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Krank oder kriminell?

Medizin.- Ein Schul-Amoklauf bahnt sich meistens nach dem gleichen Muster an: Zuerst fühlt sich der Täter gekränkt, dann entwickelt er blutrünstige Rachefantasien und irgendwann kommt der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Doch warum rasten manche Menschen so aus? Sind sie kriminell – oder krank?

Von Marieke Degen | 29.11.2010
    Ludwigshafen am 18. Februar 2010. Um kurz vor zehn betritt Florian K. seine ehemalige Berufsschule. Florian K. ist bewaffnet.

    "Und an dieser Schule tötet er einen Lehrer mit mehreren Messerstichen, er hat aber den Plan, den er auch in seinen Tagebuchaufzeichnungen niedergelegt hat,eigentlich wesentlich mehr Lehrer zu töten, er wollte eigentlich vier Lehrer töten, die er auch namentlich benannt hat."

    Harald Dreßing ist forensischer Psychiater am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim. Er hat Florian K. begutachtet. Sind Amokläufer einfach nur kriminell – oder auch krank? Eine Frage, die sich nicht eindeutig beantworten lässt, sagt Harald Dreßing.

    "Das Problem ist, dass ein Drittel aller Amokläufer die Tat gar nicht überleben, weil sie sich selbst suizidieren oder von der Polizei erschossen werden. Die wenigen Untersuchungen, die es dazu gibt, und auch den Fall, den ich zu begutachten habe, deuten darauf hin, dass doch die Mehrzahl der Amokläufer erhebliche psychische Störungen und Auffälligkeiten hat, so dass man sie dann auch als psychisch krank bezeichnen kann."

    Manche Amokläufer leiden an wahnhaften Schizophrenien. Sie können Fantasie und Wirklichkeit nicht mehr voneinander unterscheiden. Andere sind depressiv, wieder andere haben Persönlichkeitsstörungen und denken, dass sich die ganze Welt gegen sie verschworen hat. Auch Florian K. ist sozial schwer gestört. Mit sieben sitzt er zum ersten Mal beim Psychologen, mit 15 muss er sogar stationär behandelt werden. Doch psychische Krankheiten sind nicht das einzige. Harald Dreßing und seine Kollegen vermuten, dass es noch andere biologische Ursachen für einen Amoklauf geben könnte.

    "Es ist zumindest zu vermuten, dass neurobiologische Mechanismen, die man auch bei anderen Gewalthandlungen findet, auch im Kontext von Amok eine Rolle spielen. Wir wissen zum Beispiel, dass Menschen, die sich selbst töten und schwere Gewalttaten begehen, im Serotoninstoffwechsel Auffälligkeiten haben, also ganz platt gesprochen, die haben zu wenig Serotonin im Gehirn."

    Serotonin ist ein wichtiger Botenstoff im Gehirn. Wenn der Serotoninspiegel zu niedrig ist, gerät die Psyche aus dem Gleichgewicht.

    "Sehr häufig ist das mit Depressionen verbunden, mit Selbstentwertung, mit sozialem Rückzug, mit Ängstlichkeit, und auch zu einer Bereitschaft, in diesem Kontext dann gewalttätig zu reagieren."

    Die Forschung steckt aber noch in den Kinderschuhen. Für die Wissenschaftler ist es schwierig, an Daten heranzukommen. Die Amokläufer, die überlebt haben, können sich meistens nicht mehr an die Tat erinnern. Oder sie wollen sich nicht untersuchen lassen.

    "Ich glaube, das Problem sind weniger die Amokläufer, da sind schreckliche Dinge passiert, die wir nicht mehr reparieren können. Eine wichtige Aufgabe für die moderne Psychiatrie ist, dass wir eine bessere Risikoeinschätzung, ein besseres Risikomanagement machen für die Menschen, die einen Amok androhen."

    Wenn irgendwo eine Amokdrohung durchsickert – sei es im Internet oder in der Schule – dann müssen Psychiater einschätzen, wie ernst diese Drohung gemeint ist. Sie können versuchen, den potenziellen Amokläufer aus seiner Krise herauszuholen. Zum Beispiel mit Medikamenten, die den Serotoninspiegel im Gehirn anheben. Oder mit einer Psychotherapie, die das Selbstwertgefühl stärkt. Aber eines ist auch klar:

    "Wir müssen bescheiden sein. Völlig verhindern werden wir solche Taten niemals können."

    Florian K., der Amokläufer aus Ludwigshafen, ist in die forensische Psychiatrie eingewiesen worden.

    "Er wird so lange in einer Klinik bleiben müssen, bis Ärzte sagen: Diese Behandlung ist so erfolgreich gewesen, dass von diesem Mann kein Risiko mehr ausgeht."
    Kein Mensch weiß, ob er die Klinik jemals wieder verlassen wird.