Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann plädiert für eine klare Koalitionsaussage der Grünen zugunsten der SPD vor der Bundestagswahl 2013. Darauf solle sich seine Partei im kommenden Frühjahr festlegen, so Kretschmann. Sollte der Wähler allerdings anders entscheiden, müsse man auch über die "zweite oder dritte Wahl" verhandeln.
Dirk-Oliver Heckmann: Herr Ministerpräsident, Claudia Roth ist ja jetzt wiedergewählt worden mit 88,5 Prozent der Stimmen – nach enttäuschenden 26 Prozent bei der Urwahl, die sie ja als "Schlappe" selber auch bezeichnet hat und als "Klatsche". Ist sie rehabilitiert?
Winfried Kretschmann: Ja, ich meine, wovon soll sie rehabilitiert worden sein? Ich sehe das ganz anders. Die Basis wollte eine Doppelspitze, in der jetzt nicht zwei vom linken Flügel repräsentiert sind, sondern die wollten die Partei in ihrer Breite aufstellen, das war in keiner Weise gegen Claudia Roth gerichtet, das hat ja das heutige Ergebnis gezeigt – sondern es war ein Votum für eine bestimmte Konstellation. Insofern ging es da nie um eine Rehabilitierung, das war mir völlig klar. Und darum habe ich ja zu ihr auch gesagt: "Kandidiere, Du wirst sehen, Du hast immer gute Ergebnisse bekommen, warum sollte das auf einmal anders sein?" Es war eine andere Wahl, die hatte mit ihrer Person erstmal gar nichts zu tun, sondern mit der Konstellation.
Heckmann: Herr Kretschmann, Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt sind jetzt die Spitzenkandidaten. Was bedeutet das? Bedeutet das, dass die Grünen jetzt weniger schrill werden, weniger aufmüpfig, auch etwas langweiliger?
Kretschmann: Also ich erkenne nicht, was an Trittin schrill sein soll, sondern sie stellen sich in ihrer Breite da. Jeder hat auch seinen Stil, der ist ja bei beiden ganz anders. Trittin ist durchaus jemand, der zuspitzen und auch polarisieren kann, das muss er auch machen in dem Wahlkampf. Katrin Göring-Eckardt argumentiert getragener, verbindlicher, auch konsensualer. Und das ist gut, wenn man auch darstellt, dass man ganz anders Politik machen kann – der eine so, der andere so. Das ist der Vorteil einer Doppelspitze.
Heckmann: Jetzt heißt es ja, Herr Kretschmann, die Grünen seien in der Mitte angekommen. Jetzt ist die Frage, ob diese so genannte grüne Mitte auch mit der CDU und der CSU zusammenarbeiten kann eines Tages. Viele sagen ja jetzt, mit Katrin Göring-Eckardt sei Schwarz-Grün wahrscheinlicher als jemals zuvor.
Kretschmann: Ich bin erstaunt über die Unsinnigkeit dieser Debatte. Wir haben eine schwarz-gelbe Regierung, die wollen wir ablösen. Warum man jetzt in solch einer Phase irgendwelche Schwarz-Grün-Debatten führt, ist mir völlig unerfindlich. Es ist doch eine klare Aussage, die wir da treffen, die ist auch ganz normal. Die Opposition, nämlich Rot und Grün, wollen die Regierung ablösen, Schwarz und Gelb, das ist der Normalfall der Demokratie, und damit geht man in den Wahlkampf und nicht mit irgendwelchen Sandkastenspielen.
Heckmann: Jürgen Trittin, Katrin Göring-Eckardt und Claudia Roth, auch im letzten Jahr, haben Schwarz-Grün ausgeschlossen, praktisch jedenfalls. Ist das aus Ihrer Sicht auch wirklich richtig? Denn Sie sind ja doch eher der Ansicht, dass man solche Optionen nicht unbedingt ausschließen sollte.
Kretschmann: In der Tat, also ich bin für eine klare Ansage, die heißt: Rot-Grün soll Schwarz-Gelb ablösen. Aber ich bin auch gegen eine Ausschließeritis. Denn wenn der Wähler anders entscheiden sollte – wir haben genug Erfahrung aus der Vergangenheit, dass er das zuweilen macht, darf man ja nicht handlungsunfähig sein. Da muss man vielleicht etwas machen, das nicht erste, sondern zweite oder dritte Wahl war. Und die muss man dann verhandeln. Also, ich bin ein ganz entschiedener Gegner von Ausschließeritis unter demokratischen Parteien.
Heckmann: Das heißt, es war falsch, jetzt auf dem Parteitag zu sagen: Wir werden, wir wollen mit der Union nicht zusammenarbeiten?
Kretschmann: Nein, das hat ja auch niemand gesagt, sondern es wurde gesagt, dass wir die ablösen wollen, mit denen nicht regieren wollen. Das ist richtig, aber von Ausschließeritis habe ich jetzt nichts direkt gehört, obwohl manches nahe dran war. Aber das ist ja logisch bei solchen Auseinandersetzungen. Auf dem Parteitag muss man ein klares Ziel benennen und nicht rumschwadronieren.
Heckmann: In der Tat. Wenn man genau zugehört hat, haben die Spitzenleute gesagt, man sehe keine Gemeinsamkeiten, man könne sich eine Zusammenarbeit nicht vorstellen. Also, insofern ist das zu interpretieren, dass man sich ein Hintertürchen offen hält.
Kretschmann: Das ist kein Hintertürchen, das ist kein Hintertürchen, es ist eine zweite Tür. Hintertüren gibt’s in der Demokratie nicht. Die Leute wählen, was sie wollen. Und damit muss sich die Politik auseinandersetzen. Es klingt so irgendwie ganz merkwürdig, sondern man geht mit einer klaren Ansage rein, und wenn man rot-grün will – was soll man jetzt erzählen, dass vielleicht auch doch Schwarz-Grün irgendwie auch möglich sei, das ist doch völlig unsinnig. Man geht mit klarem Profil rein und sagt, der ist dafür der richtige Partner. Aber deswegen muss man für Fälle, wo der Wähler anders entscheidet, noch lange nichts ausschließen. Man lässt sich dadurch kein Hintertürchen offen, sondern das ist die Gemeinsamkeit von demokratischen Parteien auch im Grundgesetz, dass sie auch in schwierigen Konstellationen trotzdem was zustande bekommen, denn regiert werden müssen wir ja auf jedem Fall. Wir können ja nicht nach der Wahl sagen: Das passt uns nicht, jetzt wählt bitte noch mal.
Heckmann: Schauen wir einmal auf die andere Seite. Norbert Röttgen, der stellvertretende CDU-Chef, der ja jetzt aus diesem Amt scheidet und sein designierter Nachfolger Armin Laschet, die haben sich jetzt am Wochenende offen gezeigt für solche Bündnisse. Die haben gesagt: Die alten ideologischen Kämpfe seien vorbei. Sehen Sie das auch so?
