Ihre Hoffnung ist groß; im Innenhof des Klosters einer Sikh-Bruderschaft stehen etwa 50 Menschen vor einer geöffneten Tür Schlange. Zumeist sind es Eltern mit mehreren Kindern. Gulshan Kumar, 36, ein hagerer, graubärtiger Mann, hat seine Frau Usha und alle drei Kinder mitgebracht: Manuta, Pooja und Mangat, sie sind 13, zwölf und neun Jahre alt, so klein und schmal, dass sie alle deutlich jünger wirken. Aufgeregt betreten sie das Büro. Denn hier werden die Krankenversicherungskarten ausgestellt.
Zwei Versicherungsangestellte sitzen dort an einem Schreibtisch. Sie gehen mit dem Zeigefinger die lange Liste durch, auf der sich die Armen in diesem Distrikt einmal jährlich verzeichnen lassen können. Wer draufsteht, wer von weniger als zwei Dollar pro Tag leben muss, kann die Karte erhalten – für 30 Rupien, umgerechnet etwa 50 Cent. Die Regierung übernimmt die Versicherungsgebühr von umgerechnet zehn Euro pro Jahr. Die Karte deckt Krankenhausgebühren von insgesamt 30.000 Rupien ab, etwa 500 Euro; davon können bis zu fünf Familienmitglieder profitieren.
In Indien ist das viel Geld, doch für Gulshan Kumar kommt es leider zu spät; er deutet auf sein rechtes Bein, es ist eingegipst:
"Ich war vorher Taxifahrer. Es war ein Unfall, es passierte, als ich fuhr. Ich habe 1500 Rupien ausgegeben beim Arzt dafür, dass er mich behandelt."
Seither ist Gulshan Kumar arbeitsunfähig. Weil der Arzt ihm zwar 25 Euro in Rechnung stellte, aber keine Krücken mitgegeben hat, muss er das Bein belasten. Darum wächst es falsch zusammen. Ein Unfall oder die schwere Erkrankung eines Angehörigen – das bedeutet für viele indische Familien den Anfang vom Abstieg:
Das Geld reicht nicht, um die Familie zu ernähren, wir verkaufen oft Schmuck oder leihen uns Geld. Ich und die Kinder, wir verdienen Geld dazu, weil er nicht arbeiten kann. Ich bekomme Stoff und Garn aus einer Fabrik, damit ich zuhause nähen kann. Die Kinder gehen auch in Fabriken.
Die Krankenversicherungskarte ist eine SmartCard, sie funktioniert bargeldlos und ohne Anträge oder andere Formulare, weil in vielen indischen Familien oft nur die Kinder lesen können. Der Erfinder der indischen Krankenversicherung, Anil Swarup aus dem Arbeitsministerium, hat darauf großen Wert gelegt.
Ein Großteil derer, die von der Versicherung profitieren sollen, sind Analphabeten. Viele hatten sogar richtig Angst, irgendetwas zu unterschreiben. Sie glaubten, dass wir ihnen dann ihr Ackerland wegnehmen würden oder ähnliches. Also musste dieses System papierlos sein, das war die größte Herausforderung. Denn bisher gab es nirgendwo auf der Welt eine papierlose Krankenversicherung. Der Spezialdrucker tut es zunächst nicht. Mehrere Schläge auf das Gerät sind nötig, dann spuckt er die SmartCard mit der 17-stelligen Nummer aus. Die resolute Usha Kumar nimmt sie und gibt sie nicht mehr aus der Hand, bis sie zuhause ist.
Mit dem Auto geht es zum Eingang des Slums, in dem die Familie wohnt. Die schmale Straße ist gesäumt von engen Backsteinhäuschen, Frauen trocknen Gewürzblätter auf Bastmatten, kleine Kinder sitzen auf der Straße, wo es vor Fliegen nur so wimmelt, vor fast jedem Haus sind Ziegen angebunden, das Abwasser sammelt sich in einem Rinnsal.
Gulshan Kumar zeigt uns sein Haus, genau genommen ist es nur ein Raum, in dem die ganze Familie isst und schläft - höchstens zwölf Quadratmeter. Usha Kumar steckt die Karte in eine kleine Blechdose, die auf einem Regal steht – neben ihrer Heiratsurkunde, einem Medaillon und einem Goldring. Und dort, so fürchten Kritiker der staatlichen Krankenversicherung, wird die Karte auch bleiben.
