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Krebserregender Weißasbest

Rund 2,2 Millionen Tonnen Asbest werden pro Jahr weltweit produziert. Nach Russland, Kasachstan, China und Brasilien ist Kanada der fünftgrößte Produzent. Doch der Abbau und der Umgang mit Asbest ist gefährlich: Es besteht hohes Krebsrisiko.

Von Florens Herbst |
    Kanada - Traumziel der Auswanderer. Weites, wildes Land. Unendliche Berge, freundliche Menschen, unberührte Natur.

    "Man darf Kanada nicht trauen. Es verhält sich destruktiv und unmoralisch. Als Kanadierin ist mir das peinlich, und es macht mich traurig. Unser Land ist nicht mehr das, was es mal war."

    Kathleen Ruff, ehemalige Leiterin der Menschenrechtskommission von Britisch Columbia, heute Kanadas bekannteste Anti-Asbest-Aktivistin.

    "Früher hat man uns respektiert. Mittlerweile merkt die ganze Welt, dass Kanada eine Bedrohung für Menschenrechte, Gesundheit und Fortschritt darstellt. Es wird immer klarer, dass Kanada jegliche Anstrengungen zum Schutz vor Asbest massiv behindert."

    Kathleen Ruff lebt in Smithers, im Nordwesten von Britisch Columbia, nicht weit von Alaska entfernt. Vor ihrem Haus erheben sich schneebedeckte Berge, manchmal sieht sie eine Elchkuh durch ihren Garten laufen, wenn sie vom Schreibtisch hoch schaut. Von ihrem Arbeitszimmer aus organisiert sie den Widerstand gegen Kanadas Asbestexporte.

    Rund 2,2 Millionen Tonnen Asbest werden pro Jahr weltweit produziert. Nach Russland, Kasachstan, China und Brasilien ist Kanada der fünftgrößte Produzent. 2010 hat das Land 135.000 Tonnen Weißasbest, auch Chrysotil genannt, aus zwei Minen gefördert. Aber die Menge geht zurück; beide Minen sind so gut wie erschöpft. Die Thetford Mine und die Jeffrey Mine liegen in der Provinz Québec. Was Kathleen und ihren Mitstreitern Sorgen bereitet, ist vor allem die wirtschaftlich vor sich hindarbende Jeffrey Mine in dem Städtchen mit dem passenden Namen Asbestos. Bisher wurde hier Chrysotil im Tagebau gefördert. Jetzt soll der Weißasbest aus unterirdischen Vorkommen kommen – mithilfe einer Millionen-Bürgschaft aus Steuergeldern.

    Seit 1879 sind in der Jeffrey Mine rund 22 Millionen Tonnen Asbest abgebaut worden. Einige Wochen reichen die oberirdischen Reserven noch, dann ist Schluss. Jetzt will Minenbetreiber Bernard Coulombe die Stollen noch weiter in die Tiefe treiben. Dort liegt eine Gesteinsschicht, die zu sechs Prozent aus Weißasbest besteht.

    "In dem Gestein sind etwa fünf Millionen Tonnen Chrysotil enthalten. Davon können wir pro Jahr etwa 200.000 Tonnen abbauen und verkaufen, das entspricht etwa zehn Prozent des weltweiten Marktes."

    25 Jahre würde es dauern, bis das unterirdische Vorkommen erschöpft ist. In noch größerer Tiefe werden laut Bernard Coulombe weitere zwölf Millionen Tonnen Weißasbest vermutet. Bereits 1996 hatte er versucht, die unterirdischen Reserven zu erschließen. Doch dann ist ihm das Geld ausgegangen. Die damals entstandene Grube stand bis vor ein paar Wochen unter Wasser. Jetzt hat Coulombe sie auspumpen lassen. Denn er hat Geldgeber gefunden. Eine Gruppe internationaler Investoren mit Namen "Balcorp" will die Jeffrey Mine übernehmen. Allerdings wollen die Geldgeber nur einsteigen, wenn die Provinzregierung von Québec eine Bürgschaft über 58 Millionen kanadische Dollar ausstellt. Bernard Coulombe:

    "Wenn ich hier Gold oder Kupfer abbauen würde, dann müsste ich die Regierung nicht um diese Bürgschaft bitten. Aber es geht um Asbest. Alle sind gegen uns. Es gibt ja geradezu eine Phobie gegenüber Asbest. Und deshalb wollen uns die Banken kein Geld leihen. Wir brauchen die Bürgschaft der Regierung, damit die Bank ihr Risiko verringern kann."

