Die Sprecherin des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR betonte, dass nicht eine der Kriegsparteien allein die Verantwortung für die Lage trage. Daher brauche man nun dringend Waffenstillstände im ganzen Land, damit die Hilfsorganisationen überallhin Lebensmittel und Medikamente liefern könnten.
Am Montag hatte ein Konvoi die syrische Stadt Madaja erreicht - das erste Mal seit dem Herbst. Während der syrische UNO-Botschafter Baschar Dschaafari bestritt, dass Menschen verhungerten, sagte Melissa Fleming, ihre Mitarbeiter hätten das Leid gesehen. Auch Ärzte bestätigten, dass es Hungertote gegeben habe.
Die Menschen könnten die Stadt auch nicht verlassen und fliehen. Es gebe Minen, und manchmal würden die Leute auch einfach erschossen. Nur um Gras zu sammeln, habe vor Kurzem ein Kind beide Beine verloren. "Es ist ein Albtraum." Auf die Frage, ob vielleicht eine Luftbrücke ein Ausweg sein könnte, meinte Fleming: "Ich kann das nicht verhandeln, aber alle kreativen Lösungen sind willkommen."
Das Interview in voller Länge
Dirk-Oliver Heckmann: Die Bilder, die uns aus der belagerten syrischen Stadt Madaja erreicht haben, sie waren schockierend. Die Fotos und Videos zeigten ausgemergelte Körper von Männern, Frauen und Kindern, wie man sie sonst nur aus afrikanischen Ländern kennt. Die, die noch in der Lage sind, sich zu helfen, die sammeln Blätter von Bäumen und Sträuchern, um sie zu kochen und dann zu essen. Es sind Zeugnisse einer Apokalypse. Das Internationale Rote Kreuz hat jetzt einen Hilfskonvoi auf den Weg bringen können. Gestern dann war es endlich soweit: die hungernden Menschen konnten endlich die ersten Hilfslieferungen in Empfang nehmen. - Dazu begrüße ich jetzt am Telefon Melissa Fleming. Sie ist Sprecherin der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen UNHCR. Guten Morgen, Frau Fleming.
Melissa Fleming: Guten Morgen!
Heckmann: Frau Fleming, in welchem Zustand haben die Hilfskräfte die Menschen angetroffen?
Fleming: Leider genauso wie diese Bilder. Ich habe soeben mit meinem Kollegen gesprochen, der dabei war. Er hat mir gesagt, die Situation ist echt schlimm. Es gibt Menschen dort, aber kein Leben, hat er gesagt. Die kämpfen richtig ums Überleben. Es gibt fast überhaupt kein Essen. Wenn man Reis kaufen will, dann kostet ein Kilo 300 Dollar. Es gibt keine Elektrizität. Er hat gesagt, er hatte zwei Pullis an und eine Daunenjacke und ihm war es richtig kalt. Er konnte sich nicht vorstellen, wie die Leute ohne Nahrung das durchhalten. Es gibt keine Medizin bis vorgestern. Gott sei Dank sind wir durchgekommen mit 50 LKW mit allem möglichen an Schutz, an Essen, an Medikamenten zumindest für einen Monat, dass die Menschen nicht sterben müssen. Aber die Situation ist richtig schlimm.
Heckmann: Der erste Hilfskonvoi ist in der Stadt angekommen. Wie schwierig war es für Sie, diesen Hilfskonvoi wirklich an die Menschen zu bringen?
Fleming: Das war eine Verhandlung über Wochen, und das geht uns immer so. Ich muss dazu sagen, dass man da ja nur in einer Stadt ist in so einem Zustand in Syrien. Wir schätzen, dass es 15 solcher Situationen gibt und 400.000 Leute sind betroffen, 400.000 Leute in Syrien, die möglicherweise am Verhungern sind, weil wir sie nicht erreichen können. Es sind die verschiedensten Parteien, mit denen wir verhandeln müssen, und nur in zehn Prozent von den Fällen kommen wir durch. Das muss ein Ende haben. Es darf nicht sein, dass Zivilisten verhungern müssen in diesem Krieg.