Kretschmann: Ja, die sind vorbei. Trotzdem haben sie die Lage nicht aufgelöst. Die Gesellschaft ist pluralistischer und vielfältiger geworden, und die Menschen wollen, dass wir uns um ihre Sachprobleme und ihre Sorgen kümmern und nicht immer Lagediskussionen. Das sind immer Medien-Diskussionen, aber das sind nicht die Diskussionen der Wählerschaft.
Heckmann: Die Wähler schon. Vielleicht interessiert die Wähler schon, ob ein Bündnis zwischen Grün und der CDU möglicherweise das Ergebnis der nächsten Wahlen sein könnte.
Kretschmann: Ich meine, das bestimmen wir doch durch Diskussionen nicht, das bestimmen doch die Wähler durch ihre Wahl. Also das ist doch etwas, was wir gar nicht in der Hand haben. Wir können doch den Leuten nicht durch Diskussionen irgendeine Wahl aufdrängen. Die Leute wählen ja auch nicht zwei Parteien oder eine Koalition, sie wählen immer nur eine Partei. Wir sagen, was wir wollen, damit die Leute bescheid wissen. Und wenn sich nachher etwas anderes, müssen wir ja verhandeln. Das weiß nun jede aufgeklärte Bürgerin und jeder Bürger, dass es zu solchen Konstellationen kommen muss. Ich verstehe irgendwie nicht diese Sucht nach Sandkastenspielen.
Heckmann: Das heißt, Sie würden aus Ihrer Sicht nicht sagen, dass die Entscheidung von Renate Künast, so lange sich das offen zu halten und ganz spät erst ein solches Bündnis auszuschließen in Berlin bei den Wahlen dort, dass das ein Fehler war?
Kretschmann: Ja, hinterher ist man manchmal schlauer. Davon halte ich nichts, hinterher nachzutarocken und zu sagen, was man da für Fehler gemacht hat. Wir sind ohne Koalitionsaussage in einen Wahlkampf gegangen in Baden-Württemberg – ohne eine Koalitionsaussage. Es ist also immer eine Frage der Situation, der Konstellation. Im Wahlkampf hat sich allerdings dann rausgeschält, dass Grün-Rot die richtige Option ist, dann sind wir zusammengerückt im Wahlkampf. Also ob man mit einer Koalitionsaussage in den Wahlkampf geht oder ohne, das muss man immer entscheiden, wie gerade die Lage in der Nation ist.
Heckmann: Würden Sie das empfehlen, dass bei den nächsten Bundestagswahlen – SPD-Chef Sigmar Gabriel hat ja gefordert, dass sich die Partei distanziert, und Boris Palmer, der Oberbürgermeister von Tübingen, auch ein grüner Kopf, hat gemeint, im Frühjahr sollten die Grünen eine Koalitionsaussage zugunsten der SPD treffen.
Kretschmann: Ich meine, der Kollege Gabriel soll sich bitte um seine eigene Partei kümmern. Und was wir machen, bestimmen wir schon selber. Und wir haben jetzt eine klare Rot-Grün-Aussage gemacht. Ich weiß jetzt nicht, was er da rumzumäkeln hat und von uns noch will. Und die Katrin Göring hat sehr schön gesagt: Bekenntnisse gehören in die Kirche und nicht einfach in die Politik. Da sagt man was man will und fordert von einem nicht noch, was er sonst noch alles glaubt und tun soll. Im Übrigen: Wenn jemand Koalitionen mit der CDU macht, ist es bekanntlich die SPD und nicht wir. Da muss man sich nur Thüringen zum Beispiel angucken. Das werfen wir ihm ja auch nicht vor. Also insofern fand ich das etwas merkwürdig, seine Einlassung.
Heckmann: Aber wie gesagt: Boris Palmer empfiehlt eine Koalitionsaussage zugunsten der SPD im Frühjahr. Gehen Sie da mit?
Kretschmann: Selbstverständlich.
Heckmann: Sie sind dafür, dass eine solche Koalitionsaussage getroffen wird?
Kretschmann: Dass wir mit einer Koalitionsaussage in die Wahl gehen, finde ich richtig. Und die heißt Rot-Grün.
Heckmann: Herr Kretschmann, die Union steht stabil da in den Umfragen, trotz des anhaltenden Streits in der Bundesregierung. Die SPD hingegen, die tritt auf der Stelle. Und der Start von Peer Steinbrück ist ja ziemlich verhagelt durch die Diskussion seiner Nebeneinkünfte. Klaus Peter Schöppner, der Chef des EMNID-Instituts, der hat gesagt, Peer Steinbrück sei als Sozialdemokrat nachhaltig beschädigt, vor allem, wenn man sich anschaut, dass bei den letzten Wahlen, auch in Baden-Württemberg, die Glaubwürdigkeit ein ganz wichtiger Faktor gewesen ist. Ist also Peer Steinbrück als Kanzlerkandidat der SPD eine Fehlentscheidung gewesen?
Kretschmann: Also ich glaube das in keiner Weise, dass er nachhaltig beschädigt ist, sondern ich glaube, dass in drei Monaten darüber niemand mehr redet. Die Dinge müssen offengelegt werden, dafür hat er einiges getan. Und so wird es sich auch auswachsen. Man muss jetzt nicht gerade jedes Problem hoch stilisieren zu einem nachhaltigen Problem.
Heckmann: Man hat auch das Gefühl, dass er das Thema nicht so ganz mitbekommt und dass die Gefahr besteht, dass, wenn er von sozialer Gerechtigkeit spricht, die der eine oder andere Wähler ihm das jedenfalls nicht so ganz abnimmt.
Kretschmann: Ja gut, das kann ich im Letzten nicht beurteilen, was die Wähler einem abnehmen oder nicht. Er hat sich im Großen und Ganzen korrekt verhalten, vielleicht nicht immer das nötige Fingerspitzengefühl gehabt. Das hat er ja nun selber zugegeben an einigen Stellen. Aber es ist nicht verboten, durch gute Vorträge viel Geld zu verdienen. Ich meine, ich persönlich verlange jetzt für meine Vorträge kein Geld. Und wenn ich mal 500 Euro bekomme, spende ich die an gemeinnützige Organisationen. Also das muss jeder halten, wie er das für richtig hält.
Heckmann: Und 25.000 Euro von einer klammen Kommune wie Bochum?
