Gewalt gegen Politiker
Angriff auf die Demokratie

Immer häufiger werden Politiker bedroht und attackiert, zuletzt traf es Berlins Kultursenator Joe Chialo. Einige Kommunalpolitiker ziehen sich aus der Politik zurück, um sich und ihre Familien zu schützen. Wie lässt sich die Gewalt stoppen?

    Die Fassade eines SPD-Bürgerbüros ist mit roter und schwarzer Farbe bedeckt. Unbekannte haben im Juli 2020 das Wahlkreisbüro der damaligen Bundestagsabgeordneten Daniela Kolbe aus Leipzig attackiert.
    Angriffe auf Politiker und Politikerinnen, auf Parteizentralen und Wahlkreisbüros nehmen seit Jahren zu und treffen alle Parteien. Die Grünen sind am häufigsten betroffen. (picture alliance / dpa / Sebastian Willnow)
    Im September 2024 beschmierten Unbekannte das Wohnhaus des Berliner Kultursenators Joe Chialo (CDU) mit roter Farbe. Chialo wird schon länger von pro-palästinensischen Aktivisten angefeindet, weil er sich klar gegen jede Form von Antisemitismus stellt. Inzwischen erhält er Polizeischutz.
    Der Angriff auf Joe Chialo ist nur einer von vielen. Im Mai 2024 hatte ein brutaler Überfall auf den Dresdner SPD-Politiker Matthias Ecke beim Aufhängen von Wahlplakaten bundesweit für Entsetzen gesorgt. Im Juli 2024 wurde die CDU-Politikerin Adeline Abimnwi Awemo aus Brandenburg rassistisch beschimpft.
    Die Gewalt hat Folgen: Einige Amtsträger ziehen sich inzwischen aus der Politik zurück. Andere wollen sich nicht einschüchtern lassen.

    Übersicht

    Welche Angriffe gegen Politiker und Wahlhelfer gab es in jüngster Zeit?

    Bundesweit wurden in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder Angriffe auf Politiker und Wahlhelfer registriert.
    September
    • Berlins Kultursenator Joe Chialo (CDU) wurde bei einer Veranstaltung in Berlin von einer Menschenmenge bedrängt, angegriffen und beleidigt. Es handelte sich um etwa 40 Personen mutmaßlich aus der pro-palästinensischen Szene. Zwei Wochen später wurde Chialos Wohnhaus großflächig mit roter Farbe beschmiert, zudem hinterließen die Täter Schriftzüge.
    August
    • Ein Wahlhelfer der Grünen wurde in Brandenburg von einem bislang unbekannten Mann angegriffen und beraubt. Der Ehrenamtliche hatte in Hohen Neuendorf nördlich von Berlin Flyer verteilt.
    Juli
    • Die CDU-Politikerin Adeline Abimnwi Awemo wurde in Cottbus beim Aufhängen von Wahlplakaten rassistisch beleidigt und angegriffen. Sie kandidierte für die Landtagswahl in Brandenburg. Eine 29-jährige Frau sagte zu der Politikerin: „Ihr seid keine Menschen.“ Awemo, die in Kamerun geboren wurde und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, wurde außerdem leicht am Hals verletzt.
    • Unbekannte griffen das Wahlkreisbüro des Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow in Erfurt an.
    Mai
    • Besonders schwerwiegend war der Angriff auf den SPD-Wahlkämpfer Matthias Ecke in Dresden. Er wurde beim Plakate-Aufhängen so brutal zusammengeschlagen, dass er Brüche am Jochbein und einer Augenhöhle davontrug und operiert werden musste. Vier Männer im Alter von 17 und 18 Jahren gelten als tatverdächtig, zumindest einer wird dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet.
    • Kurz zuvor war ebenfalls in Dresden ein Mann angegriffen und verletzt worden, der für die Grünen Wahlplakate anbrachte.
    • Die Kommunalpolitikerin Yvonne Mosler (Grüne) wurde in Dresden beim Aufhängen von Wahlplakaten bespuckt und bedroht.
    • Die Grünen-Politikerin Marie Kollenrott wurde in Göttingen an einem Wahlkampfstand attackiert und leicht verletzt.
    • Nach einer Parteiveranstaltung in Essen wurden der Kommunalpolitiker Rolf Fliß und der Bundestagsabgeordnete Kai Gehring (beide Grüne) angegriffen.
    • Im niedersächsischen Nordhorn wurde der AfD-Landtagsabgeordnete Holger Kühnlenz an einem Infostand attackiert.
    • Die Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) wurde angegriffen und dabei leicht verletzt.