"Es muss mühsame Verhandlungen geben, nur um den Leuten Essen zu bringen"
Heckmann: Wer trägt die Verantwortung für diese Situation?
Fleming: Leider gibt es nicht nur eine Partei, die verantwortlich ist. Zum Beispiel in den Gebieten von ISIS ist die Hälfte der Leute belagert. Es gibt verschiedene Parteien, die verantwortlich sind. Die nutzen diese Taktik als Kriegstaktik, dass die Leute verhungern. Es muss mühsame Verhandlungen geben, nur um den Leuten Essen zu bringen, und das sollte keine Kampftaktik sein.
Heckmann: Das heißt, Sie würden die These bestätigen, dass Hunger mittlerweile als Waffe eingesetzt wird in Syrien?
Fleming: Auf jeden Fall, und das ist nicht mittlerweile so, sondern schon seit Jahren.
Heckmann: Was kann dagegen unternommen werden?
Fleming: Ich bin ziemlich froh, dass diese Bilder rausgekommen sind, weil ich glaube, es gab kein Bewusstsein in der Welt, wie schlimm das geworden ist. Wenn man diese Kinder sieht, die seit Tagen nichts zu essen bekommen haben, und die, wenn keine Lieferung kommt, sicher sterben werden, ich glaube, die Welt war aufgewacht. Ich habe gerade gesehen, dass im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen darüber jetzt diskutiert worden ist. Ich glaube, es muss jetzt viel mehr politischen Druck auf die Parteien geben, dass es Waffenstillstände geben muss im ganzen Land, dass Organisationen wie meine, wie das Rote Kreuz, das World Food Program, dass wir überall liefern können, nicht nur dort, wo es relativ Sicherheit gibt.
"Nur um Gras zu sammeln, hat ein Kind neulich zwei Beine verloren"
Heckmann: Das Problem wurde in der Tat im UNO-Sicherheitsrat diskutiert und der syrische Botschafter, der hat erst mal rundweg abgestritten, dass es überhaupt ein Problem mit Hunger in Syrien gebe. Was sagen Sie zu so einer Stellungnahme?
Fleming: Wir haben das gesehen. Unsere Kollegen haben das gesehen vor ihren Augen. Mein Kollege, mit dem ich heute Morgen gesprochen habe, hat mit einem Arzt geredet, der ihm bestätigt hat, dass es Tote gegeben hat, Hungertote, dass es Leute gibt, die fast an der Grenze sind, dass sie bald sterben. Es gibt nicht die Möglichkeit, aus dieser Stadt rauszukommen, um zu fliehen. Das ist auch ein Problem. Zumindest dürfte man fliehen, aber es gibt Minen, es gibt Fälle, wo die Leute erschossen worden sind, als sie versucht haben wegzugehen, nur um Essen zu suchen. Nur um Gras zu sammeln, hat ein Kind neulich zwei Beine verloren. Die Situation ist echt ein Albtraum.
Heckmann: Sie haben gerade gesagt, die internationale Gemeinschaft müsse mehr Druck auf die Konfliktparteien ausüben. Was ist denn, wenn die entsprechenden Seiten auf diesen Druck nicht reagieren?
Fleming: Dann geht es so weiter wie bis eben. Dann geht es so weiter, bis die Hilfsorganisationen, die humanitären Hilfsorganisationen vor Ort versuchen und verhandeln und manchmal durchkommen und manchmal nicht. Dann gibt es viel mehr Opfer, die nicht durch Schüsse ihr Leben verlieren, sondern durch Hunger.
Heckmann: Muss man nicht in einer solchen Lage auch mal darüber nachdenken, diese betroffenen Städte per Luftbrücke beispielsweise zu versorgen?
Fleming: Das ist etwas, was ich nicht verhandeln kann, aber alle kreativen Lösungen sind willkommen.
Heckmann: Melissa Fleming war das, Sprecherin der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen UNHCR, zur Lage in der belagerten syrischen Stadt Madaja und in anderen Städten Syriens. Frau Fleming, danke Ihnen für das Gespräch und für Ihre Zeit.
Fleming: Gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.