Kretschmann: Das hat er selber als wenig Fingerspitzengefühl kritisiert. Mehr wie Selbstkritik kann man von einem nicht verlangen. Ich möchte einfach vor diesem Herummoralisieren warnen. Es führt zu nichts Gutem. Also nehmen Sie mal ein Beispiel: Der Präsident Bush war ein wiedererweckter Christ. Der Präsident Clinton hatte ein Verhältnis mit einer Praktikantin. Über deren Außenpolitik und ihre Qualität sagt das überhaupt gar nichts aus. Wenn wir immer zu viel Herummoralisieren, statt zu fragen, was wollen die Leute, sind sie durchsetzungsfähig, um das zu machen, das endet nie gut. In der Politik kommt es auf gute Ergebnisse an, und gut gemeint ist noch lange nicht gut. Und deswegen ist mein Vorschlag: Liebe Wählerinnen und liebe Wähler, guckt euch an, was wollen die führenden Politiker, was ist ihr Programm? Sind sie in der Lage, das auch glaubwürdig umzusetzen? Entscheidet so und nicht nach solchen Fragen, die bringen am Schluss gar nichts.
Heckmann: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann von Bündnis 90/Die Grünen. Wir wollen uns anschauen, was Ihre Partei für Pläne hat und für Vorschläge unterbreitet. Die Sozialpolitik war ein wichtiges Thema hier auf dem Parteitag. Sie fordern einen flächendeckenden Mindestlohn, eine armutsfeste Garantierente, die Hartz IV-Sätze sollen auf 420 Euro heraufgesetzt werden, Sie fordern eine Kindergrundsicherung. Das alles kostet Milliarden. Sind Die Grünen wieder auf dem Kurs 'Wünsch-dir-was-Politik' in der Opposition?
Kretschmann: Nein. Der Vorschlag des Bundesvorstandes war durchgerechnet. Wir hatten ja einige Änderungen vor, Dinge anders zu verteilen, zum Beispiel das Ehegattensplitting in Richtung Kinder umzuwidmen oder auch den Spitzensteuersatz zu erhöhen. Und da ist es natürlich wichtig, dass man nicht mehr verspricht, als man halten kann. Und vieles von dem, was da beschlossen ist, kann man ja nur in kleinen Schritten umsetzen und nicht auf einmal. Mindestlohn ist natürlich etwas anderes. Das wird man in der Breite gesetzlich durchsetzen. Das ist auch höchste Zeit, damit der Staat nicht sozusagen dauernd zuschießen muss, weil Löhne gezahlt werden, von denen kein Mensch leben kann. Also das ist schon ein wichtiger Beschluss, den die Landesregierung von Baden-Württemberg in einem Tariftreuegesetz schon lange umgesetzt hat. Also, es gibt eben Beschlüsse, die werden sofort in vollem Umfang umgesetzt wie etwa ein flächendeckender Mindestlohn. Andere Dinge kann man nur schrittweise und oft nur in kleinen Schritten umsetzen. Und das muss man nachher natürlich genau verhandeln.
Heckmann: Zur Finanzierung dieser Pläne wollen Die Grünen den Spitzensteuersatz anheben. Sie haben es gerade eben schon erwähnt. Die Erbschaftssteuer soll ausgeweitet werden und auch eine Vermögensabgabe für Spitzenverdiener soll eingeführt werden. Sie wollen also die Steuern erhöhen. Ein gutes Signal in einem Bundestagswahljahr, auch gerade mit Blick auf die Mitte?
Kretschmann: Wir haben in Baden-Württemberg die Grunderwerbssteuer erhöht um anderthalb Prozent und haben gesagt, damit werden wir die Betreuung und Bildung von Kleinkindern finanzieren. Außer einem leichten Grummeln hat es keinen Protest gegeben. Wenn man also den Leuten klar macht, wofür setze ich die Steuererhöhungen ein und klare Ziele vorgibt, dann ist da auch eine Akzeptanz vorhanden. Und die Vermögensabgabe von Jürgen Trittin soll ja nicht für irgendwelche Sozialprogramme eingesetzt werden, sondern damit wir endlich von unseren Schulden runterkommen und uns nicht weiter verschulden. Das sind also klare Ansagen. Und man kann Steuern erhöhen, das ist möglich, und trotzdem Zuspruch bei der Wählerschaft bekommen. Allerdings muss es in Maßen erfolgen und man darf es nicht übertreiben. Also zwei Steuern zu erhöhen ist sozusagen das Ende der Fahnenstange. Man kann nicht sieben erhöhen.
Heckmann: Wie wollen Sie denn diejenigen Grünen- oder ehemaligen Grünenwähler überzeugen, die Ihnen das nicht so ganz abnehmen, dass Sie diese Forderungen wirklich umsetzen und die Die Grünen eben identifizieren mit der Agendapolitik?
Kretschmann: Ja, die Agendapolitik war richtig, hinter der stehe ich. Allerdings muss man sie modifizieren. Man macht ja mit allem Erfahrungen. Und insofern muss man alles modifizieren. Zum Beispiel muss man bei der Rente mit 67 schauen, dass auch Leute, die tatsächlich gar nicht mehr können, dass man denen eine andere Perspektive bietet. Das sind einfach Erfahrungen, die man macht nach so langer Zeit. An welcher Ecke muss man auch etwas korrigieren, nacharbeiten oder modifizieren. Das ist ganz normal in der Politik.
Heckmann: Wir haben auch gehört, dass Die Grünen mehr und bessere Kitas haben wollen. In Baden-Württemberg selbst, da fehlen noch 20.000 Plätze. Ist das der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit?
Kretschmann: Ja, ich meine, das ist ein Problem. Ich meine, mir hat jetzt der Städtetag gesagt, dass er den Rechtsanspruch gar nicht durchhalten kann. Da bin ich jetzt in der Diskussion mit ihm, ob das tatsächlich so ist und was die Gründe sind. Also, das zeigt, das ist natürlich eine der wichtigsten Aufgaben, die wir haben, denn frühkindliche Betreuung und Bildung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist die Grundlage, dass wir überhaupt wirtschaftlich weiter kommen. Also insofern liegt darin eine hohe Priorität. Und nachher, wenn ich tatsächlich Regierungsverhandlungen mache, also ein Regierungsprogramm plane, da geht es klar um Prioritäten. Was ist das Erste, das Zweite und Dritte, das muss man nach der Wichtigkeit machen. Und da steht das absolut vorne dran.
Heckmann: Sie haben den Rechtsanspruch erwähnt. Der soll ja greifen dann ab August nächsten Jahres. Wäre es denn aus Ihrer Sicht sinnvoll, diesen Vorschlag aufzugreifen, den Rechtsanspruch einzuschränken oder zu verschieben?
Kretschmann: Nein. Erst mal würde ich das ablehnen. Wir müssen schauen, ob wir das nicht hinbekommen. Ich wundere mich deswegen, wieso die Bundesregierung so etwas wie das Betreuungsgeld einführt, als hätten wir Geld im Überfluss, wo wir, wenn wir Wahlfreiheit wollen, noch nicht mal einen Rechtsanspruch, den sie ja selber eingeführt hat, erfüllen können. Also ich meine, das verstehe wirklich, wer will. Also ich denke, so kann man wirklich keine Politik machen. Die ist nicht in sich schlüssig und nicht bezahlbar.
