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Krebs
"Krankheit und Leid haben keinen Sinn"

Die Studentin Natalie Müller erkrankte vor vier Jahren an Krebs, die Ärzte gaben ihr nur noch wenige Monate zu leben. Mittlerweile ist sie 27 Jahre und spricht vor Gleichaltrigen über ihren Glauben, ihre Ängste und ihre Botschaft. Davon öffentlich zu erzählen, sei "eine Form der Heilung", sagt sie.

Von Magdalena Ebertz |
    Natalie Müller hat einen kindskopfgroßen Tumor "besiegt"
    Natalie Müller hat einen kindskopfgroßen Tumor "besiegt" (Magdalena Ebertz)
    "Ich hatte jetzt nie den Punkt, wo ich dachte, oh mein Gott, diese Nacht werde ich nicht überleben. Es gab für mich schon Wochen, wo ich dachte, uuuh, das ist jetzt grad kritisch so, aber ich hatte immer das Gefühl, das ist schon mein Weg, ich werd’ da schon durchgehen. Ich will nicht sterben und ich will nicht gehen, weil es gibt noch so viele Dinge, die ich gern machen würde. Und ich hab’ auch einfach das Gefühl, meine Aufgaben hier sind noch nicht beendet. Tadaaaa!"
    Natalie Müller ist eine junge Frau mit Ausstrahlung. Wenn die 27-Jährige jemandem im Publikum entdeckt, den sie kennt, formt sich ihr Mund zu einem großen herzlichen Lächeln. Das war schon früher so; damals, als sie noch gesund war. Dazwischen liegen ein kindskopfgroßer Tumor, die OP, in der ihr kompletter Bauchraum von Krebs befreit wurde, Chemotherapien und Bestrahlungen. Seitdem sie wieder einigermaßen zu Kräften gekommen ist, hat sie sich neben den vielen Therapiestunden und dem Studium eine neue Aufgabe gesetzt: Gespräche führen mit einer klaren Message:
    "Mir ist ganz arg wichtig, dass die Menschen wieder spüren können oder anerkennen, dass sie eigentlich von Geburt an geliebt sind und dass sie sozusagen dieses Liebesrecht immer dabeihaben, von vorne herein. Und dadurch alles, was dann kommt, Bonus ist."
    Natalie Müller versteht ihr Leben als solchen Bonus, als Geschenk, auch wenn sie täglich zehn Morphintabletten nehmen muss, von denen allein zwei für andere tödlich wären. Warum spricht sie öffentlich über ihre Erkrankung und ihren Umgang damit? Eine Form der Therapie?
    "Ja, es ist für mich schon eine Form Heilung ein Stück weit. Also eben weil der Fokus der Krankheit wird auf etwas anderes gesetzt, nämlich die Zerstörung der Krankheit wird sozusagen in etwas Produktives umgewandelt."
    "Anerkennung tut gut"
    Von Sinn könne aber nicht die Rede sein. Krankheit und Leid hätten nie Sinn.
    Natalie Müller nennt das eine "Hermeneutik des Trotzdems": Obwohl der Krebs sie beinahe das Leben gekostet hat, will sie ihm heute einen Platz in ihrem Leben geben. Und sich damit einen Platz in der Gesellschaft. Anerkennung sei dabei eine schöne Nebenwirkung.
    "Natürlich tut es auch einfach in so einer Situation gut, Anerkennung zu kriegen, weil man rein in der Gesellschaft in dem Moment gar nicht so viele Momente hat, in denen man viel Anerkennung einheimsen kann. Wenn man in der Arbeit nicht mehr so drinsteht wie früher oder nicht mehr so in den Ehrenämtern arbeiten kann."
    Das öffentliche Reden in Tübingen hat ihr gutgetan, auch wenn der Abend für sie sehr anstrengend war. Bestenfalls könne sie anderen mit ihren Erfahrungen Mut machen, sagt sie. Das scheint bei den knapp 50 Studierenden gelungen zu sein:
    Eine Studentin sagt: "Ich bin grad total mit positiven Gefühlen einfach da. Ich kann jeden Tag froh sein, dass ich gesund bin. Dass es auf jeden Fall die Menschen sind, die mich durch so eine Zeit tragen, also die Menschen um mich herum. Ob es meine Freunde sind oder meine Familie – wer sind diese Menschen für mich? Einfach den Moment leben! Step by step, also dieses: Bewusst den Moment wahrnehmen und genießen. Das sich immer wieder bewusst zu machen, ist ganz wichtig, weil wir das, glaube ich, oft vergessen, wenn’s uns gut geht."