Zu diesen Kritikern gehört Kumar Shailabh. Er leitet die Nicht-Regierungs-Organisation Uplift und hat viel Munition gegen das Regierungsprogramm gesammelt. Uplift selbst unterstützt ein ganz anderes Modell, eine genossenschaftliche Krankenversicherung mit insgesamt 1,2 Millionen Versicherten in indischen Slums. Das ist nichts im Vergleich zu den staatlich Versicherten. Doch seine Nachforschungen haben ergeben, dass die staatliche Krankenversicherung in 28 von 32 indischen Bundesstaaten kaum genutzt wird.
"Die Versicherungsagenten kommen vorbei, geben die Karten aus und verschwinden. Die Leute stecken diese Karte mit anderen Papieren in eine Box und wissen nicht, was sie damit anfangen sollen. "
Anil Swarup, der Vordenker des Systems in der Regierung, kontert: Diese Kritik sei kleinkariert, sagt er. Dass man so viele Karten unter’s Volk gebracht habe, sei schon eine Sensation.
"Ich glaube, in Indien wird damit erstmals ein Business Model für ein Sozialprogramm eingesetzt. Über private Agenturen. Wir bezahlen sie nach der Anzahl der Versicherungskarten, die sie verteilt haben. Es bestehen also Anreize, so viele Smart Cards wie möglich auszugeben."
Aber die Agenturen haben überhaupt kein Interesse daran, dass die Kunden die Karten auch nutzen. Krankenhäuser können die Kosten für Operationen elektronisch abbuchen – auch für solche Operationen, die gar nicht stattgefunden haben, oder nicht notwendig gewesen wären. Kumar Shailab berichtet von dokumentierten Fällen, bei denen Frauen ihre gesunde Gebärmutter entfernt worden sei.
"Der Staat, der die Sache dem freien Spiel der Versicherungen und Krankenhäuser überlassen hat, bezahlt dafür nun den Preis: Er kann kaum noch steuern oder kontrollieren."
Die neue indische Krankenversicherung scheitert oft genug an Kleinigkeiten. Auf dem Heimweg von Familie Kumar im Slum von Panipat treffen wir eine verkrüppelte Frau, die etwa 40 Jahre alt ist. Sie erzählt, kürzlich habe ihre Tochter die Krankenversicherungskarte benutzen wollen, um sich ein Geschwür entfernen zu lassen. Doch im Krankenhaus habe man ihr gesagt, die Karte sei nach 12 Monaten abgelaufen. Niemand hatte den armen Leuten bei der Ausgabe erklärt, dass die Krankenversicherungskarte nicht ewig gilt.
Zwei Versicherungsangestellte sitzen dort an einem Schreibtisch. Sie gehen mit dem Zeigefinger die lange Liste durch, auf der sich die Armen in diesem Distrikt einmal jährlich verzeichnen lassen können. Wer draufsteht, wer von weniger als zwei Dollar pro Tag leben muss, kann die Karte erhalten – für 30 Rupien, umgerechnet etwa 50 Cent. Die Regierung übernimmt die Versicherungsgebühr von umgerechnet zehn Euro pro Jahr. Die Karte deckt Krankenhausgebühren von insgesamt 30.000 Rupien ab, etwa 500 Euro; davon können bis zu fünf Familienmitglieder profitieren.
In Indien ist das viel Geld, doch für Gulshan Kumar kommt es leider zu spät; er deutet auf sein rechtes Bein, es ist eingegipst:
"Ich war vorher Taxifahrer. Es war ein Unfall, es passierte, als ich fuhr. Ich habe 1500 Rupien ausgegeben beim Arzt dafür, dass er mich behandelt."
Seither ist Gulshan Kumar arbeitsunfähig. Weil der Arzt ihm zwar 25 Euro in Rechnung stellte, aber keine Krücken mitgegeben hat, muss er das Bein belasten. Darum wächst es falsch zusammen. Ein Unfall oder die schwere Erkrankung eines Angehörigen – das bedeutet für viele indische Familien den Anfang vom Abstieg:
Das Geld reicht nicht, um die Familie zu ernähren, wir verkaufen oft Schmuck oder leihen uns Geld. Ich und die Kinder, wir verdienen Geld dazu, weil er nicht arbeiten kann. Ich bekomme Stoff und Garn aus einer Fabrik, damit ich zuhause nähen kann. Die Kinder gehen auch in Fabriken.