Heckmann: Noch mal kurz zurück. Sie sagten, Sie wollen erst mal bei diesem Rechtsanspruch bleiben und mal schauen, ob er erfüllbar ist und schauen, ob es geht. Das heißt, für Sie ist eine Situation denkbar, wo Sie sagen würden – im Sommer nächsten Jahres beispielsweise –, wir verschieben das mit dem Rechtsanspruch?
Kretschmann: Das muss ich mal sehen. Deswegen muss ich ja erst mit dem Städtetag reden und mir das genau erläutern lassen, wo es da hängt und hakt. Und natürlich verlangen wir von niemand etwas, was er nicht kann. Das ist ja schon ein Grundsatz im römischen Recht. Das kann man einfach nicht. Da müssen wir gucken, wie wir das modifizieren, jetzt zum Beispiel für einzelne Altersstufen oder was auch immer. Aber bevor ich das nicht genau weiß, lege ich mich jetzt da nicht fest. Und in dem Prozess bin ich nicht. Ich habe mir das noch nicht erläutern lassen in der Genauigkeit und Klarheit. Da muss ich also erst Gespräche führen. Dann muss man gucken, ob wir nicht zu Lösungen kommen, die diesen Rechtsanspruch trotzdem erfüllen, woher das Geld kommt, und noch mal Druck auf den Bund machen, dass er diese Gelder auch zur Verfügung stellt, denn er hat ja offensichtlich übriges Geld fürs Betreuungsgeld.
Heckmann: Das Interview der Woche mit Winfried Kretschmann, dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg hier im Deutschlandfunk. Herr Kretschmann, Sie haben ja mit Ihrer Äußerung, dass auch in Baden-Württemberg nach einem Endlager für Atommüll gesucht werden kann, die Blockade, die ja bisher da war, aufgelöst. Jetzt haben SPD und Grüne auf Bundesebene die Zusammenarbeit mit Umweltminister Altmaier praktisch aufgekündigt. Ein fatales Signal, oder?
Kretschmann: Das wüsste ich nicht, wie Sie zu dieser Aussage kommen. Wir haben gar nichts aufgekündigt.
Heckmann: Ein wichtiges Treffen wurde abgesagt.
Kretschmann: Aber gut, ich meine, das ist doch nicht die Aufkündigung eines Prozesses, wenn man mal ein Treffen absagt. Das sind Dinge, die dauern noch Jahrzehnte. Da geht es um hunderttausend Jahre und nicht um das nächste Treffen. Da wird es noch Hunderte von Treffen geben in den nächsten Jahrzehnten, bis so etwas steht. Und ich kann nur appellieren an alle, es muss da ein nationaler Konsens hergestellt werden, sonst kann das niemand stemmen, ein Endlager irgendwann auch durchzusetzen.
Heckmann: Wie sehr ärgern Sie sich denn, dass die Gespräche zwischen Regierung und Opposition da wieder festgefahren sind?
Kretschmann: Ja, an mir lag es nicht.
Heckmann: Sondern?
Kretschmann: Ja, ich meine, die Bundespolitiker neigen immer ein bisschen mehr zum Taktieren als wir. Und wir bleiben in dem Prozess drin und verhandeln weiter, und zwar sehr ernsthaft und an der Sache orientiert.
Heckmann: Die Bundespolitiker taktieren ein bisschen mehr als die Landespolitiker. Verstehe ich Sie richtig, wenn Sie da andeuten, dass die Landtagswahl in Niedersachsen da möglicherweise eine Rolle gespielt hat?
Kretschmann: Ja klar. Ich meine, die hat ja schon eine Rolle das letzte Mal gespielt in Nordrhein-Westfalen. Ich kann den Leuten immer nur sagen, hier geht es um hunderttausend Jahre und nicht um die nächste Wahl. Davon muss man endlich mal abrücken. Wir haben dauernd Wahlen in Deutschland mit 16 Bundesländern. Dann kommt die Bundestagswahl. Wir müssen uns davon endlich mal verabschieden. Hier geht es nämlich nicht um Differenz, sondern um Konsens. Und da muss man sich mal aus den üblichen tagespolitischen Fingerhakeleien und Kontroversen verabschieden und nach Konsens auch suchen. Sonst findet man ihn nämlich nicht. Und das ist hier wirklich angesagt.
Heckmann: Eher unwahrscheinlich, dass noch vor der Landtagswahl in Niedersachsen Bewegung in die Sache kommt. Dann stehen die Bundestagswahlen an. Denken Sie denn, dass es dann bis dahin eine Lösung geben kann, oder ist das Zeitfenster zu?
Kretschmann: Das Zeitfenster nach der Niedersachsenwahl dauert bis Ostern. Dann muss man es wirklich hinbekommen, einen Knopf dran machen, sonst scheitert es wieder. Und ich werde alles dafür tun, dass das geschieht. Ich werde meine ganze Kraft da rein setzen, dass wir zu solch einem nationalen Konsens kommen. Das ist von überragender Bedeutung für Deutschland, ist die schwierigste Infrastrukturentscheidung, die jemals zu fällen ist in Deutschland. Die Menschen müssen sicher sein, dass der Müll dort hin kommt, wo uns die Wissenschaftler sagen, das ist der sicherste Platz in Deutschland. Das darf das einzige Kriterium sein.
Heckmann: Herr Kretschmann, die "Süddeutsche Zeitung" hat geschrieben, die Grünen verändern das Land. Die Regierung müsste auch die Grünen verändern. Und damit war die Regierung in Baden-Württemberg gemeint. Sie sind seit dem 12. Mai 2011 erster grüner Ministerpräsident. Wie sehr hat Sie das verändert?
Kretschmann: Das wäre ja schlimm, wenn mich das nach anderthalb Jahren schon verändert hat. Aber natürlich ändert man sich in solch einem Amt. Eine Regierung zu führen und ein Land zu führen, in der Situation waren wir noch nie. Da gewinnt man schon für manches einen etwas anderen Blick. Und insofern verändert das Politik, das ist ja völlig klar, alles andere wäre auch komisch. Aber es verändert mich nicht in meinen Grundansichten und Grundanschauungen. Das wäre ja nun wirklich absurd.
Heckmann: Und wissen Sie auch, ob Sie als erster grüner Ministerpräsident im Jahr 2016 der erste wiedergewählte Ministerpräsident werden wollen?
Kretschmann: Ach, das weiß ich sicher nicht heute. Ich meine, dafür muss ich erst mal gesund bleiben zum Beispiel. Dafür tue ich zwar einiges, aber das weiß man nie. Insofern ist das etwas, was Sie zur Unzeit fragen. Jetzt wollen wir erst mal für die Periode, für die wir gewählt sind, zeigen, dass wir ein Land gut führen können. Und was dann ist, das wird sich dann zeigen.
