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Kriegsflüchtlinge und Stasi-Kinder
"Die Trauma-Therapie ist inzwischen eine sehr erfolgreiche Methode"

Traumatisierte Menschen hätten gute Aussichten auf eine erfolgreiche Behandlung, sagte der Trauma-Forscher Harald Freyberger im DLF. Egal ob Kriegsflüchtlinge oder Kinder von hauptamtlichen Stasi-Mitarbeitern - der Mensch verfüge über ein unerhörtes Vermögen, schlimme Erfahrungen zu verarbeiten.

Harald J. Freyberger im Gespräch mit Bettina Klein |
    Der Trauma-Forscher Prof. Harald J. Freyberger, Direktor der Klinik für Psychatrie und Psychotherapie an der Uni Greifswald, sitzt vor seinem Laptop.
    Der Trauma-Forscher Prof. Harald J. Freyberger, Direktor der Klinik für Psychatrie und Psychotherapie an der Uni Greifswald (picture alliance / dpa / Stefan Sauer)
    Freyberger, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Greifswald, berichtete im Deutschlandfunk von einem neuen Projekt zur Behandlung traumatisierter Kinder von hauptamtlichen Stasi-Mitarbeitern. Viele der geschätzt 150.000 Betroffenen seien noch am Leben und hätten viele Jahre gebraucht, um ihre Scham zu überwinden. Nun hätten sich bereits erste Trauma-Opfer auf den Aufruf der Forscher gemeldet, so Freyberger.
    Er berichtete, dass die Kinder zu einem großen Teil massiven traumatogenen Faktoren ausgesetzt gewesen seien. So habe es beispielsweise in den Hochhäusern voller hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter Bespitzelungsversuche innerhalb der Familien und zwischen den Familien gegeben. In der kritischen Phase der Adoleszenz, so der Trauma-Forscher, hätten sich die Kinder dagegen gewehrt und gegen ihre Eltern rebelliert. Das habe jedoch nicht zu den Erwartungen der DDR an die Stasi-Mitarbeiter gepasst, einwandfreie, klinisch reine, systemidentifizierte Familien zu haben. In Extremfällen hätten Eltern ihre Kinder deswegen in Kinderheime gegeben mit dem Ziel, sie umzuerziehen.
    25 bis 30 Prozent der Flüchtlinge mit behandlungsbedürftigen Traumata
    Freyberger ging im DLF-Interview auch auf die psychische Lage von Kriegsflüchtlingen ein, die nach Deutschland kommen. Zwar hätten es viele geschafft, ihre Traumatisierung zu verarbeiten. Etwa 25 bis 30 Prozent der Geflüchteten - vor allem Menschen aus Syrien und Afghanistan - wiesen aber behandlungsbedürftige psychische Störungen auf. Zugute komme den Therapeuten, dass sich solche Störungen inzwischen sehr gut behandeln ließen, berichtete Freyberger. Das gelte auch für Menschen, die nicht so gut Deutsch sprechen.
    In der Diskussion über die Aufnahme von Flüchtlingen wünschte sich der Trauma-Forscher mehr Offenheit und weniger Bedenken: "Dieses Land hat eine unerhörte Expertise in der Integration von Menschen und auch von traumatisierten Menschen."

    Das Interview in voller Länge:
    Bettina Klein: Traumaforschung ist ein gut etabliertes Wissenschaftsgebiet in Deutschland. Ganz normal scheint die Behandlung von Traumatisierten aber nach Einschätzung von Experten hierzulande noch immer nicht zu sein. Vielleicht auch ein Ergebnis unserer Geschichte, von zwei Diktaturen? Von vielen traumatisierten Menschen, die im Moment aus Kriegsgebieten zu uns nach Deutschland kommen, hören wir immer wieder. Was geschieht mit ihnen eigentlich und wo werden sie behandelt? Man muss aber auch gar nicht so weit zurückgehen oder auf Kriegsgebiete schauen, es reicht unsere jüngste Vergangenheit. Die Uni Greifswald, wo viele Traumageschädigte im Augenblick in Behandlung sind, startet etwa ein neues Projekt, das sich richtet an Kinder von hauptamtlichen Stasi-Mitarbeitern, Stichwort jüngere Geschichte. Professor Harald Freyberger leitet diese Studie, er ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uni Greifswald, ich grüße Sie!
