Ann-Kathrin Büüsker: In Syrien droht das letzte große Gefecht. Die Regierung plant den Sturm auf Idlib, die Region im Nordwesten des Landes, in die in den vergangenen Jahren und Monaten die letzten Rebellen und Terroristen geflohen sind - die letzte Hochburg des Widerstandes gegen Assad. Die Vereinten Nationen vermuten hier 2,9 Millionen Zivilisten und knapp 10.000 Kämpfer terroristischer Organisationen.
Sondervermittler Staffan de Mistura fordert nun einen humanitären Korridor, um die Zivilisten in Sicherheit zu bringen. Die Türkei verhandelt mit Terrorgruppen über deren Auflösung. Russland verstärkt seine Militärpräsenz im Mittelmeer. Und der Westen redet beim EU-Außenministertreffen in Wien über den Wiederaufbau Syriens. Darüber möchte ich jetzt sprechen mit Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der Grünen. Guten Morgen!
Omid Nouripour: Schönen guten Morgen.
Büüsker: Herr Nouripour, die nächste Eskalation mit Ansage in Syrien, und der Westen macht was: Zugucken?
Nouripour: Das ist hier eigentlich so wie seit Jahren, dass wir viel zu spät sind, viel zu schwach sind und viel zu gespalten sind in der Syrien-Frage, und das setzt sich jetzt fort. Jetzt, wo quasi die letzte große Schlacht möglicherweise ansteht und die größte humanitäre Katastrophe von all denen, die wir bisher in Syrien gesehen haben, jetzt wird umso schmerzhafter klar, dass die Europäer eigentlich in Syrien überhaupt nicht stattfinden.
Büüsker: Aber mal realistisch betrachtet: Könnte Europa denn überhaupt irgendwas machen?
Nouripour: Es gibt ja zwei Dinge, die man in der Vergangenheit sehr klar sich vor Augen führen muss. Das eine ist: Wirkliche Aufmerksamkeit für Syrien gab es nicht nach 100.000 Toten, sondern nach den ersten 10.000 Flüchtlingen. Da war es schon ein wenig spät, um sich um das Thema zu kümmern.
Das zweite ist: Wir hatten europäische Staaten, die haben Waffen an die Rebellen geliefert, und wir hatten zeitgleich durchgehend Staaten, die haben Waffen an Assad geliefert.
Irgendwann mal hat sich natürlich die Frage gestellt, wenn die Europäer auf Konferenzen kommen wollten, dass die Russen sie gefragt haben, was wollt ihr denn eigentlich? Und da gab es keine wirkliche Antwort. Das ist ein dramatisches Beispiel dafür, was passiert, wenn die Europäer nicht mindestens eine kleinste Gemeinsamkeit finden in der außenpolitischen Frage. Da kommen nämlich andere und machen Politik auch auf Kosten der Europäer.
Büüsker: Also wäre es doch besser gewesen, Obama hätte 2013 nach dem Giftgas-Einsatz durch die syrische Regierung, als die von ihm gezogene rote Linie überschritten war, einen Militärschlag angeordnet?
Nouripour: Da bin ich mir, ehrlich gesagt, gar nicht so sicher. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob es hilfreich ist, jetzt im Nachhinein in einzelnen Situationen zu erklären, wo man hätte militärisch eingreifen müssen. Aber wir müssen einfach verstehen, dass wir ein Vakuum hinterlassen haben, dass die Russen beispielsweise minimalinversiv mit wirklich kleinsten militärischen Einsätzen, die sie gefahren haben - die sind ja nicht wirklich präsent, ganz breit am Boden -, dass die das gefüllt haben. Dieses Vakuum war in allen Bereichen da, in erster Linie behaupte ich politisch, weil die Europäer nicht imstande waren, mit einer Stimme zu sprechen.
Nouripour: Assad wird den Krieg gewinnen, aber nicht den Frieden
Büüsker: Stichwort Vakuum. Gibt es heute noch eine Alternative zu Assad?