Heckmann: Herr Ministerpräsident, ich bedanke mich für das Gespräch.
Kretschmann: Bitte schön.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Dirk-Oliver Heckmann: Herr Ministerpräsident, Claudia Roth ist ja jetzt wiedergewählt worden mit 88,5 Prozent der Stimmen – nach enttäuschenden 26 Prozent bei der Urwahl, die sie ja als "Schlappe" selber auch bezeichnet hat und als "Klatsche". Ist sie rehabilitiert?
Winfried Kretschmann: Ja, ich meine, wovon soll sie rehabilitiert worden sein? Ich sehe das ganz anders. Die Basis wollte eine Doppelspitze, in der jetzt nicht zwei vom linken Flügel repräsentiert sind, sondern die wollten die Partei in ihrer Breite aufstellen, das war in keiner Weise gegen Claudia Roth gerichtet, das hat ja das heutige Ergebnis gezeigt – sondern es war ein Votum für eine bestimmte Konstellation. Insofern ging es da nie um eine Rehabilitierung, das war mir völlig klar. Und darum habe ich ja zu ihr auch gesagt: "Kandidiere, Du wirst sehen, Du hast immer gute Ergebnisse bekommen, warum sollte das auf einmal anders sein?" Es war eine andere Wahl, die hatte mit ihrer Person erstmal gar nichts zu tun, sondern mit der Konstellation.
Heckmann: Herr Kretschmann, Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt sind jetzt die Spitzenkandidaten. Was bedeutet das? Bedeutet das, dass die Grünen jetzt weniger schrill werden, weniger aufmüpfig, auch etwas langweiliger?
Kretschmann: Also ich erkenne nicht, was an Trittin schrill sein soll, sondern sie stellen sich in ihrer Breite da. Jeder hat auch seinen Stil, der ist ja bei beiden ganz anders. Trittin ist durchaus jemand, der zuspitzen und auch polarisieren kann, das muss er auch machen in dem Wahlkampf. Katrin Göring-Eckardt argumentiert getragener, verbindlicher, auch konsensualer. Und das ist gut, wenn man auch darstellt, dass man ganz anders Politik machen kann – der eine so, der andere so. Das ist der Vorteil einer Doppelspitze.
Heckmann: Jetzt heißt es ja, Herr Kretschmann, die Grünen seien in der Mitte angekommen. Jetzt ist die Frage, ob diese so genannte grüne Mitte auch mit der CDU und der CSU zusammenarbeiten kann eines Tages. Viele sagen ja jetzt, mit Katrin Göring-Eckardt sei Schwarz-Grün wahrscheinlicher als jemals zuvor.
Kretschmann: Ich bin erstaunt über die Unsinnigkeit dieser Debatte. Wir haben eine schwarz-gelbe Regierung, die wollen wir ablösen. Warum man jetzt in solch einer Phase irgendwelche Schwarz-Grün-Debatten führt, ist mir völlig unerfindlich. Es ist doch eine klare Aussage, die wir da treffen, die ist auch ganz normal. Die Opposition, nämlich Rot und Grün, wollen die Regierung ablösen, Schwarz und Gelb, das ist der Normalfall der Demokratie, und damit geht man in den Wahlkampf und nicht mit irgendwelchen Sandkastenspielen.
Heckmann: Jürgen Trittin, Katrin Göring-Eckardt und Claudia Roth, auch im letzten Jahr, haben Schwarz-Grün ausgeschlossen, praktisch jedenfalls. Ist das aus Ihrer Sicht auch wirklich richtig? Denn Sie sind ja doch eher der Ansicht, dass man solche Optionen nicht unbedingt ausschließen sollte.
Kretschmann: In der Tat, also ich bin für eine klare Ansage, die heißt: Rot-Grün soll Schwarz-Gelb ablösen. Aber ich bin auch gegen eine Ausschließeritis. Denn wenn der Wähler anders entscheiden sollte – wir haben genug Erfahrung aus der Vergangenheit, dass er das zuweilen macht, darf man ja nicht handlungsunfähig sein. Da muss man vielleicht etwas machen, das nicht erste, sondern zweite oder dritte Wahl war. Und die muss man dann verhandeln. Also, ich bin ein ganz entschiedener Gegner von Ausschließeritis unter demokratischen Parteien.
Heckmann: Das heißt, es war falsch, jetzt auf dem Parteitag zu sagen: Wir werden, wir wollen mit der Union nicht zusammenarbeiten?
Kretschmann: Nein, das hat ja auch niemand gesagt, sondern es wurde gesagt, dass wir die ablösen wollen, mit denen nicht regieren wollen. Das ist richtig, aber von Ausschließeritis habe ich jetzt nichts direkt gehört, obwohl manches nahe dran war. Aber das ist ja logisch bei solchen Auseinandersetzungen. Auf dem Parteitag muss man ein klares Ziel benennen und nicht rumschwadronieren.
Heckmann: In der Tat. Wenn man genau zugehört hat, haben die Spitzenleute gesagt, man sehe keine Gemeinsamkeiten, man könne sich eine Zusammenarbeit nicht vorstellen. Also, insofern ist das zu interpretieren, dass man sich ein Hintertürchen offen hält.
Kretschmann: Das ist kein Hintertürchen, das ist kein Hintertürchen, es ist eine zweite Tür. Hintertüren gibt’s in der Demokratie nicht. Die Leute wählen, was sie wollen. Und damit muss sich die Politik auseinandersetzen. Es klingt so irgendwie ganz merkwürdig, sondern man geht mit einer klaren Ansage rein, und wenn man rot-grün will – was soll man jetzt erzählen, dass vielleicht auch doch Schwarz-Grün irgendwie auch möglich sei, das ist doch völlig unsinnig. Man geht mit klarem Profil rein und sagt, der ist dafür der richtige Partner. Aber deswegen muss man für Fälle, wo der Wähler anders entscheidet, noch lange nichts ausschließen. Man lässt sich dadurch kein Hintertürchen offen, sondern das ist die Gemeinsamkeit von demokratischen Parteien auch im Grundgesetz, dass sie auch in schwierigen Konstellationen trotzdem was zustande bekommen, denn regiert werden müssen wir ja auf jedem Fall. Wir können ja nicht nach der Wahl sagen: Das passt uns nicht, jetzt wählt bitte noch mal.
Heckmann: Schauen wir einmal auf die andere Seite. Norbert Röttgen, der stellvertretende CDU-Chef, der ja jetzt aus diesem Amt scheidet und sein designierter Nachfolger Armin Laschet, die haben sich jetzt am Wochenende offen gezeigt für solche Bündnisse. Die haben gesagt: Die alten ideologischen Kämpfe seien vorbei. Sehen Sie das auch so?