    Im Publikum sitzen junge Leute, die nicht lebensbedrohlich krank sind. Jedenfalls sagt niemand, er oder sie sei in einer ähnlichen Situation wie Natalie Müller. Haben Kranke oder ehemals Erkrankte den gesunden Menschen etwas voraus? Wird die Angst vor der nächsten Prüfung nichtig, wenn eine Studentin von ihrem Kampf auf Leben und Tod erzählt? Natalie Müller will ein "Standbild" für andere sein, wie sie selbst sagt: eine Art Beispiel, um zu zeigen, dass das Leben auch anders verlaufen kann, Lebensträume zerplatzen können – ohne aber Leid zu hierarchisieren.
    Sie sagt: "Und manches sieht man leider erst, wenn etwas nicht funktioniert. Das ist eine traurige Wahrheit. Und ich glaube, deshalb tut es manchmal gut, auch wenn’s hart ist, Leute zu sehen, bei denen manches nicht funktioniert, weil einem darüber erst wieder bewusst wird, was denn alles funktioniert. Also auf ganz basaler Ebene, dass mein Körper einfach wahnsinnig viele Funktionen hat und die einfach so funktionieren, ohne dass ich groß etwas machen muss."
    "Wir sind schon sehr getrieben"
    Einer der Veranstalter des Abends, Jörg Kohr vom Theologischen Mentorat der Diözese Rottenburg-Stuttgart, findet, aus dem Gespräch mit Natalie Müller könne auch die Kirche einiges lernen:
    "Sie hat nicht über etwas geredet, sondern sie hat von sich geredet und auch davon erzählt, was sie existentiell durchlebt hat. Dadurch war das für mich schon eine Art Predigt, eine geistliche Unterweisung, die sozusagen auch uns gut anstehen würde, wenn wir das öfters tun würden: Menschen so einen Raum zu eröffnen, die von ihren existentiellen Erfahrungen berichten und das zu ihrem persönlichen Glauben in Bezug setzen. Ja, da wünsche ich mir schon mehr davon."
    Die 27-Jährige blickt heute anders auf die Gesellschaft und auf sich selbst. Und sie geht auch deshalb an die Öffentlichkeit, weil sie mit ihrer Geschichte eine Gesellschaftsdiagnose verbindet:
    "Wir sind schon sehr getrieben. Auch ich war sehr getrieben von einem Anspruch an mich und an das Leben, das ich führen will. Und natürlich ist das heute sehr schwierig, weil man heute in unserer Gesellschaft auch noch dafür belohnt wird, das zu tun. Im Grunde wird man ja dafür belohnt, wenn man wenige Fehltage hat. Man wird belohnt, wenn man jeden Abend auf einer anderen Sitzung, auf einem anderen Termin ist. Da ist natürlich auch wieder das geliebt sein drin. Ich glaube, ich würde meinem Körper, meiner Seele mehr Raum eingestehen und nicht so sehr danach gehen, was vielleicht noch gut sein könnte, gemacht zu haben, weil ich ja vielleicht mal das auch noch erlebt haben möchte und auch noch gemacht haben möchte. Und auch wenn ich das nie so bewusst gedacht habe, merke ich, dass das schon oft der Antrieb war und das dann manchmal sogar über mein eigenes Körpergefühl gestellt wurde – von mir selber. Und ich mir dann die Grenzen von außen habe setzen lassen und ich sie mir nicht mehr selbst gesetzt habe. Es gibt da keine Schuldfrage, sondern es gibt eine Achtsamkeitsfrage. Und auf die muss man kommen. Wie kann ich jetzt auf meinen Körper achten? Ja, das ist jetzt blöd, wenn ich heute Abend nicht komme, und ja, diese Verantwortung ist unglaublich wichtig und ja, vielleicht sind die Menschen enttäuscht von mir, wenn ich sage, nein, ich brauche heute einfach mal einen Abend auf dem Sofa und ich habe keine wahnsinnig große Ausrede, warum ich dies und das und jenes nicht mache, weil ich einfach merke, ich brauche es grad. Ich brauche grad Ruhe und ich brauche grad Krafttanken."