, wie sie vor wenigen Monaten noch so war.
Heinlein: Ist es vor diesem Hintergrund, den Sie gerade schildern, ein Vorteil oder ein Nachteil derzeit in Brüssel, dass Deutschland mit der veränderten Rolle als größtes EU-Land aktuell die EU-Ratspräsidentschaft innehat?
van Roosebeke: Ich glaube, man darf die Rolle der Ratspräsidentschaft auch nicht überschätzen. Bei den Dossiers, die jetzt am Tisch liegen, brauchen wir Einstimmigkeit. Da wird Deutschland auch zurecht die politische Meinung der Bundesregierung auch versuchen durchzusetzen. Der ehrliche Makler am Tisch ist an dem Tisch hier vor allem Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates. Deswegen würde ich es in diesem Kontext nicht überbewerten. Die Rolle der deutschen Ratspräsidentschaft sehe ich mehr in der täglichen Gesetzgebung, die dann im Ministerrat stattfindet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.