Kretschmann: Ja, die sind vorbei. Trotzdem haben sie die Lage nicht aufgelöst. Die Gesellschaft ist pluralistischer und vielfältiger geworden, und die Menschen wollen, dass wir uns um ihre Sachprobleme und ihre Sorgen kümmern und nicht immer Lagediskussionen. Das sind immer Medien-Diskussionen, aber das sind nicht die Diskussionen der Wählerschaft.
Heckmann: Die Wähler schon. Vielleicht interessiert die Wähler schon, ob ein Bündnis zwischen Grün und der CDU möglicherweise das Ergebnis der nächsten Wahlen sein könnte.
Kretschmann: Ich meine, das bestimmen wir doch durch Diskussionen nicht, das bestimmen doch die Wähler durch ihre Wahl. Also das ist doch etwas, was wir gar nicht in der Hand haben. Wir können doch den Leuten nicht durch Diskussionen irgendeine Wahl aufdrängen. Die Leute wählen ja auch nicht zwei Parteien oder eine Koalition, sie wählen immer nur eine Partei. Wir sagen, was wir wollen, damit die Leute bescheid wissen. Und wenn sich nachher etwas anderes, müssen wir ja verhandeln. Das weiß nun jede aufgeklärte Bürgerin und jeder Bürger, dass es zu solchen Konstellationen kommen muss. Ich verstehe irgendwie nicht diese Sucht nach Sandkastenspielen.
Heckmann: Das heißt, Sie würden aus Ihrer Sicht nicht sagen, dass die Entscheidung von Renate Künast, so lange sich das offen zu halten und ganz spät erst ein solches Bündnis auszuschließen in Berlin bei den Wahlen dort, dass das ein Fehler war?
Kretschmann: Ja, hinterher ist man manchmal schlauer. Davon halte ich nichts, hinterher nachzutarocken und zu sagen, was man da für Fehler gemacht hat. Wir sind ohne Koalitionsaussage in einen Wahlkampf gegangen in Baden-Württemberg – ohne eine Koalitionsaussage. Es ist also immer eine Frage der Situation, der Konstellation. Im Wahlkampf hat sich allerdings dann rausgeschält, dass Grün-Rot die richtige Option ist, dann sind wir zusammengerückt im Wahlkampf. Also ob man mit einer Koalitionsaussage in den Wahlkampf geht oder ohne, das muss man immer entscheiden, wie gerade die Lage in der Nation ist.
Heckmann: Würden Sie das empfehlen, dass bei den nächsten Bundestagswahlen – SPD-Chef Sigmar Gabriel hat ja gefordert, dass sich die Partei distanziert, und Boris Palmer, der Oberbürgermeister von Tübingen, auch ein grüner Kopf, hat gemeint, im Frühjahr sollten die Grünen eine Koalitionsaussage zugunsten der SPD treffen.
Kretschmann: Ich meine, der Kollege Gabriel soll sich bitte um seine eigene Partei kümmern. Und was wir machen, bestimmen wir schon selber. Und wir haben jetzt eine klare Rot-Grün-Aussage gemacht. Ich weiß jetzt nicht, was er da rumzumäkeln hat und von uns noch will. Und die Katrin Göring hat sehr schön gesagt: Bekenntnisse gehören in die Kirche und nicht einfach in die Politik. Da sagt man was man will und fordert von einem nicht noch, was er sonst noch alles glaubt und tun soll. Im Übrigen: Wenn jemand Koalitionen mit der CDU macht, ist es bekanntlich die SPD und nicht wir. Da muss man sich nur Thüringen zum Beispiel angucken. Das werfen wir ihm ja auch nicht vor. Also insofern fand ich das etwas merkwürdig, seine Einlassung.
Heckmann: Aber wie gesagt: Boris Palmer empfiehlt eine Koalitionsaussage zugunsten der SPD im Frühjahr. Gehen Sie da mit?
Kretschmann: Selbstverständlich.
Heckmann: Sie sind dafür, dass eine solche Koalitionsaussage getroffen wird?
Kretschmann: Dass wir mit einer Koalitionsaussage in die Wahl gehen, finde ich richtig. Und die heißt Rot-Grün.
Heckmann: Herr Kretschmann, die Union steht stabil da in den Umfragen, trotz des anhaltenden Streits in der Bundesregierung. Die SPD hingegen, die tritt auf der Stelle. Und der Start von Peer Steinbrück ist ja ziemlich verhagelt durch die Diskussion seiner Nebeneinkünfte. Klaus Peter Schöppner, der Chef des EMNID-Instituts, der hat gesagt, Peer Steinbrück sei als Sozialdemokrat nachhaltig beschädigt, vor allem, wenn man sich anschaut, dass bei den letzten Wahlen, auch in Baden-Württemberg, die Glaubwürdigkeit ein ganz wichtiger Faktor gewesen ist. Ist also Peer Steinbrück als Kanzlerkandidat der SPD eine Fehlentscheidung gewesen?
Kretschmann: Also ich glaube das in keiner Weise, dass er nachhaltig beschädigt ist, sondern ich glaube, dass in drei Monaten darüber niemand mehr redet. Die Dinge müssen offengelegt werden, dafür hat er einiges getan. Und so wird es sich auch auswachsen. Man muss jetzt nicht gerade jedes Problem hoch stilisieren zu einem nachhaltigen Problem.
Heckmann: Man hat auch das Gefühl, dass er das Thema nicht so ganz mitbekommt und dass die Gefahr besteht, dass, wenn er von sozialer Gerechtigkeit spricht, die der eine oder andere Wähler ihm das jedenfalls nicht so ganz abnimmt.
Kretschmann: Ja gut, das kann ich im Letzten nicht beurteilen, was die Wähler einem abnehmen oder nicht. Er hat sich im Großen und Ganzen korrekt verhalten, vielleicht nicht immer das nötige Fingerspitzengefühl gehabt. Das hat er ja nun selber zugegeben an einigen Stellen. Aber es ist nicht verboten, durch gute Vorträge viel Geld zu verdienen. Ich meine, ich persönlich verlange jetzt für meine Vorträge kein Geld. Und wenn ich mal 500 Euro bekomme, spende ich die an gemeinnützige Organisationen. Also das muss jeder halten, wie er das für richtig hält.
Heckmann: Und 25.000 Euro von einer klammen Kommune wie Bochum?
Kretschmann: Das hat er selber als wenig Fingerspitzengefühl kritisiert. Mehr wie Selbstkritik kann man von einem nicht verlangen. Ich möchte einfach vor diesem Herummoralisieren warnen. Es führt zu nichts Gutem. Also nehmen Sie mal ein Beispiel: Der Präsident Bush war ein wiedererweckter Christ. Der Präsident Clinton hatte ein Verhältnis mit einer Praktikantin. Über deren Außenpolitik und ihre Qualität sagt das überhaupt gar nichts aus. Wenn wir immer zu viel Herummoralisieren, statt zu fragen, was wollen die Leute, sind sie durchsetzungsfähig, um das zu machen, das endet nie gut. In der Politik kommt es auf gute Ergebnisse an, und gut gemeint ist noch lange nicht gut. Und deswegen ist mein Vorschlag: Liebe Wählerinnen und liebe Wähler, guckt euch an, was wollen die führenden Politiker, was ist ihr Programm? Sind sie in der Lage, das auch glaubwürdig umzusetzen? Entscheidet so und nicht nach solchen Fragen, die bringen am Schluss gar nichts.
