Archiv

Krieg gegen IS
Ein Staat, nicht nur eine Miliz

Der Islamwissenschaftler und Journalist Rainer Hermann warnt in seinem neuen Buch "Endstation Islamischer Staat?" davor, den Religionskrieg in der arabischen Welt zu unterschätzen. "Immer wenn wir geglaubt haben, dass eine Terrorstufe beendet ist, zum Beispiel Al Kaida besiegt, dann kommt eine neue, wie jetzt der Islamische Staat", sagte Hermann im DLF.

Rainer Hermann im Gespräch mit Andreas Main |
    Mutmaßliche Kämpfer des Islamischen Staates hissen die Flagge der Miliz auf einem Hügel bei Kobane in Syrien.
    Rainer Hermann warnt vor neuen Eskalationsstufen des islamistischen Terrors (AFP / Aris Messinis)
    Andreas Main: "Endstation Islamischer Staat?" ist der Titel eines Buches, das am Montag (16.03.2015) erscheint. Aber wenn man sich die 144 Seiten zu Gemüte führt, dann wird einem klar: Dieser Autor, der sich in der arabischen Welt extrem gut auskennt, ist pessimistisch. In diese Richtung deutet auch der Untertitel "Staatsversagen und Religionskrieg in der arabischen Welt". Geschrieben hat dieses Buch Rainer Hermann. Er ist Islamwissenschaftler und Volkswirt und Redakteur bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Fast 20 Jahre lang hat er von Istanbul und Abu Dhabi aus über die Türkei und die arabische Welt berichtet - und tut dies immer noch mit all seinem Wissen - jetzt von Frankfurt aus.
    Main: Sie sind in Ihrer ganzen Herangehensweise ausgesprochen detailgenau. Ist das womöglich auch der Grund, dass Sie so pessimistisch wirken in Ihrem Buch und zu dem Ergebnis kommen, dass das, was im arabischen Raum gerade geschieht, auch uns in Europa noch mehr direkt betreffen wird, als wir ahnen?
    Rainer Hermann: Ja, also ich bin in der Tat pessimistisch und das hat eine Reihe von Gründen. Zum einen sehe ich in den vergangenen Jahrzehnten neue Eskalationsstufen des islamistischen Terrors. Immer wenn wir geglaubt haben, dass eine Terrorstufe beendet ist, zum Beispiel Al Kaida besiegt, dann kommt eine neue, wie jetzt hier der Islamische Staat. Und dieser Islamische Staat ist langfristig für uns gefährlicher, weil er eine Vielzahl von jungen europäischen Muslimen angezogen hat, die eines Tages zurückkehren - entweder traumatisiert oder bereit, Anschläge zu begehen. Sicherheitskreise erwarten, dass jeder vierte dieser Rückkehrer eine Gefahr für die innere Sicherheit Europas sein wird.
    Main: Sie sprechen ganz dezidiert von einem Religionskrieg im Nahen Osten. Wie verlaufen aus Ihrer Sicht die religiösen Fronten?
    Hermann: Die religiösen Fronten verlaufen vor allem zwischen Sunniten und Schiiten - das heißt, zwischen deren Schutzmächten Saudi-Arabien für die Sunniten und Iran für die Schiiten. Das ist ein Konflikt, der sich durch die ganze Geschichte der islamischen Welt durchzieht, aber jetzt in den letzten Jahrzehnten virulent geworden ist. Da stehen sich zwei politische Ordnungsvorstellungen gegenüber, die sehr konträr sind und nicht vereinbar. Die Sunniten argumentieren, dass derjenige die Führung der Umma, also der Gemeinschaft der Muslime, übernehmen soll, der sich durchgesetzt hat. Genau dieser ist von Allah gewollt. Das ist also ein sehr realpolitischer Ansatz. Während die Schiiten argumentieren, nein - es kann nur jemand sein, der aus der Familie des Propheten entstammt. Das ist ein Ansatz, der mit Gerechtigkeit umschrieben wird. Gerechtigkeit gegen Real- und Machtpolitik - das sind unvereinbare Konzepte, die vor allen Dingen aufeinanderstoßen seit der Islamischen Revolution 1979 und die jetzt aufgrund des Vakuums, das wir in der Levante haben, in Syrien und in Irak, das dort ausgetragen wird. Dort haben wir ein großes Schlachtfeld für diesen Religionskrieg.
    Main: Sie sprechen das Vakuum an. Die Menschen wollen keine Staaten mehr, die versagen. Das ist letzten Endes eine Kernthese Ihres Buches. Als einziges identitätsstiftendes Bindemittel bleibt dann der Islam. So weit so verständlich. Aber warum merken die Menschen nicht, dass diese Verquickung von Religion und Politik ausgesprochen selten funktionierende Staaten hervorbringt?
    Hermann: Diese Menschen haben in Staaten gelebt, in denen sie diskriminiert worden sind, an den Rand gedrückt worden sind und keine Teilhabe hatten. Und da sehen wir erst, wie dysfunktional die frühere Staatenwelt in der arabischen Welt war, wenn solche Staaten wie der Islamische Staat - und da sollten wir ihn wirklich als einen Staat wahrnehmen - akzeptiert werden. Die Menschen wollten in der Tat diesen alten Staat nicht mehr. Und das, dies ist eine weitere These, die ich in dem Buch entwickele, ist der Grund für die Proteste des Jahres 2011. Es ging dort nicht um die Schaffung von Demokratie, von neuen demokratischen Ordnungen, sondern es ging darum, sich dieser alten dysfunktionalen Staaten zu entledigen.
    "Es handelt sich um einen Staat, nicht nur um eine Miliz"