    Harald Jürgen Freyberger: Guten Tag!
    Klein: Fangen wir an mit dem zuletzt genannten Beispiel: Was interessiert die Traumaforschung heutzutage an den Kindern ehemaliger Stasi-Mitarbeiter?
    Freyberger: Na, das erste interessante Faktum ist, dass sich Täter in der Regel nicht untersuchen lassen und auch die Einflussfaktoren, die Täter auf Opfer haben, nur sehr schwer zu erfassen sind. Und da ist natürlich das Paradigma der Kinder von hauptamtlichen Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes etwas sehr Besonderes, weil diese Personen natürlich jedenfalls zu einem großen Teil sehr massiven traumatogenen Faktoren ausgesetzt sind.
    "In Gettos aufgewachsen mit gegenseitigen Bespitzelungsversuchen"
    Klein: Wodurch wurden die traumatisiert?
    Freyberger: Da gibt es unterschiedliche Szenarien. Ein Teil der hauptamtlichen Mitarbeiter ist in Gettos aufgewachsen mit gegenseitigen Bespitzelungsversuchen innerhalb der Familien und zwischen den Familien. Wir müssen uns vorstellen, ein ganzes Hochhaus voller hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter! Und dann kommt natürlich die kritische Phase der Adoleszenz, in der es eine physiologische Rebellion der Kinder gegen ihre Eltern gibt, und Sie können sich vorstellen, was das für Verwerfungen gemacht hat unter dem Aspekt des Konformitätsdrucks, dem diese hauptamtlichen Mitarbeiter in der DDR unterlagen.
    Klein: Nämlich welche?
    Freyberger: Ja, einwandfreie Familien zu haben, klinisch rein, systemidentifiziert. Und wenn dann Rebellion stattfand, ist es schon zu intrafamiliären, aber auch politischen Zerreißproben im sozialen Kontext gekommen. Es gibt extreme Beispiele, wo Kinder dann, also Jugendliche dann von ihren Hauptamtliche-Stasi-Mitarbeiter-Eltern zum Beispiel in Kinderheime gegeben wurden, um sie umzuerziehen und anderes mehr.
    Klein: Nun schreiben wir heute das Jahr 2016, mehr als 25 Jahre sind seit der Wende vergangen. Weshalb ist das heute ein Thema?
    Freyberger: Wir haben in Deutschland eine besonders traumatogene Geschichte. Wir haben im Verlauf vieler, vieler Studien auch zu Kriegstraumatisierten des Zweiten Weltkriegs die Erfahrung gemacht, dass man eine Zeit zwischen den Traumaerfahrungen und solchen Erfahrungen vergehen lassen muss, da viele Täter ja noch am Leben sind und da die Betroffenen oft viele Jahre brauchen, um überhaupt hinter der Scham an das Tageslicht zu kommen.
    Klein: Die Kinder, von denen Sie sprachen, die Kinder hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter, wie viele Menschen betrifft denn das überhaupt heutzutage noch?
    Ungefähr 150.000 betroffene Kinder
    Freyberger: Wir haben etwa 90.000 hauptamtliche Mitarbeiter in der DDR gehabt. Wir schätzen die Gesamtkinderanzahl dieser 90.000 Mitarbeiter auf ungefähr 150.000 Personen und die meisten dieser Kinder sind natürlich noch am Leben.