Heckmann: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann von Bündnis 90/Die Grünen. Wir wollen uns anschauen, was Ihre Partei für Pläne hat und für Vorschläge unterbreitet. Die Sozialpolitik war ein wichtiges Thema hier auf dem Parteitag. Sie fordern einen flächendeckenden Mindestlohn, eine armutsfeste Garantierente, die Hartz IV-Sätze sollen auf 420 Euro heraufgesetzt werden, Sie fordern eine Kindergrundsicherung. Das alles kostet Milliarden. Sind Die Grünen wieder auf dem Kurs 'Wünsch-dir-was-Politik' in der Opposition?
Kretschmann: Nein. Der Vorschlag des Bundesvorstandes war durchgerechnet. Wir hatten ja einige Änderungen vor, Dinge anders zu verteilen, zum Beispiel das Ehegattensplitting in Richtung Kinder umzuwidmen oder auch den Spitzensteuersatz zu erhöhen. Und da ist es natürlich wichtig, dass man nicht mehr verspricht, als man halten kann. Und vieles von dem, was da beschlossen ist, kann man ja nur in kleinen Schritten umsetzen und nicht auf einmal. Mindestlohn ist natürlich etwas anderes. Das wird man in der Breite gesetzlich durchsetzen. Das ist auch höchste Zeit, damit der Staat nicht sozusagen dauernd zuschießen muss, weil Löhne gezahlt werden, von denen kein Mensch leben kann. Also das ist schon ein wichtiger Beschluss, den die Landesregierung von Baden-Württemberg in einem Tariftreuegesetz schon lange umgesetzt hat. Also, es gibt eben Beschlüsse, die werden sofort in vollem Umfang umgesetzt wie etwa ein flächendeckender Mindestlohn. Andere Dinge kann man nur schrittweise und oft nur in kleinen Schritten umsetzen. Und das muss man nachher natürlich genau verhandeln.
Heckmann: Zur Finanzierung dieser Pläne wollen Die Grünen den Spitzensteuersatz anheben. Sie haben es gerade eben schon erwähnt. Die Erbschaftssteuer soll ausgeweitet werden und auch eine Vermögensabgabe für Spitzenverdiener soll eingeführt werden. Sie wollen also die Steuern erhöhen. Ein gutes Signal in einem Bundestagswahljahr, auch gerade mit Blick auf die Mitte?
Kretschmann: Wir haben in Baden-Württemberg die Grunderwerbssteuer erhöht um anderthalb Prozent und haben gesagt, damit werden wir die Betreuung und Bildung von Kleinkindern finanzieren. Außer einem leichten Grummeln hat es keinen Protest gegeben. Wenn man also den Leuten klar macht, wofür setze ich die Steuererhöhungen ein und klare Ziele vorgibt, dann ist da auch eine Akzeptanz vorhanden. Und die Vermögensabgabe von Jürgen Trittin soll ja nicht für irgendwelche Sozialprogramme eingesetzt werden, sondern damit wir endlich von unseren Schulden runterkommen und uns nicht weiter verschulden. Das sind also klare Ansagen. Und man kann Steuern erhöhen, das ist möglich, und trotzdem Zuspruch bei der Wählerschaft bekommen. Allerdings muss es in Maßen erfolgen und man darf es nicht übertreiben. Also zwei Steuern zu erhöhen ist sozusagen das Ende der Fahnenstange. Man kann nicht sieben erhöhen.
Heckmann: Wie wollen Sie denn diejenigen Grünen- oder ehemaligen Grünenwähler überzeugen, die Ihnen das nicht so ganz abnehmen, dass Sie diese Forderungen wirklich umsetzen und die Die Grünen eben identifizieren mit der Agendapolitik?
Kretschmann: Ja, die Agendapolitik war richtig, hinter der stehe ich. Allerdings muss man sie modifizieren. Man macht ja mit allem Erfahrungen. Und insofern muss man alles modifizieren. Zum Beispiel muss man bei der Rente mit 67 schauen, dass auch Leute, die tatsächlich gar nicht mehr können, dass man denen eine andere Perspektive bietet. Das sind einfach Erfahrungen, die man macht nach so langer Zeit. An welcher Ecke muss man auch etwas korrigieren, nacharbeiten oder modifizieren. Das ist ganz normal in der Politik.
Heckmann: Wir haben auch gehört, dass Die Grünen mehr und bessere Kitas haben wollen. In Baden-Württemberg selbst, da fehlen noch 20.000 Plätze. Ist das der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit?
Kretschmann: Ja, ich meine, das ist ein Problem. Ich meine, mir hat jetzt der Städtetag gesagt, dass er den Rechtsanspruch gar nicht durchhalten kann. Da bin ich jetzt in der Diskussion mit ihm, ob das tatsächlich so ist und was die Gründe sind. Also, das zeigt, das ist natürlich eine der wichtigsten Aufgaben, die wir haben, denn frühkindliche Betreuung und Bildung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist die Grundlage, dass wir überhaupt wirtschaftlich weiter kommen. Also insofern liegt darin eine hohe Priorität. Und nachher, wenn ich tatsächlich Regierungsverhandlungen mache, also ein Regierungsprogramm plane, da geht es klar um Prioritäten. Was ist das Erste, das Zweite und Dritte, das muss man nach der Wichtigkeit machen. Und da steht das absolut vorne dran.
Heckmann: Sie haben den Rechtsanspruch erwähnt. Der soll ja greifen dann ab August nächsten Jahres. Wäre es denn aus Ihrer Sicht sinnvoll, diesen Vorschlag aufzugreifen, den Rechtsanspruch einzuschränken oder zu verschieben?
Kretschmann: Nein. Erst mal würde ich das ablehnen. Wir müssen schauen, ob wir das nicht hinbekommen. Ich wundere mich deswegen, wieso die Bundesregierung so etwas wie das Betreuungsgeld einführt, als hätten wir Geld im Überfluss, wo wir, wenn wir Wahlfreiheit wollen, noch nicht mal einen Rechtsanspruch, den sie ja selber eingeführt hat, erfüllen können. Also ich meine, das verstehe wirklich, wer will. Also ich denke, so kann man wirklich keine Politik machen. Die ist nicht in sich schlüssig und nicht bezahlbar.
