Eigentlich sollte es sie gar nicht mehr geben: Chefarzt-Boni, also Zielvereinbarungen, in denen Krankenhäuser ihren Ärzten eine bestimmte Zahl von Operationen vorschreiben. Genau so einen Vertrag hatte zum Beispiel der ehemalige Chef der skandalträchtigen Göttinger Transplantationschirurgie. Er konnte sein Gehalt um bis zu 60.000 Euro aufstocken, wenn er mehr als 20 Lebertransplantationen im Jahr vornahm. Je mehr er operierte, desto mehr verdiente er auch. 2013 wurde dagegen ein neuer Paragraf in das Sozialgesetzbuch eingeführt.
Doch drei Jahre, nachdem die Gesetzesänderung beschlossen wurde, gibt es solche Verträge immer noch – nur sehen sie seitdem anders aus. Nicht mehr einzelne Operationen, sondern Abteilungsziele werden vereinbart, berichtet der Notarzt Paul Brandenburg.
"Beispielsweise, wenn einem Chef der Notaufnahme vertraglich vorgeschrieben wird, Wartezeiten in der Rettungsstelle zu verringern. Was erst gut klingt, entpuppt sich aber als Mogelpackung, wenn er überhaupt nicht mehr Kompetenz hat, mehr Menschen einzustellen. Oder die Abläufe zu verändern. Er muss letztendlich mehr Patienten in der gleichen Zeit behandeln. Das bedeutet unterm Strich für den Patienten weniger Arztkontakt. Das ist blanker Hohn und das ist böswillig."
Drei von vier Ärzten fühlen sich mindestens manchmal "in ihrer ärztlichen Diagnose- und Therapiefreiheit beeinflusst". Das ergibt eine aktuelle Umfrage der Ärzte-Gewerkschaft Marburger Bund. Eine Umfrage unter Krankenhaus-Controllern zeigt, dass 2014 und 2015 rund drei Viertel der Krankenhäuser mit ihren Ärzten Leistungsziele vereinbart haben: von Umsatzzahlen bis zu OP-Mengen.
Selbst Assistenzärzte sind betroffen
Die Gesundheitsökonomin Maximiliane Wilkesmann von der TU Dortmund hat in einer bislang unveröffentlichten Studie herausgefunden, dass selbst Assistenzärzte betroffen sind.
"Vier Prozent der Assistenzärzte haben eine Zielvereinbarung abgeschlossen. Das ist unüblich. In der Wirtschaft wird eigentlich nur mit Führungskräften Zielvereinbarungen abgeschlossen. Offensichtlich wollen die Klinik-Geschäftsführungen an medizinischen Hierarchien vorbeiregieren. Das lässt vermuten, dass ökonomische Zielgrößen dahinterstehen."
Verboten sind solche Verträge laut dem Gesetz nicht. Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, erklärt, warum die Regelung aus seiner Sicht vollkommen ausreicht.
"Die Deutsche Krankenhausgesellschaft gibt ja Musterverträge für Arbeitsverträge heraus. Und da weisen wir die Krankenhäuser darauf hin, dass keine leistungsmengen-, fallzahlenabhängigen oder anders leistungsvolumenabhängigen Vereinbarungen, die Vergütungen auslösen sollen. Und die gesetzliche Regelung sagt ja, wenn ein Krankenhaus sich daran nicht hält, dann muss es im Qualitätsbericht die Öffentlichkeit darüber informieren."
Krankenhäuser weichen auf andere Methoden aus
Die Veröffentlichung in den Qualitätsberichten soll die Kliniken davon abhalten, Boni für bestimmte OP-Mengen zu vereinbaren. Nur werden solche Zielvereinbarungen in der Regel jedes Jahr aufs Neue verhandelt. Die aktuellen Qualitätsberichte stammen allerdings aus dem Jahr 2014. Dazu kommt, dass viele Krankenhäuser nicht mehr die Zahl der Eingriffe vor, sondern die Schwere der Fälle oder den Umsatz der Abteilung in den Verträgen festhalten. Die haben dasselbe Ergebnis, müssen aber nicht angegeben werden.
Im Alltag braucht es häufig gar keine schriftliche Vereinbarung. In fast allen Kliniken werden die Chefärzte einmal im Monat zur Klinikleitung zitiert, in die sogenannte Chefarztrunde. Paul Brandenburg berichtet, wie Ärzte dort zu mehr Eingriffen und mehr Umsatz gedrängt werden.
"Klassisches Argument der Verwaltung gegenüber den Ärzten ist dann: Naja, sie sind kein Wirtschaftler, aber sie müssen auch sehen, die Betten und Personalstellen, die sie haben, die sind direkt abhängig von dem Umsatz, den sie erwirtschaften. Und dann wird gerne eine Excel-Datei ausgepackt und eine kleine Grafik: Schauen sie mal, wenn sie das nicht steigern, dann müssen wir diese zehn Betten hier wegnehmen."
Entweder ihre Abteilung macht mehr Umsatz – oder sie schrumpft. Im Zweifel muss sich der Arzt entscheiden: zwischen dem Patient und seiner Station. Um die Ärzte vor diesem Dilemma zu schützen, hat der Bundestag den Paragrafen aus dem Jahr 2013 verschärft. Jetzt sollen die Krankenhäuser auf alle mengenbezogenen Anreize in ihren Verträgen verzichten. Ein Verbot ist auch das nicht. Ob sich die Krankenhäuser trotzdem daran halten, könne man frühestens 2018 nachlesen.
Redaktioneller Hinweis: Diese Recherche veröffentlichen wir in Kooperation mit dem gemeinnützigen Recherchebüro correctiv.org, das sich über Spenden finanziert. Der Autor ist mit einem Datenfellowship der Rudolf Augstein Stiftung gefördert worden.