    Main: Sie haben gerade betont, wir sollten den Islamischen Staat IS als islamischen Staat wahrnehmen. Was ist der ideologische Kern dieser Terrorgruppe, die womöglich doch eine supranationale Armee ist?
    Hermann: Wir sollen wirklich die Eigenbezeichnung ernst nehmen. Die Grundlage ist eine wenn auch sehr enge Auslegung des Islams. Eine Auslegung, die von wahrscheinlich weniger als einem Promille der Muslime geteilt wird. Und es handelt sich auch um einen Staat, nicht nur um eine Miliz, wie häufig gesagt wird, sondern um einen Staat mit allen Eigenschaften eines Staates - wenn auch nicht eines Staates des modernen Völkerrechtes.
    Was sind die ideologischen Eckpunkte dieses islamischen Staates? Es ist zunächst einmal der Anspruch, den wahren Islam wiederherzustellen. Das heißt, den Islam von all dem zu reinigen, was diese Extremisten als Verunreinigungen sehen: politisch moderne Institutionen wie Parlamente, all diese ketzerischen Innovationen sollen gereinigt werden - zurück zum Vorbild der Altvorderen, Verzicht auf jegliche Exegese des Korans. Also zum einen, den wahren Islam wieder herstellen. Zweitens, eine staatliche Ordnung zu schaffen, die diesem Ideal entspricht. Und der dritte wesentliche Teil ist, und das macht es für viele attraktiv, dass dieser Staat eine Apokalypse einleitet. So soll Mohammed, der Prophet des Islams, gesagt haben, in Nordsyrien werde es eine Schlacht geben zwischen der Armee der Muslime und der Armee der Nicht-Muslime - danach werde Konstantinopel erobert, danach komme der Messias, um das Jüngste Gericht anzukünden. Um all dies vorzubereiten, bedürfe es eines Kalifats, bedürfe es dieses Staates, um die Welt zu reinigen - beispielsweise von Ungläubigen, die enthauptet werden, oder von antiken Kulturstätten, die zerstört werden.
    Diese Ideologie muss vernichtet werden, muss entzaubert werden, es müssen Gegenmodelle entwickelt werden. Und das können nur die Muslime. Der militärische Sieg über den Islamischen Staat ist eine Sache der Anti-IS-Koalition. Aber die Entwicklung einer neuen Ideologie, die diesen Dschihad aus der heutigen Welt verbannt, das können eben nur die Muslime.
    Der Blick in die Vergangenheit: Religionskriege in Europa
    Main: Sie vergleichen die Situation im Nahen Osten mit dem Dreißigjährigen Krieg in Europa. Wo sehen Sie die Parallelen?
    Hermann: Wir haben damals wie heute ein zentrales Schlachtfeld, auf dem hegemoniale Interessen einer Region aufeinanderprallen. Wir haben Mächte, die Konfessionen instrumentalisieren, die Söldner und Waffen auf dieses Schlachtfeld schicken. Damals wie heute beherrschen Glaubensfragen die Zeit, ist die Gewaltbereitschaft groß. Damals kämpften katholische und protestantische Armeen und Regionen gegeneinander. Religiöse, politische Dispute haben sich damals vermischt und das ist auch heute der Fall in diesem Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten.
    Der wesentliche Unterschied zu damals ist, dass wir heute den Islamischen Staat haben. Dieser Religionskrieg, als der begonnen hat, hat zu einem großen Vakuum geführt in der Levante und diesen hat der Islamische Staat gefüllt. Das ist eine Chance, diesen Religionskrieg dann zu beenden, weil sowohl Saudi-Arabien wie Iran von diesem Islamischen Staat bedroht sind. Damals war klar, dass keine Macht stärker sein wird als die andere. Und es kam zum Westfälischen Frieden, der den Religionskrieg beendet hat. Einen solchen Westfälischen Frieden sehe ich hier noch nicht, denn ich bin der festen Überzeugung, dass wir am Beginn dieses langen Religionskrieges in der arabischen Welt stehen.
    Main: Der Westfälische Friede hat unsere Welt verändert. Was können wir lernen vom Westfälischen Frieden für den Religionskrieg im Nahen Osten, der bis zu uns strahlt?
    Hermann: Notwendig ist, dass sich Sunniten und Schiiten gegenseitig anerkennen und es bei den Sunniten keine extremistische Minderheit mehr gibt, die die Schiiten als Ungläubige abqualifiziert. Das wird der erste Schritt sein. Und das werden die sunnitischen Muslime leisten müssen. Der Dreißigjährige Krieg ist ja beendet worden, als alle Seiten ermattet waren, als die ermüdet waren. Und wahrscheinlich wird es auch im Nahen Osten der Fall sein, wenn zu viele Menschen getötet worden sind, wenn die Städte verwüstet worden sind, dass die Menschen dann sagen: Legen wir die Waffen nieder! Verzichten wir darauf, die Religionen als ein Instrument der Politik zu begreifen!
    Wenn die Menschen der Kriege müde sein werden, wenn sie gut leben wollen, dann werden sie darauf drängen, dass so eine Art arabischer Westfälischer Frieden kommt. Denn diese Säkularisierung in Europa kam ja auch nicht aus Einsicht. Beispielsweise in der katholischen Kirche - sondern die katholische Kirche hat sich dem gefügt, weil die Gläubigen ihren Lebensstil verändert haben, weil die Gläubigen die Säkularisierung wollten und praktiziert haben. Und ich denke, dass es in der arabischen Welt auch so sein wird.