Sandra Pfister: Die türkische Notenbank hat vor etwa einer halben Stunde eine wichtige Entscheidung getroffen. Sie hat sich dem türkischen Präsidenten Erdogan widersetzt und den Leitzins erhöht. Damit hat sie ihre Unabhängigkeit unterstrichen. Erdogan hat noch vor einer Stunde auf die Notenbanker eingeredet. Er wollte die Zinsen niedrig halten, damit die Wirtschaft angekurbelt wird, die derzeit nicht mehr so prächtig wächst. Und die Lira, die ist so schwach, wie schon lange nicht mehr. Ihr Wert ist seit Anfang des Jahres um 40 Prozent gefallen. Indes steigen die Preise, und so haben viele Türken inzwischen Probleme, die ganz normalen Lebenshaltungskosten zu bewältigen.
Die Notenbank-Entscheidung in der Türkei hat heute auch schon den ganzen Morgen über die Erwartungen an der Börse geprägt. Jetzt ist die Entscheidung da, der Leitzins geht hoch. Franka Welz in Frankfurt, Sie nehmen das zum Anlass, mit Jörg Krämer, dem Chefvolkswirt der Commerzbank darüber zu sprechen.
"Mit Verzögerung hat die Zentralbank geliefert"
Franka Welz: Herr Krämer, die türkische Notenbank hat Wort gehalten, den Leitzins deutlich angehoben. Wie wichtig ist denn das als vertrauensbildende Maßnahme, für ausländische Investoren, aber auch natürlich im Land selbst?
Jörg Krämer: Die Türkei hat ein großes Inflationsproblem. Die Inflation ist zuletzt auf 18 Prozent gestiegen, wird in den kommenden Monaten über 20 Prozent gehen, und eigentlich muss natürlich bei so einem Problem jede Zentralbank den Leitzins kräftig anheben. Das hatte sie leider in den Vormonaten nicht gemacht. Jetzt mit Verzögerung hat sie geliefert. Die große Frage ist natürlich, ob sie wirklich unabhängig ist, denn der türkische Staatspräsident Erdogan hatte vor der Sitzung heute Vormittag gesagt, er ist gegen höhere Zinsen, er ist stattdessen für niedrigere Zinsen, trotz des Inflationsproblems.
"Präsident kann den Notenbank-Präsidenten austauschen"
Welz: Aber er hat ja auch gesagt, die Notenbank sei unabhängig in ihren Entscheidungen. Sie bezweifeln das offenbar. Sprich: Wie glaubwürdig ist denn das?
Krämer: Ja, das sagt er so. Aber faktisch wissen wir ja, dass er die Zentralbank in den zurückliegenden Monaten davon abgehalten hat, beherzt gegen das Inflationsproblem vorzugehen. Es gab auch Rechtsänderungen. Das heißt, der Präsident persönlich kann den Notenbank-Präsidenten und die anderen Mitglieder des Entscheidungsgremiums austauschen. Ich bin immer noch nicht davon überzeugt, dass die Zentralbank jetzt wirklich unabhängig ist.
Welz: Sie haben es gerade gesagt: Das Land ächzt unter einer extremen Teuerungsrate. Lässt sich das denn überhaupt mit so einer Einzelmaßnahme in den Griff bekommen?
Krämer: So was können Sie nur dann in den Griff bekommen, wenn Sie sehr früh agieren, sehr frühzeitig präventiv die Zinsen anheben. Das ist nicht geschehen, erst sehr verspätet. Wir wissen es nicht genau, aber die Gefahr besteht darin, dass jetzt das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, dass schon sehr viel Vertrauen zerstört worden ist, und dann ist nicht mehr sicher, ob dieser Leitzins von jetzt immerhin 24 Prozent ausreichen wird, den Anstieg der Inflation zu stoppen. Wir werden es sehen. Aber ich brauche mehr Evidenz dafür, dass die Zentralbank wirklich wieder unabhängig ist.
"Marktteilnehmer wollen mehr sehen"
Welz: Jetzt hatten ja Experten – Sie, glaube ich, gehörten auch dazu – damit gerechnet, dass es maximal bis auf 22 Prozent hochgeht. Das ist ja doch ein ganzes Stück mehr. Heißt das, die Verzweiflung ist extrem groß, oder wie muss ich mir das erklären?
Krämer: Na ja, dass das Problem riesig ist, ist klar. Zinsanhebungen sind notwendig. Die meisten (auch ich) hätten nicht gedacht, dass die Zentralbank die Leitzinsen so stark anhebt. Deshalb besteht vielleicht die Hoffnung, dass sie jetzt wirklich unabhängig ist, aber nach den Erfahrungen der zurückliegenden Monate, nach den Rechtsänderungen, nach der Machtausweitung des Präsidenten, denke ich, wollen die meisten Investoren, Marktteilnehmer mehr sehen, um davon überzeugt zu sein, dass die Zentralbank frei ist, das Inflationsproblem anzugehen.
Längst überfälliges Signal der EZB
Welz: Herr Krämer, inzwischen hat sich ja auch die Europäische Zentralbank gerührt, obwohl man sagen muss, die türkischen Kollegen haben heute den Leuten hier in Frankfurt ein bisschen die Show gestohlen. Unser Monitor hier ist jetzt rot mit Meldungen. Wir sehen: In Sachen Leitzins ändert sich nichts. Der bleibt unverändert bei null Prozent, soweit so erwartet. Aber ist das auch der richtige Schritt in der derzeitigen Situation?
Krämer: Die Europäische Zentralbank hat jetzt auch beschlossen, die Anleihenkäufe, die zuletzt 30 Milliarden je Monat betrugen, ab Oktober zu halbieren und am Jahresende einzustellen, und das ist ein längst überfälliges Signal, dass die EZB aussteigt, zumindest zusätzliche neue Anleihen zu kaufen.
An dieser Stelle ist die Telefonverbindung nach Frankfurt abgebrochen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.