Peter Kapern: Das kommt ja nicht alle Tage vor, dass sich ein ehemaliger Bundeskanzler selbst rückwirkend eines Bruchs des Völkerrechts bezichtigt. Gerhard Schröder hat das vor Kurzem getan:
"Natürlich ist das, was auf der Krim geschieht, etwas, was auch Verstoß gegen das Völkerrecht ist. Aber wissen Sie, warum ich ein bisschen vorsichtiger bin mit dem erhobenen Zeigefinger? Das will ich Ihnen gerade sagen. Weil ich es nämlich selbst gemacht habe, gegen das Völkerrecht verstoßen."
Kapern: Gerhard Schröder. – Damit übt sich der Ex-Kanzler in argumentativer Brüderschaft nicht nur mit Wladimir Putin selbst, der die Analogie von Kosovo und Krim auch schon bemüht hat, die Gerhard Schröder hier aufgeführt hat. Schröder vollzieht in diesem Punkt auch den späten Schulterschluss mit Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht, die ihm den Bruch des Völkerrechts schon seit eh und je vorwerfen.
Aber auch ein Ex-Kanzler hat ja nicht die alleinige Deutungshoheit über seine Regierungszeit. Beim Waffengang gegen Serbiens Machthaber Milosevic war Ludger Volmer von den Grünen Staatsminister im Auswärtigen Amt. Heute ist er Dozent an der FU in Berlin und jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen, Herr Volmer!
Ludger Volmer: Guten Morgen!
Kapern: Also, Herr Volmer: Krim gleich Kosovo? Was Schröder durfte, muss Putin auch dürfen? Oder wie müssen wir die Sache jetzt sehen?
Volmer: Die Parallele, die Putin gezogen hat und Schröder nun bestätigt, die ist nicht erlaubt, was das Eingreifen von internationalen Akteuren angeht, also damals des Westens und heute Russlands. Es gibt Parallelen, was den Willen der Bevölkerung angeht im Kosovo und auf der Krim, aber daraus lässt sich nicht ableiten, dass heute Russland militärisch eingreifen darf, nur weil der Westen dies damals getan hat, übrigens – und da gebe ich Schröder recht – unter Verletzung des geschriebenen Völkerrechts. Das war damals der Bundesregierung klar, dass wir gegen den Buchstaben der UNO-Charta verstoßen.
Allerdings hat der russische Versuch, diese Aktion später in der Generalversammlung der UNO verurteilen zu lassen, keinen Erfolg gehabt, weil die UNO gesehen hat, dass die internationale Gemeinschaft damals vor einem unlösbaren Dilemma stand: Entweder man hätte den Buchstaben des Völkerrechts akzeptiert, dann hätte man einen Völkermord, der ja begonnen hatte, hinnehmen müssen, oder aber, wenn man den verhindern wollte, dann musste man auch ohne Sicherheitsratsbeschluss intervenieren, und das war in der Tat eine Verletzung des Völkerrechts.
Kapern: Aber dieses Dilemma macht ja Putin jetzt auch wieder für sich geltend.
"Völkermord im Kosovo legitimierte Völkerrechtsverletzung"
Volmer: Der Unterschied ist der: Damals waren die Dinge evident und manifest. Milosevic hatte längst bewiesen, dass er willens war, massenhaft, zu Tausenden Männer zu massakrieren. Wir kannten den Völkermord von Srebrenica. Auf der Krim ist nichts, aber auch gar nichts Ähnliches in Sicht. Die Legitimationsfigur, die wir damals hatten, war die, dass wir einen Völkermord, der in der UNO-Charta selber gar nicht behandelt wird, verhindern müssen. Die UNO-Charta geht davon aus, dass es die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten gibt. Dort gilt das staatliche Gewaltmonopol und man geht von der Fiktion aus, dass ein Staat zum Wohle seiner Bürger handelt.
Was ist aber in dem Fall, dass der Staat sein Gewaltmonopol missbraucht, um einen Großteil seiner Bürger zu massakrieren? Dieser Fall ist zwar angesprochen in der Völkermordkonvention, steht aber nicht in der UNO-Charta, und hier gibt es einfach eine Lücke im Völkerrecht, die übrigens zurückzuführen ist auf das Wirken von Stalin bei den Verhandlungen um die UNO-Charta. Und diese Lücke, die war das Problem 1999 während des Kosovo-Konflikts, und mit dieser Lücke befasst sich seitdem die Völkermord-Diskussion und die Diskussion über die Weiterentwicklung des Völkerrechts. Ein solcher Fall ist aber überhaupt nicht in Sicht auf der Krim.