    Am Rand der Mine steht eine Aussichtsplattform. Von oben sieht es aus, als wäre ein Meteorit direkt neben den Häusern von Asbestos eingeschlagen, so nah liegt das Städtchen an der Mine. Etwa einen Kilometer breit und mehr als 400 Meter tief ist der Krater der ehemals größten Asbestmine der Welt. Ein ausgedienter gelber Lastwagen in der Größe eines Einfamilienhauses steht am Ortseingang von Asbestos. Die gigantische Ladefläche erinnert an früher; an die Jahre, in denen ein Vielfaches der heute abgebauten Menge Weißasbest verladen wurde. Dass die "guten" Zeiten längst vorbei sind, erkennt man an dem leer stehenden Rathaus; die Stadt hat kein Geld, um es zu sanieren. Bürgermeister Hugues Grimard hat sein Büro in einem Anbau der örtlichen Kirche. Er hofft auf höhere Gewerbesteuereinnahmen und Arbeitsplätze für sein 7000-Einwohner-Städtchen.

    "Die unterirdische Mine würde 450 direkte Arbeitsplätze schaffen. Wir gehen davon aus, dass zusätzlich noch mal 1.200 indirekte Jobs entstehen würden. Für eine Stadt wie Asbestos ist das ein unglaublich wichtiges Projekt."

    Nach monatelangem Hin und Her hat sich das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung der Regierung in Québec dafür entschieden, der Mine die Bürgschaft zur Verfügung zu stellen. Allerdings unter einer Bedingung: Minenbetreiber Coulombe - beziehungsweise seine Investoren - muss einen Eigenanteil in Höhe von 20 Millionen kanadische Dollar aufbringen. Sonst gibt es keine Bürgschaft. Seit der Entscheidung der Provinzregierung hagelt es Kritik: Gesundheitsexperten der Canadian Cancer Society, der Canadian Public Health Association und der Canadian Medical Association protestieren gegen die Bürgschaft. Auch die größte Gewerkschaft der Provinz Québec hat sich dagegen ausgesprochen. Tenor: Die Mine auszubauen, wäre unverantwortlich. Kathleen Ruff.

    "Asbest ist in Kanada die häufigste Ursache tödlicher Krankheiten, die am Arbeitsplatz entstehen. In Québec hat die Gesundheitsbehörde 15 Studien über den Umgang mit Asbest durchgeführt. Sie alle sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Chrysotil nicht sicher zu handhaben ist und bei Menschen Schäden bewirkt."

    Die Weltgesundheitsbehörde WHO schätzt, dass etwa 125 Millionen Menschen während ihrer Arbeit Asbest ausgesetzt sind. Pro Jahr sterben weltweit mehr als 100.000 Menschen an den Folgen von eingeatmeten Asbestfasern – entweder an Asbestose, Lungenkrebs oder an einem Mesotheliom, einer fast ausschließlich durch Asbest ausgelösten Krebserkrankung von Lungen-, Brust- oder Bauchfell. Die krebserregenden Eigenschaften werden auch von Bernard Coulombe, dem Betreiber der Jeffrey Mine, nicht geleugnet.

    "Ich kann natürlich behaupten, dass es kein krebserregender Stoff ist. Klar, es ist einer. Aber das hängt doch alles von der Dosierung ab. Wir haben es bewiesen, dass es bei geringer Dosis keinen Effekt hat. Das ist wie beim Alkohol: Wenn du nicht zu viel trinkst, setzt du dich auch keinem Krebsrisiko aus."

    Ein Café im Montrealer Stadtteil Rosemont. An einem schmalen Tisch sitzt ein elegant gekleideter Mann mit grauen Haaren. Fernand Turcotte, emeritierter Medizinprofessor mit Fachgebiet Krankheiten am Arbeitsplatz, hat sich in Kanada als Autorität im Bereich Gesundheitswesen und Kritiker der Tabakindustrie einen Namen gemacht. Seit ein paar Jahren engagiert er sich gegen den Export von Asbest.

    "Es ist eine krebserregende Substanz, und als solche muss sie behandelt werden. Wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder wir verhindern, dass irgendjemand diesem Stoff ausgesetzt ist, oder wir ersetzen ihn durch andere Stoffe. Sicherer Umgang mit Asbest – das ist bewiesenermaßen ein Mythos. Also müssen wir aufhören, den Stoff zu verwenden."

    Auch die Canadian Cancer Society hat einen klaren Standpunkt. Zitat:

    Alle Formen von Asbest verursachen Krebs.

    "Die haben doch keine Ahnung, wovon sie reden. Epidemiologen und Wissenschaftler, die darüber geforscht haben, die wissen etwas darüber, aber doch keine Ärzte. Die wissen nur, dass man früher krank geworden ist, wenn man zu viele Fasern eingeatmet hat. Aber das sind doch Geschichten aus der Vergangenheit."