Nouripour: Ich glaube, dass Assad gerade dabei ist, den Krieg zu gewinnen. Aber er wird damit nicht den Frieden gewinnen. Und die Frage, die man dann an die neuen Machthaber - und das sind auch die Russen und die Iraner - in Syrien stellen muss, ist: Glauben die ernsthaft, dass Assad die Symbolfigur sein kann für eine Aussöhnung, die zu Frieden führt? Er wird den Krieg gewinnen, aber nicht den Frieden, und das ist ein Problem.
Büüsker: Aber wer sollte diese Figur sonst sein?
Nouripour: Ich glaube, diese Figur gibt es zurzeit nicht, und ich glaube auch, dass die Frage der Präsidentschaft und der Person, die das Land führt, in der Vergangenheit wie in der Zukunft eine Sache der Syrer bleibt. Das ist überhaupt keine Frage. Die Syrer müssen das selber entscheiden. Aber noch mal: Ich sehe eine große Mehrheit in Syrien von Leuten, die, wenn sie Assad hören oder sehen, mit ihm verbinden: Chemiewaffen, Ruinen und Fassbomben.
Büüsker: Schauen wir jetzt noch mal auf die aktuelle Situation, die sich da im Nordwesten entspinnt: die Offensive auf Idlib, die die Regierung plant. Wie lässt sich da aus Ihrer Sicht mit Blick auf Idlib das Schlimmste verhindern?
Nouripour: Idlib ist die ganze Zeit der Schauplatz für schlimmste Katastrophen. Wir haben auch spätestens seit dem Fall von Aleppo gesehen, wie viele Menschen dort hinziehen mussten. Und wir haben permanent einen Angriff auf medizinische Fazilitäten. Es gibt kaum noch Krankenhäuser in Idlib. Es ist alles jetzt schon schlimm. Und wir haben dort die türkische Präsenz im Norden, die versuchen, dort die Kurden zu bekämpfen. Das alles zusammengemischt ist ein Pulverfass, und zwar nicht nur humanitär, sondern auch, wenn es ganz schlecht läuft, wenn die Türken hart auf hart spielen, eine Konfrontation zwischen Russland und der Türkei beispielsweise.
Ich glaube, dass wir ganz dringend versuchen müssen, wenigstens mit dem Restlichen, was wir haben, mit Russland und mit der Türkei zu sprechen, damit sie nicht aneinander geraten und damit, wie de Mistura sagt, tatsächlich die Leute auch durchgelassen werden. Wenn man der Türkei Hilfe versprechen würde, damit sie die Leute auch verpflegen können, dann wäre das zumindest denkbar. Aber dabei haben wir nicht besonders viele Hebel, ehrlich gesagt. Das letzte Instrument, was die Europäer noch haben, ist die immer wieder von den Russen angesprochene Frage des Wiederaufbaus. Und ich glaube, dass man diesen Wiederaufbau ansprechen muss und mit Bedingungen verknüpfen muss.
"Bedingungslosigkeit der Europäer ist das, was ich kritisiere"
Büüsker: Aber der Krieg ist ja noch nicht mal vorbei.
Nouripour: Es ist richtig und das sieht man ja auch, wie zynisch das ist, wenn jetzt schon Putin in Deutschland auftaucht und sagt: Im Übrigen, wenn ihr jetzt den Wiederaufbau dessen, was wir zerstört haben, bezahlt, dann werden wir euch die Flüchtlinge vom Hals halten. Aber noch mal: Es ist nun mal etwas, von dem wir wissen, dass die Russen das sicher nicht leisten können. Alle haben ein Interesse daran, dass Syrien eines Tages wieder auf die Beine kommt, und deshalb sollten die Europäer sagen: Es gibt bestimmte Bedingungen, die wir haben.
Das ist zum Beispiel eine nationale Aussöhnung, das ist die Frage der politischen Häftlinge, aber das ist natürlich auch die humanitäre Katastrophe im Land, allen voran derzeit in Idlib. Diese sind natürlich die Bedingungen, über die wir sprechen müssen, bevor ihr glaubt, dass wir auch noch bereit sind, darüber nachzudenken, den Wiederaufbau zu bezahlen. Solche Tagesordnungen, wie Sie sie gerade angesprochen haben bei EU-Gipfeln, sind nicht unbedingt eine Stärkung der EU-Position bei den Verhandlungen mit den Russen.