Die Krankenversicherungskarte ist eine SmartCard, sie funktioniert bargeldlos und ohne Anträge oder andere Formulare, weil in vielen indischen Familien oft nur die Kinder lesen können. Der Erfinder der indischen Krankenversicherung, Anil Swarup aus dem Arbeitsministerium, hat darauf großen Wert gelegt.
Ein Großteil derer, die von der Versicherung profitieren sollen, sind Analphabeten. Viele hatten sogar richtig Angst, irgendetwas zu unterschreiben. Sie glaubten, dass wir ihnen dann ihr Ackerland wegnehmen würden oder ähnliches. Also musste dieses System papierlos sein, das war die größte Herausforderung. Denn bisher gab es nirgendwo auf der Welt eine papierlose Krankenversicherung. Der Spezialdrucker tut es zunächst nicht. Mehrere Schläge auf das Gerät sind nötig, dann spuckt er die SmartCard mit der 17-stelligen Nummer aus. Die resolute Usha Kumar nimmt sie und gibt sie nicht mehr aus der Hand, bis sie zuhause ist.
Mit dem Auto geht es zum Eingang des Slums, in dem die Familie wohnt. Die schmale Straße ist gesäumt von engen Backsteinhäuschen, Frauen trocknen Gewürzblätter auf Bastmatten, kleine Kinder sitzen auf der Straße, wo es vor Fliegen nur so wimmelt, vor fast jedem Haus sind Ziegen angebunden, das Abwasser sammelt sich in einem Rinnsal.
Gulshan Kumar zeigt uns sein Haus, genau genommen ist es nur ein Raum, in dem die ganze Familie isst und schläft - höchstens zwölf Quadratmeter. Usha Kumar steckt die Karte in eine kleine Blechdose, die auf einem Regal steht – neben ihrer Heiratsurkunde, einem Medaillon und einem Goldring. Und dort, so fürchten Kritiker der staatlichen Krankenversicherung, wird die Karte auch bleiben.
Zu diesen Kritikern gehört Kumar Shailabh. Er leitet die Nicht-Regierungs-Organisation Uplift und hat viel Munition gegen das Regierungsprogramm gesammelt. Uplift selbst unterstützt ein ganz anderes Modell, eine genossenschaftliche Krankenversicherung mit insgesamt 1,2 Millionen Versicherten in indischen Slums. Das ist nichts im Vergleich zu den staatlich Versicherten. Doch seine Nachforschungen haben ergeben, dass die staatliche Krankenversicherung in 28 von 32 indischen Bundesstaaten kaum genutzt wird.
"Die Versicherungsagenten kommen vorbei, geben die Karten aus und verschwinden. Die Leute stecken diese Karte mit anderen Papieren in eine Box und wissen nicht, was sie damit anfangen sollen. "
Anil Swarup, der Vordenker des Systems in der Regierung, kontert: Diese Kritik sei kleinkariert, sagt er. Dass man so viele Karten unter’s Volk gebracht habe, sei schon eine Sensation.
"Ich glaube, in Indien wird damit erstmals ein Business Model für ein Sozialprogramm eingesetzt. Über private Agenturen. Wir bezahlen sie nach der Anzahl der Versicherungskarten, die sie verteilt haben. Es bestehen also Anreize, so viele Smart Cards wie möglich auszugeben."
Aber die Agenturen haben überhaupt kein Interesse daran, dass die Kunden die Karten auch nutzen. Krankenhäuser können die Kosten für Operationen elektronisch abbuchen – auch für solche Operationen, die gar nicht stattgefunden haben, oder nicht notwendig gewesen wären. Kumar Shailab berichtet von dokumentierten Fällen, bei denen Frauen ihre gesunde Gebärmutter entfernt worden sei.
"Der Staat, der die Sache dem freien Spiel der Versicherungen und Krankenhäuser überlassen hat, bezahlt dafür nun den Preis: Er kann kaum noch steuern oder kontrollieren."
Die neue indische Krankenversicherung scheitert oft genug an Kleinigkeiten. Auf dem Heimweg von Familie Kumar im Slum von Panipat treffen wir eine verkrüppelte Frau, die etwa 40 Jahre alt ist. Sie erzählt, kürzlich habe ihre Tochter die Krankenversicherungskarte benutzen wollen, um sich ein Geschwür entfernen zu lassen. Doch im Krankenhaus habe man ihr gesagt, die Karte sei nach 12 Monaten abgelaufen. Niemand hatte den armen Leuten bei der Ausgabe erklärt, dass die Krankenversicherungskarte nicht ewig gilt.