    Klein: Besteht die Hoffnung Ihrerseits, dass die sich bei Ihnen melden? Also, haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele davon überhaupt an dieser Studie teilnehmen möchten, und geht es dann da eher darum, das eigene Befinden heute zu verbessern, oder eben auch um ein Stück der Geschichtsaufarbeitung, die die Wissenschaft da leisten muss?
    Freyberger: Also, wir haben eine Pressekampagne über die Universität Greifswald gestartet und innerhalb von zwei Tagen sind etwa 25 Betroffene zusammengekommen, die aus unterschiedlichen Motiven gerne an der Studie teilnehmen möchten. Es gibt viele Dinge, die unausgesprochen sind, weil natürlich für viele es mit einem sehr starken Schamaspekt behaftet ist, überhaupt als Kinder von hauptamtlichen Mitarbeitern heute im 21. Jahrhundert sichtbar zu werden. Andere haben relativ schreckliche Dinge erlebt, möchten so eine Studie zum Anlass nehmen, das überhaupt mal in ein Narrativ zu fassen. Und wieder andere haben das relativ gut verarbeitet und die möchten, glaube ich, auch ihre Erfahrungen weitergeben.
    "Deutschland ist in mancherlei Hinsicht einzigartig"
    Klein: Weshalb nennen Sie da Deutschland als eine besondere Situation möglicherweise?
    Freyberger: Weil Deutschland in mancherlei Hinsicht einzigartig ist. Ein Faktum ist die Existenz zweier deutscher Diktaturen hintereinander, ein anderes Faktum ist es, dass Menschen sich nur sehr spät und mit großer zeitlicher Verzögerung auch als Opfer sehen oder begreifen können, wenn so viele ihres gleichen Volkes – Stichwort Reichswehr oder SS – als Täter aufgetreten sind.
    Klein: Jetzt haben wir aber auch eine offenbar ja gut entwickelte Wissenschaft in Deutschland, die auch weiter zurückgeht in der Geschichte. Weshalb besteht da immer noch so eine Diskrepanz nach Ihrer Beobachtung?
    Freyberger: Ja, es gab sehr frühe Beobachtungen sogenannter traumatischer Neurosen Ende des 19. Jahrhunderts und dann gab es eine lange Zeit, in der diese Themen absolut tabu waren. Denken Sie an die Stichworte sexueller Missbrauch oder Gewalterfahrung innerhalb von Familien. Und den großen Schub hat die internationale Traumaforschung eigentlich erst durch die Vietnamveteranenforschung bekommen, als klar wurde, dass Traumatisierung eines bestimmten Schweregrades und einer bestimmten Häufigkeit bei nahezu allen, also auch absolut gesunden Menschen, psychisch gesunden Menschen erhebliche Folgeerscheinungen auslösen kann.
    Klein: Sie nannten schon das Stichwort Vietnamkrieg, in dem Zusammenhang oder seit dieser Zeit eigentlich erst ist sozusagen Traumatisierung ein Begriff, mit dem auch in der Öffentlichkeit und allgemeiner eher operiert wird. Der Begriff von der posttraumatischen Belastungsstörung ist in den letzten Jahrzehnten ja eigentlich erst so ein bisschen in die Öffentlichkeit gekommen und man verwendet das eigentlich mehr. Wie ist das mit den Kriegsflüchtlingen heute? Sind da ähnliche Symptome anzutreffen? Welche Erfahrungen machen Sie da im Augenblick?
    Freyberger: Ja, natürlich sind die Kriegsflüchtlinge heute, die nach Deutschland kommen, zu einem beträchtlichen Teil traumatisiert. Allerdings muss man auch darauf hinweisen, dass es sehr, sehr viele Menschen gibt, die es geschafft haben, Traumatisierungen zu verarbeiten. Wir rechnen bei ungefähr 25 bis 30 Prozent mit wirklich manifesten, behandlungsbedürftigen psychischen Störungen.
    "Man versucht, die wichtigsten Traumatisierungen, in ein Narrativ zu fassen"
    Klein: Was können Ärzte da leisten in der Situation?