Büüsker: Aber noch mal für mich zum Verständnis. Wir schauen jetzt dabei zu, wie Assad die Region Idlib in Trümmer bombt, und sollen parallel schon darüber nachdenken, wieviel Millionen wir ihm für den Wiederaufbau geben?
Nouripour: Nein, eben ja nicht! Das ist ja gerade das, was in der EU passiert, was Sie gerade zu Recht kritisieren. Ich sage, dass es eindeutig ist, dass von der anderen Seite die Forderung jetzt schon da ist, über den Wiederaufbau mit ihnen zu sprechen. Und ich sage, dass wir formulieren müssen, dass, wenn Idlib in Schutt und Asche gelegt wird, wir nicht bereit sind, darüber zu sprechen, sondern dass es Bedingungen gibt dafür, dass wir über den Wiederaufbau miteinander reden. Diese Bedingungslosigkeit der Europäer, weil sie einfach nur noch wollen, dass die Flüchtlinge nicht mehr kommen, und deshalb bereit wären, alles zu tun, was die Russen von ihnen verlangen, das ist das, was ich kritisiere.
Nouripour: Die Machtverhältnisse sind resignierend
Büüsker: Anders herum: Assad, bitte bombe Idlib nicht in Trümmer, dann geben wir Dir Geld.
Nouripour: Wir sind dann bereit, miteinander zu sprechen. Aber noch mal: Idlib alleine als Bedingung reicht nicht. Am Ende des Tages ist die Frage: Gibt es einen Weg zum Frieden in Syrien und nicht einen Sieg von Assad? Das sind zwei völlig verschiedene Dinge, die man auseinanderhalten muss.
Büüsker: Gucken wir noch mal auf die Situation in Idlib. Die Vereinten Nationen schlagen jetzt humanitäre Korridore vor, um die Menschen überhaupt erst mal rauszuholen, dann in Regierungsgebiet, und wenn Idlib erobert ist, sollen die Menschen zurück. Das klingt in meinen Ohren tatsächlich auch, als wären die Vereinten Nationen inzwischen ein bisschen resigniert.
Nouripour: Ich glaube, dass die Machtverhältnisse tatsächlich resignierend sind. Aber deshalb glaube ich, dass man über die Korridore auch mit der Türkei reden muss. Ich weiß, wie schwierig das zurzeit ist. Ich weiß, dass die Türkei ebenso ein ganz, ganz komplizierter Gesprächspartner ist. Aber wir haben ja jetzt immer wieder gehört, dass die Türkei ja auch was von uns will.
Es ist mittlerweile so, dass wir gerade mit diesen Akteuren einfach sehr stark gucken müssen, wie klassische Machtpolitik funktioniert. Die einen wollen den Wiederaufbau, die Türkei will Hilfe für die Wirtschaft, die aus internen Gründen in der Türkei zurzeit marodiert. Und ich glaube, dass man einfach die Forderungen der anderen Seite sich anhören muss und dann bei dem, was man tatsächlich erbringen soll, Bedingungen stellen muss. Das passiert zu wenig.
Büüsker: Die Türkei versucht ja auch gerade etwas zu deeskalieren. Die verhandelt mit der Nachfolge-Organisation der al-Nusra-Front über eine Auflösung. Muss man Erdogan hier ein gutes Zeugnis ausstellen?
Nouripour: Ich glaube, dass gerade im Norden und Nordosten von Syrien niemand ein gutes Zeugnis bekommt. Die Türkei hat sehr viel dazu beigetragen dort 2013, 2014, 2015, dass dort dschihadistische Gruppen auch auf Kosten vor allem der nichtdschihadistischen Opposition stärker geworden sind, und diese Verflechtung versuchen sie gerade auszunutzen. Es ist notwendig, dass man miteinander redet, aber ehrlich gesagt, man sieht auch, dass die Türkei das ein Stückchen macht aus der Brille einer repressiven Kurden-Politik, und das ist nicht gut.
Büüsker: … sagt Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen hier im Deutschlandfunk.
Nouripour: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.