Moskau sieht sich im Recht. Kreml-Sprecher Peskow kritisierte gestern öffentlich die Türkei – was er bis dahin so nicht getan hatte. Ankara lasse terroristischen Gruppen zu viel Raum.
"Wir stellen nach wie vor mit Bedauern fest, dass diese Gruppierungen aus Idlib syrische Truppen angreifen und sich außerdem aggressiv gegen unsere Militärobjekte verhalten. Das ist nicht akzeptabel und widerspricht den Vereinbarungen von Sotschi."
Dort hatten im September 2018 Putin und Erdogan unter anderem ihre Einflusszonen in Syrien vorübergehend abgesteckt und den Kampf gegen Terroristen vereinbart. Schon damals wurde jedoch nicht definiert, wer als Terrorist gilt - und wer nicht.
Russland hat nur Assad als Verbündeten in der Region
Es ist daher keine Überraschung, wenn Beobachter feststellen, um welche Frage es nun eigentlich geht: "Wer wird Idlib kontrollieren, Baschar al Assad oder die Türken", fragt Alexej Malaschenko, Forschungsleiter am Institut Dialog der Zivilisationen. Dessen Gründer gilt als kremlnah.
"Wissen Sie, was dort passiert, musste irgendwann passieren: die Verschärfung der Situation zwischen Syrern und Türken, und das führt selbstverständlich zu einer Verschärfung der Situation zwischen Russland und der Türkei."
In diesen Tagen der indirekten militärischen Konfrontation fallen die Gegensätze und Abhängigkeiten wieder stärker ins Auge: Moskau und Ankara hätten auf der militärischen Ebene über die vergangenen Jahre gut funktionierende Kontakte aufgebaut, so der Politologe, ihre Militärs in Syrien stünden in ständigem Kontakt. Im Norden Syriens patrouillieren sowohl türkische als auch russische Einheiten in einer Pufferzone, die auf Betreiben der Türkei eingerichtet worden war, um kurdische Milizen von der türkischen Grenze abzudrängen.
"Ohne die Türkei, ohne Kontakte mit der Türkei würde es für Russland eindeutig sehr schwierig. Ohne die Türken ist es heute bereits nicht mehr möglich, im Nahen Osten etwas zu machen."
Russland, so kann man hinzufügen, hat in der Region außer Assad keine weiteren engen Verbündeten. Selbst im Verhältnis zum Iran gibt es zahlreiche gegenläufige Interessen.
"Es wird hier keinen Sieger geben"
Allerdings besitzt Moskau auch Hebel gegenüber Ankara: Militärisch ist es zuerst die Hoheit über den syrischen Luftraum. Wirtschaftlich beruht die türkische Gasversorgung wesentlich auf Lieferungen aus Russland, die für den Lieferanten gleichzeitig eine wichtige Geldquelle bedeuten. Erst vor wenigen Wochen war die neue Pipeline Turk Stream durch das Schwarze Meer in Betrieb genommen worden. Ein russischer Staatskonzern baut das erste türkische Atomkraftwerk, und die russische Rüstungsindustrie liefert Waffen, darunter das hochmoderne Luftabwehrsystem S-400.
Angesichts dieser Beziehungsverhältnisse prognostiziert Malaschenko: "Noch ist keiner zu Zugeständnissen bereit. Aber es gibt keinen Ausweg: Es wird hier keinen Sieger geben. Ich denke, es wird einen Konsens geben, dann wird man die Beziehungen zueinander wiederherstellen, es wird gegenseitige Zugeständnisse geben."
Spekulation ist, worin solche Konzessionen bestehen könnten. Gestern haben beide Präsidenten, Putin und Erdogan, miteinander telefoniert. Auch auf den politischen Ebenen darunter herrscht reger Kontakt. Details werden in der Regel so gut wie nicht bekannt.
Ohnehin dringt in die russische Öffentlichkeit kaum etwas über die Zuspitzung bei Idlib und Russlands keineswegs einfache Position vor, weshalb eine Debatte außerhalb kleiner akademischer Zirkel nicht stattfindet. Russland ist in Syrien zwar Kriegspartei, doch zwischen Kaliningrad und Sachalin spielt das Geschehen im Nahen Osten für die meisten Menschen keine wichtige Rolle.