Kapern: Es ist aber gleichwohl eine seltsam verkehrte Welt, Herr Volmer, wenn der Eroberer Putin, der gestern die Krim annektiert hat, beansprucht, der Vollstrecker des Völkerrechts zu sein, und Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der 1999 Kosovo-Albaner vor dem Genozid retten wollte, sich heute quasi damit brüstet, das Völkerrecht gebrochen zu haben.
Volmer: Brüsten kann man sich damit nicht, weil das war damals für die Bundesregierung eine sehr schwierige Diskussion. Wir hatten da auch komplizierte internationale Diskussionen durchzustehen, die wir dann zum Glück im Endeffekt gewonnen haben. Da ist nur noch die Linkspartei heute anderer Meinung. Es gibt aber eine Parallele auf einer anderen Ebene: Der Kosovo hatte damals nach der jugoslawischen Verfassung nicht das Recht, sich aus dem Staatsverband Jugoslawiens zu lösen.
Ähnlich ist es mit der Krim, bezogen auf die Verfassung der Ukraine. Gleichwohl ist es Mehrheitswille der Bevölkerung, so oder so ausgedrückt, auch wenn jetzt das Referendum am Wochenende nicht den Regeln entsprach, aber dennoch muss man davon ausgehen, dass der Großteil der Bevölkerung der Krim raus will aus der Ukraine. Diese Parallelen gibt es durchaus und da muss man sich schon Gedanken darüber machen, warum das Recht der kosovarischen Bevölkerung gelten sollte und das Recht der Krim-Bevölkerung jetzt nicht gelten soll.
Kapern: Und welche Antwort haben Sie darauf?
Volmer: Der Westen, der misst mit zweierlei Maß. Man muss überhaupt kein Freund Putins sein, aber nicht alles, was Putin sagt, ist falsch. Man sollte auch nicht alles psychologisieren. Putin und Russland macht Einflusszonen-Politik, völlig eindeutig, aber das macht der Westen auch. Der Westen ist nach der deutschen Einheit militärisch Stück für Stück an Russland rangerückt und nachdem nun die pro-russische Regierung in der Ukraine gestürzt worden war und eine Regierung an die Macht gekommen ist, die zwar zum großen Teil aus westlich orientierten Modernisierern besteht, auf der anderen Seite aber auch einige Faschisten beinhaltet, darf man sich nicht wundern, dass irgendwann aus Moskauer Sicht das Fass zum Überlaufen gekommen ist und man sich gegen diese expansive Politik des Westens aus der Moskauer Sicht aus guten Gründen zur Wehr setzt. Es gibt also eine Einflusszonen-Politik, aber da ist nicht nur Putin der Schurke.
"Westen misst mit zweierlei Maß"
Kapern: Aber mit dieser militärischen Ausdehnung des Westens meinen Sie ja die NATO-Erweiterung, nehme ich an, Richtung Osten. Das was Sie da gerade fordern, würde darauf hinauslaufen, dass Russland ein Vetorecht über souveräne Entscheidungen souveräner Staaten beanspruchen könnte.
Volmer: Nein, darum geht es überhaupt nicht, sondern der Westen hat nicht unbedingt immer Politik mit Augenmaß gemacht. Man hat doch sehen können – und das wurde ja auch in einigen Kreisen damals diskutiert -, dass die Ukraine eine Scharnierfunktion hat zwischen dem Westen und Russland.
Kapern: Aber die Ukraine ist ja nicht NATO-Mitglied.
Volmer: Richtig. Aber die Amerikaner insbesondere haben das immer wieder ins Gespräch gebracht. Sie haben Raketenstationierungen dort angedroht und aus Moskauer Sicht muss so was als Bedrohung empfunden werden. Das hätten wir umgekehrt genauso gesehen. Man muss sich einfach mal auf den Moskauer Standpunkt stellen und die Perspektive verändern, dann sieht man, dass die Moskauer Sicht nicht nur irrational ist.
Die Debatte müsste eigentlich in die Richtung laufen, dass man mit der Ukraine und mit Moskau zusammen als Europäische Union darüber redet, wie die Ukraine als Staat mit Scharnierfunktion zwischen Ost und West zum Nutzen aller drei Seiten organisiert werden kann. Dabei geht es nicht um ein Vetorecht Russlands, sondern darum, ob die Europäische Union ein Angebot mit Augenmaß macht, und der Assoziierungsvertrag war nicht mit Augenmaß formuliert.
Kapern: Ludger Volmer, der frühere Staatsminister im Auswärtigen Amt, heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Volmer, danke für das Gespräch und einen schönen Tag noch.
Volmer: Gerne!
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