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Krim-Referendum
"In Russland haben sie eine engere Weltanschauung"

Julia ist eine junge Studentin, die in der Krimhaupstadt Simferopol lebt und sich geweigert hat, an der gestrigen Volksabstimmung teilzunehmen - und für eine Angliederung an Russland zu stimmen. Sie gehört zu den 60 Prozent Krimbewohnern, die ethnische Russen sind. Sie will lieber in der Ukraine leben.

    Fahnen der autonomen Republik Krim wehen auf dem Lenin-Platz in Simferopol auf der ukrainischen Halbinsel Krim.
    Die Bewohner der Krim stimmen über einen Anschluss an Russland ab. (picture alliance / dpa / Markku Ulander)
    Eigentlich sollte Julia jetzt zuhause sein und an ihrer Diplomarbeit schreiben. Der Abgabetermin steht unmittelbar bevor, und die Wirtschaftsstudentin hat noch nicht viel zustande gebracht. Aber die 21-jährige hat es nicht ausgehalten in ihrem Zimmer, sie ist auf den Markt gegangen, um sich ein paar Äpfel zu kaufen. Das Kilo kostet genauso viel wie in Deutschland, obwohl die Menschen in der Ukraine durchschnittlich gerade mal 300 Euro pro Monat verdienen.
    Trotzdem hängt Julia an der Ukraine - und das ist es, was ihr das Leben in der Krim-Hauptstadt Simferopol im Moment so schwer macht.
    "Bei mir in der Familie sind alle Russen. Oma und Opa leben in Sewastopol, er ist ein ehemaliger Soldat, ein kluger Mann eigentlich, bisher war es kein Problem, dass ich anderer Ansicht bin als sie. Aber gestern am Telefon haben sie mir gesagt, wenn du nicht zum Referendum gehst und für Russland stimmst, brauchst uns nie wieder zu besuchen. Dann hat noch mein Vater aus Russland angerufen und mich gefragt, ob ich ihm wirklich direkt ins Gesicht spucken will. Heute früh hat dann sogar gesagt, ich dürfe damit rechnen, dass er mich weiter unterstützt und könne genauso gut meine Sachen packen."
    Julias Vater ist russischer Soldat, stationiert in Murmansk, nördlich des Polarkreises. Er kann nicht begreifen, dass seine Tochter sich nicht freut über das, was gerade auf der Krim passiert. Schließlich ernähre Russland die ganze Familie, so sein Argument. Außerdem seien die Gehälter, die Renten und die Sozialleistungen viel besser als in der Ukraine.
    60 Prozent der Krimbewohnern sind ethnische Russen
    Julia streicht ihr langes dunkelbraunes Haar hinters Ohr. Es fällt ihr nicht leicht, das zu erklären.
    "Wenn ich in Russland bin, fühle ich mich einfach nicht frei. Mir kommen die Menschen dort viel aggressiver und verschlossener vor. Sie haben eine engere Weltanschauung. In der Ukraine gibt es so etwas wie Meinungsfreiheit, in Ansätzen zumindest, aber dort leider gar nicht. Ich finde die Menschen in der Ukraine auch offener und gastfreundlicher."
    Dabei fühlt sich Julia auch manchmal fremd, wenn sie auf dem ukrainischen Festland ist. Wenn Freunde sie danach fragen, ob sie ein traditionelles ukrainisches Hemd hat etwa - oder warum sie den einen oder den anderen Volksbrauch nicht kennt.
    Die Studentin geht ein paar Schritte durch ihr Viertel, es ist ruhig, mit viel Grün und kleinen Häuser, teils aus der Vorkriegszeit. Sie kommt an der Schule mit ihrem Wahllokal vorbei, es herrscht reger Betrieb. Julia hatte gehofft, dass viele dem Boykott-Aufruf folgen und nicht an der Abstimmung teilnehmen werden. An eine Wahlbeteiligung von knapp 80 Prozent, wie sie die Krimregierung schon im Vorfeld angekündigt hat, glaubt sie nicht, das sei Propaganda.
    Minderheit der Krimtataren
    Bei einer kleinen Allee trifft sie ihre beiden Freundinnen Sonja und Fatima. Auch sie haben nicht abgestimmt. Fatima gehört der Minderheit der Krimtataren, die in der überwiegenden Mehrheit in der Ukraine bleiben wollen. In ihrer Familie herrscht Einigkeit.
    "Bei uns sind alle verzweifelt. Wir wollen nicht in Russland leben. Aber die Krim ist unsere historische Heimat. Wir können hier nicht weg, anders als die Ukrainer hier, die jetzt vielleicht in die Ukraine ziehen."
    Die Familie von Sonja, die afrikanische Wurzeln hat, denkt tatsächlich daran auszuwandern, aufs ukrainische Festland.
    "Aber ich habe ein kleines Kind, da ist das alles nicht so einfach. Da kann ich nicht einfach wo anders ziehen, ohne dort eine Wohnung oder eine Arbeit zu haben. Aber wir denken nach, für uns kommen in Moment Kiew und Odessa in Betracht."
    Am Abend ist Julia wieder zuhause und in einen Trainingsanzug geschlüpft. Während die Russland-Anhänger in der Innenstadt ausgelassen das Referendum feiern, macht sie sich einen Tee. Julia hat ihren Vater doch noch einmal angerufen und ihm gesagt, sie habe ihre Stimme abgegeben - für Russland. Ein Lüge, mit der sie sich schlecht fühlt, aber sie habe die Spannung in der Familie einfach nicht ausgehalten, sagt sie.
    "Das Schlimme an meinem Betrug ist ja, dass er Konsequenzen hat. Wenn Russland beginnt, hier russische Pässe auszugeben - und ich meinen Ukrainischen behalten will, dann wird mich meine Familie fragen: Was soll das, schließlich hast du doch auch für Russland gestimmt. Ich hoffe, dass ich diesen Moment so lange hinauszögern kann, bis ich auf dem ukrainischen Festland eine gute Arbeit gefunden habe. Das nehme ich dann als Vorwand, um meinen Pass nicht abzugeben - so kann ich vielleicht trotzdem den Kontakt zu meiner Familie behalten.