Heckmann: Noch mal kurz zurück. Sie sagten, Sie wollen erst mal bei diesem Rechtsanspruch bleiben und mal schauen, ob er erfüllbar ist und schauen, ob es geht. Das heißt, für Sie ist eine Situation denkbar, wo Sie sagen würden – im Sommer nächsten Jahres beispielsweise –, wir verschieben das mit dem Rechtsanspruch?
Kretschmann: Das muss ich mal sehen. Deswegen muss ich ja erst mit dem Städtetag reden und mir das genau erläutern lassen, wo es da hängt und hakt. Und natürlich verlangen wir von niemand etwas, was er nicht kann. Das ist ja schon ein Grundsatz im römischen Recht. Das kann man einfach nicht. Da müssen wir gucken, wie wir das modifizieren, jetzt zum Beispiel für einzelne Altersstufen oder was auch immer. Aber bevor ich das nicht genau weiß, lege ich mich jetzt da nicht fest. Und in dem Prozess bin ich nicht. Ich habe mir das noch nicht erläutern lassen in der Genauigkeit und Klarheit. Da muss ich also erst Gespräche führen. Dann muss man gucken, ob wir nicht zu Lösungen kommen, die diesen Rechtsanspruch trotzdem erfüllen, woher das Geld kommt, und noch mal Druck auf den Bund machen, dass er diese Gelder auch zur Verfügung stellt, denn er hat ja offensichtlich übriges Geld fürs Betreuungsgeld.
Heckmann: Das Interview der Woche mit Winfried Kretschmann, dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg hier im Deutschlandfunk. Herr Kretschmann, Sie haben ja mit Ihrer Äußerung, dass auch in Baden-Württemberg nach einem Endlager für Atommüll gesucht werden kann, die Blockade, die ja bisher da war, aufgelöst. Jetzt haben SPD und Grüne auf Bundesebene die Zusammenarbeit mit Umweltminister Altmaier praktisch aufgekündigt. Ein fatales Signal, oder?
Kretschmann: Das wüsste ich nicht, wie Sie zu dieser Aussage kommen. Wir haben gar nichts aufgekündigt.
Heckmann: Ein wichtiges Treffen wurde abgesagt.
Kretschmann: Aber gut, ich meine, das ist doch nicht die Aufkündigung eines Prozesses, wenn man mal ein Treffen absagt. Das sind Dinge, die dauern noch Jahrzehnte. Da geht es um hunderttausend Jahre und nicht um das nächste Treffen. Da wird es noch Hunderte von Treffen geben in den nächsten Jahrzehnten, bis so etwas steht. Und ich kann nur appellieren an alle, es muss da ein nationaler Konsens hergestellt werden, sonst kann das niemand stemmen, ein Endlager irgendwann auch durchzusetzen.
Heckmann: Wie sehr ärgern Sie sich denn, dass die Gespräche zwischen Regierung und Opposition da wieder festgefahren sind?
Kretschmann: Ja, an mir lag es nicht.
Heckmann: Sondern?
Kretschmann: Ja, ich meine, die Bundespolitiker neigen immer ein bisschen mehr zum Taktieren als wir. Und wir bleiben in dem Prozess drin und verhandeln weiter, und zwar sehr ernsthaft und an der Sache orientiert.
Heckmann: Die Bundespolitiker taktieren ein bisschen mehr als die Landespolitiker. Verstehe ich Sie richtig, wenn Sie da andeuten, dass die Landtagswahl in Niedersachsen da möglicherweise eine Rolle gespielt hat?
Kretschmann: Ja klar. Ich meine, die hat ja schon eine Rolle das letzte Mal gespielt in Nordrhein-Westfalen. Ich kann den Leuten immer nur sagen, hier geht es um hunderttausend Jahre und nicht um die nächste Wahl. Davon muss man endlich mal abrücken. Wir haben dauernd Wahlen in Deutschland mit 16 Bundesländern. Dann kommt die Bundestagswahl. Wir müssen uns davon endlich mal verabschieden. Hier geht es nämlich nicht um Differenz, sondern um Konsens. Und da muss man sich mal aus den üblichen tagespolitischen Fingerhakeleien und Kontroversen verabschieden und nach Konsens auch suchen. Sonst findet man ihn nämlich nicht. Und das ist hier wirklich angesagt.
Heckmann: Eher unwahrscheinlich, dass noch vor der Landtagswahl in Niedersachsen Bewegung in die Sache kommt. Dann stehen die Bundestagswahlen an. Denken Sie denn, dass es dann bis dahin eine Lösung geben kann, oder ist das Zeitfenster zu?
Kretschmann: Das Zeitfenster nach der Niedersachsenwahl dauert bis Ostern. Dann muss man es wirklich hinbekommen, einen Knopf dran machen, sonst scheitert es wieder. Und ich werde alles dafür tun, dass das geschieht. Ich werde meine ganze Kraft da rein setzen, dass wir zu solch einem nationalen Konsens kommen. Das ist von überragender Bedeutung für Deutschland, ist die schwierigste Infrastrukturentscheidung, die jemals zu fällen ist in Deutschland. Die Menschen müssen sicher sein, dass der Müll dort hin kommt, wo uns die Wissenschaftler sagen, das ist der sicherste Platz in Deutschland. Das darf das einzige Kriterium sein.
Heckmann: Herr Kretschmann, die "Süddeutsche Zeitung" hat geschrieben, die Grünen verändern das Land. Die Regierung müsste auch die Grünen verändern. Und damit war die Regierung in Baden-Württemberg gemeint. Sie sind seit dem 12. Mai 2011 erster grüner Ministerpräsident. Wie sehr hat Sie das verändert?
Kretschmann: Das wäre ja schlimm, wenn mich das nach anderthalb Jahren schon verändert hat. Aber natürlich ändert man sich in solch einem Amt. Eine Regierung zu führen und ein Land zu führen, in der Situation waren wir noch nie. Da gewinnt man schon für manches einen etwas anderen Blick. Und insofern verändert das Politik, das ist ja völlig klar, alles andere wäre auch komisch. Aber es verändert mich nicht in meinen Grundansichten und Grundanschauungen. Das wäre ja nun wirklich absurd.
Heckmann: Und wissen Sie auch, ob Sie als erster grüner Ministerpräsident im Jahr 2016 der erste wiedergewählte Ministerpräsident werden wollen?
Kretschmann: Ach, das weiß ich sicher nicht heute. Ich meine, dafür muss ich erst mal gesund bleiben zum Beispiel. Dafür tue ich zwar einiges, aber das weiß man nie. Insofern ist das etwas, was Sie zur Unzeit fragen. Jetzt wollen wir erst mal für die Periode, für die wir gewählt sind, zeigen, dass wir ein Land gut führen können. Und was dann ist, das wird sich dann zeigen.
Heckmann: Herr Ministerpräsident, ich bedanke mich für das Gespräch.
Kretschmann: Bitte schön.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.