    Minenbesitzer Coulombe sitzt im Aufsichtsrat des Chrysotil Instituts in Montréal, einer PR- und Lobbyeinrichtung der Asbestindustrie, die mit Steuergeldern von der kanadischen Regierung unterstützt wird. Clément Godbout, Direktor des Instituts.

    "Egal ob man mit Blei, Nickel oder Aluminium arbeitet, überall sind Karzinogene drin. Was kann man dagegen tun? Kontrollierter, sicherer Umgang. Wir sind der Meinung, dass Chrysotil sicher verwendet werden kann. Es ist eine einzigartige Faser, die sich besonders für Infrastrukturarbeiten in Entwicklungsländern eignet. Wir sind uns sicher, dass sich Arbeiter keiner Gefahr aussetzen, wenn sie in der Asbestindustrie arbeiten."

    Auch die kanadische Regierung ist dieser Meinung. Kathleen Ruff sieht das so:

    "Die Industrie und die Regierung haben keinerlei wissenschaftliche Absicherung, um ihre These zu stützen. Null. In der ganzen Welt gibt es keine medizinisch- wissenschaftliche Einrichtung, die den Umgang mit Asbest für sicher hält."

    Rund 95 Prozent des in Kanada produzierten Asbestes werden ins Ausland exportiert. Im Jahr 2010 brachte dieser Handel der kandischen Asebst-Industrie 75 Millionen Dollar ein. Die Abnehmer sind Länder wie Indonesien, Thailand und vor allem Indien.

    Während das kanadische Parlamentsgebäude in Ottawa saniert und von Asbest befreit wird, gilt für die Dritte Welt: Unter Einhaltung der kanadischen Sicherheitsstandards ist der Umgang mit Chrysotil kein Problem.

    In Indien wird der krebserregende Stoff wegen seiner hitzebeständigen Eigenschaften vor allem in der Bauwirtschaft benutzt: Mit Zement vermischt werden vor allem Dachplatten damit hergestellt. Dabei kontrollieren einige Fabriken, welcher Asbest-Belastung die Arbeiter ausgesetzt sind - die von Kanada propagierten Sicherheitsstandards werden aber oft missachtet. Das sagt Ravi Agarwal, Direktor der indischen Umweltorganisation Toxics Link in Neu-Delhi.

    "Kein Arbeiter trägt hier bei Temperaturen von 45 bis 47 Grad einen Atemschutz. Dafür ist es einfach zu heiß."

    Der Asbest gefährdet aber nicht nur die Fabrikarbeiter, sondern auch die Käufer der Zementplatten. Die Industrie behauptet, der Zement binde die Asbestfasern. Ravi Agarwal sieht das anders.

    "Sobald die Dachplatten die Fabrik verlassen, ist in Indien ein sicherer Umgang mit ihnen nicht mehr möglich. Auch wenn das die Industrie immer behauptet. Die Schreiner und die Arbeiter kommen aus allen Ecken des Landes. Sie sind nicht geschult, was Asbest betrifft. Unsere einzige Möglichkeit ist, keinen Asbest mehr zu verwenden."

    Weil die Platten günstig sind, werden sie vor allem von armen Leuten auf dem Land benutzt.

    "Diese Leute haben keine Ahnung von den Gefahren, denen sie sich aussetzen, wenn sie mit asbesthaltigen Platten arbeiten. Zum Beispiel wenn sie sie zurechtsägen, Löcher hineinbohren oder wenn die Platten zerbrechen oder zerfallen."

    Ravi fordert, den Import von Asbest zu beenden.

    "Kanada benutzt kein Asbest - das sagt doch alles. Wie kann etwas für Inder sicher sein, dass Kanadier gefährdet. Um ein paar Minen in einem hochgradig entwickelten Land zu behalten, werden gefährliche Stoffe über Indien ausgekippt. Das steht Kanada nicht gut zu Gesicht."

    Mehr als 50 Länder haben Asbest auf den Index gesetzt. In Deutschland ist der krebserregende Stoff seit 1993 verboten – das betrifft sowohl die Herstellung, als auch die Verwendung. Dennoch steigt die Zahl asbestbedingter Lungenerkrankungen. Mit einer Verzögerung von etwa 30 Jahren machen sich die Spätfolgen aus der Zeit vor dem Verbot bemerkbar. Hamburg und Bremen sind besonders betroffen. Laut Professor Xaver Bauer von der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf liegt das an asbesthaltigen Materialien, die im Schiffsbau benutzt worden sind.

    Kanada exportiert seine gefährlichen Fasern auch nach Deutschland: 38 Tonnen im Jahr 2009. Nach Angaben des Bundesumweltministeriums ist Chrysotil trotz Asbestverbots in Deutschland für die Produktion von Trennwänden, sogenannten Diaphragmen, zugelassen. Solche Diaphragmen werden unter anderem in der Chlor-Produktion benutzt.