    Freyberger: Ärzte können ambulant behandeln, es gibt verschiedene traumatherapeutische Techniken und es gibt die Strategie der narrativen Expositionstherapie, wo man versucht, die wichtigsten Traumatisierungen, die diese Menschen erlebt haben, in ein Narrativ zu fassen und mittels bestimmter therapeutischer Techniken dann die Störung zu behandeln. Das ist sehr erfolgreich auch für Menschen, deren Sprache man nur sehr eingeschränkt spricht.
    Klein: Das heißt, die Menschen sprechen über das, was sie erlebt haben im Grunde genommen, und versuchen, es auf diese Art und Weise dann eben mit therapeutischer Hilfe zu verarbeiten?
    Freyberger: Genau so ist es.
    Klein: Aus welchen Ländern vor allen Dingen kommen jetzt im Augenblick die meisten Traumatisierten, zum Beispiel auch in Ihre Universitätsklinik?
    Freyberger: Aus Syrien, ganz eindeutig. Das ist der Schwerpunkt der traumatisierten Menschen. Und an zweiter Stelle steht Afghanistan.
    Klein: Welche Prognosen geben Sie da jeweils ab? Also, ist es für die Menschen in einem absehbaren Zeitraum auch hier in Deutschland dann möglich, wieder ein normales Leben zu führen? Oder sind dann die Kriegserlebnisse, die sie mitgebracht haben, etwas, was dann wirklich auch für ein Leben prägt und möglicherweise auch für ein Leben Probleme schafft?
    Freyberger: Das hängt natürlich sehr von den Vorerfahrungen der betroffenen Menschen ab. Wenn sie Opfer einer ganzen Serie von schweren Traumatisierungen geworden sind, die vielleicht schon in der Kindheit und in der Jugendzeit begonnen haben, ist es wirklich ein ernsthaftes Problem. Aber Traumatherapie ist eigentlich inzwischen eine sehr erfolgreiche therapeutische Methode und man darf nie vergessen, dass Menschen ein unerhörtes Vermögen haben, sich selber zu restrukturieren. Und das kommt uns sehr zugute.
    "Ich würde mir eine ganz andere Form der Diskussion darüber wünschen"
    Klein: Abschließend vielleicht noch, wir sprechen sehr häufig auch bei uns im Programm ja immer wieder, beinahe tagtäglich über das Schicksal von Flüchtlingen, die versuchen, nach Europa, nach Deutschland zu kommen, dann hier sind, wie gehen wir mit ihnen um. Gibt es etwas, was aus Ihrer Perspektive wünschenswert wäre oder wo Sie sich von der Politik etwas anderes wünschen würden, als Sie im Augenblick erleben?
    Freyberger: Ich würde mir eine ganz andere Form der Diskussion wünschen darüber. Es ist doch sehr bemerkenswert, dass zum Beispiel das Bundesland, in dem ich lebe, Mecklenburg-Vorpommern, im Rahmen der Kriegswirren, also Ende des Zweiten Weltkriegs zwei Drittel seiner späteren Bevölkerung aus den Ostflüchtlingen rekrutiert hat. Und es ist sehr bemerkenswert, dass wir über drei Millionen türkische Staatsbürger aufgenommen haben, dass über 1,5 Millionen Russlanddeutsche zu uns gekommen sind. Das heißt, dieses Land hat eine unerhörte Expertise in der Integration von Menschen und auch von traumatisierten Menschen. Und unter dem Aspekt wird das alles nicht gesehen, sondern als etwas Fremdartiges verstanden, das mit unserer sozialen Wirklichkeit gar nichts zu tun hat.
    Klein: Das heißt, Sie würden sich insgesamt mehr Verständnis wünschen für diese Menschen?
    Freyberger: Ja, mehr Offenheit, auch auf die eigene Geschichte zu schauen und daraus zu lernen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.