    Die Firma Dow Chemical in Stade beschäftigt 1.500 Mitarbeiter. Eines der Produkte der Firma ist Chlor: 1,5 Millionen Tonnen pro Jahr. Bei der Herstellung von Chlor wird Strom in ein Salzwasserbecken geleitet. Diaphragmen halten die dabei entstehende Natronlauge und das Chlorgas auseinander. Die Wände dieser Diaphragmen sind mit Chrysotil beschichtet. Es stammt aus Kanada. Joachim Sellner, Sprecher von Dow Chemical in Stade.

    "Sie können neben dem Diaphragmaverfahren noch andere Verfahren anwenden, das machen wir hier im Werk auch. Sie können zum Beispiel Membrane einsetzen, die haben ähnliche Aufgaben, aber der Ablauf ist etwas anders. Aber sie müssen sehr viel mehr Energie einsetzen, und wenn sie mehr Energie einsetzen, belasten sie die Umwelt auch. Wir setzten Asbest ein, weil wir glauben, das Asbest so einzusetzen, dass es keinerlei Gefährdung für den Menschen und die Umwelt darstellt."

    Dieser Meinung ist auch das Umweltbundesamt. Zitat:

    Wir können und müssen davon ausgehen, dass bei einem ordnungsgemäßen Betrieb der Anlage keine Asbestfasern in die Umwelt freigesetzt werden.

    Im Gegensatz zu Indien kommen die Arbeiter in Stade nicht mit dem Asbest in Kontakt. Die Verarbeitung laufe voll automatisiert, sagt Sprecher Joachim Sellner.

    "Der Container wird in einen Raum rein geschoben, der mit Robotern bestückt ist. Die Roboter laden die Plastiksäcke, in die die Asbestfasern eingeschweißt sind, aus und sorgen dafür, dass die Säcke selbst vernichtet werden genauso wie die Atemluft gereinigt wird."

    Kanada – das große weite Land der unberührten Natur. Land der Kanufahrer und Eishockeyspieler.

    Kanada - ein Land, das Chrysotil nicht auf der Gefahrenstoffliste der Rotterdam-Konvention sehen will. Als sich Ende Juni die 141 Unterzeichner-Staaten in Genf trafen, stand Chrysotil erneut zur Debatte. Die überwiegende Mehrheit der Staaten war dafür, den krebserregenden Stoff in die "Liste der gesundheits- und umweltgefährdenden Substanzen" aufzunehmen. Kanada allerdings sperrte sich gegen diesen Wunsch; genauso wie die Ukraine, Kirgistan, Kasachstan und Vietnam.

    Die Aufnahme von Chrysotil in die Liste gefärhlicher Chemikalien hätte den Handel mit Weißasbest nicht unterbunden, ihn allerdings deutlich erschwert. Denn das Rotterdamer Übereinkommen sieht vor, Risiken und Gefahren der gehandelten Produkte an Importländer zu kommunizieren.
    Kurz vor dem Treffen in Genf hatte der kanadische Sender CBC herausgefunden, dass die Gesundheitsbehörde des Landes – Health Canada - sich schon 2006 dafür ausgesprochen hatte, Weißasbest auf die Gefahrstoffliste zu setzen. Vergeblich. Die kanadische Regierung bleibt bei ihrer Haltung und meint: "Die Risiken im Zusammenhang mit Chrysotil sind unter kontrollierten Bedingungen zu bewältigen."

    Noch haben Minenbesitzer Bernard Coulombe und seine Investoren nicht genügend Geld zusammen, um die Voraussetzungen für die benötigte Bürgschaft zu erfüllen. Deshalb sucht Coulombe nach weiteren Geldgebern: jetzt in Indien. Wenn er und die Investoren bis Mitte August 20 Millionen kanadische Dollar bereitstellen können, wird die Provinzregierung von Québec der Jeffrey Mine die geforderte Bürgschaft ausstellen. Dann könnte der Abbau der unterirdischen Asbestvorkommen im Januar 2012 beginnen; nach Schätzungen reichen die Ressourcen rund 25 Jahre lang. Die Anti-Asbest-Aktivistin Kathleen Ruff ist empört darüber:

    "Wir haben es nicht geschafft, unsere Regierung für das verantwortlich zu machen, was sie in unserem Namen tut. Das bedeutet nicht, dass wir herzlos und unmoralisch sind. Die Kanadier sind ein anständiges Volk. Aber der Asbesthandel ist ein demokratisches und moralisches Versagen. Und jeder einzelne Kanadier ist mit Schuld."
    Gefährliche Schönheit: Asbestfasern unter dem Elektronenmikroskop.
    Gefährliche Schönheit: Asbestfasern unter dem Elektronenmikroskop. (Wikipedia/GNU)