    Hat politisch motivierte Kriminalität zugenommen?

    Die politisch motivierte Kriminalität nahm in den vergangenen Jahren deutlich zu: Mehr als 10.500 Straftaten gegen Parteivertreter wurden zwischen 2019 und 2023 verzeichnet, mit steigender Tendenz. Das geht aus Zahlen des Bundeskriminalamts hervor.
    Die Übergriffe betreffen alle Parteien, zuletzt allerdings besonders häufig die Grünen. Dabei geht es um Straftaten insgesamt, also auch Sachbeschädigungen und Beleidigungen.

    Redaktionell empfohlener externer Inhalt

    Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren.

    So wurden laut vorläufigen BKA-Zahlen im Jahr 2023 insgesamt 2.790 Angriffe auf Politiker der im Bundestag vertretenen Parteien registriert. Das sind fast doppelt so viele wie 2019 (1.420 Fälle). Die AfD ist nach den Grünen am zweithäufigsten von Straftaten betroffen. An dritter Stelle folgt die SPD.
    Hass, Anfeindungen und Gewalt treffen vor allem auch Politikerinnen und Politiker auf der kommunalen Ebene. Das geht bis zum Mord. Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke wurde 2019 von einem Rechtsextremisten auf der Terrasse seines Hauses erschossen. Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker wurde 2015 - ebenfalls von einem rechtsextremen Täter - mit einem Messer lebensgefährlich verletzt.
    Auch in kleineren Orten werden Kommunalpolitiker angegriffen, bedroht, verleumdet: So hat etwa Torsten Pötzsch, seit 14 Jahren parteiloser Oberbürgermeister im sächsischen Weißwasser, Morddrohungen erhalten. An seinem Auto wurden die Radschrauben gelockert, in sozialen Netzwerken wurden ihm Verhältnisse zu Mitarbeiterinnen angedichtet.
    Thomas Zschornak, der 32 Jahre Bürgermeister im Dorf Nebelschütz nördlich von Bautzen war, hat ebenfalls Einschüchterungsversuche erlebt. Der CDU-Politiker wurde unter anderem mit anonymen Dienstaufsichtsbeschwerden überzogen. Die mehr als 30 Beschwerden stellten sich allesamt als unbegründet heraus.

    Welche politischen Folgen haben die Angriffe und Anfeindungen?

    Wegen Anfeindungen und Angriffen geben vor allem immer mehr Kommunalpolitiker ihr Amt auf. Laut einer Studie der Körber-Stiftung erwägt mehr als jeder vierte Bürgermeister, der schon einmal bedroht wurde, einen Rücktritt.
    Der parteilose Landrat Dirk Neubauer aus dem Kreis Mittelsachsen trat im Juli zurück. Er sagte dazu: „Wir leben in Zeiten, in denen Mandatsträger quasi zum Freiwild erklärt werden.“ Seit Monaten sei er mit einer diffusen Bedrohungslage aus der rechten Ecke konfrontiert gewesen. Er gebe auf, weil zu viele den Mund hielten, so Neubauer. Außerdem sah Neubauer auch keine Mehrheit für seine Politik mehr.
    Doch längst nicht alle Politiker lassen sich von Anfeindungen und Angriffen beeindrucken. Bei den Grünen in Sachsen standen laut der Grünen-Politikerin Katja Meier bei der letzten Kommunalwahl so viele Kandidaten wie noch nie auf den Wahllisten. "Sie wollten und wollen damit ein Zeichen setzen", sagt Meier.
    Auch die CDU-Politikerin Adeline Abimnwi Awemo, die in Cottbus angegriffen wurde, will weitermachen. "Ich bleibe dran, ich habe die Unterstützung von der CDU, von anderen Parteien, von der Stadt Cottbus, von der Polizei", sagt sie. "Ich habe angefangen und ich habe noch nie aufgegeben - und ich gebe (auch) jetzt nicht auf."

    Wie werden die Gewaltvorfälle eingeordnet?

    Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer sieht eine „Durchrohung der Gesellschaft“ als Hauptgrund für die Entwicklung. Vor allem mit dem Aufschwung der AfD gebe es eine neue Situation. Heitmeyer spricht von einem „autoritären Nationalradikalismus“ der AfD, wodurch der Diskurs öffentlich nach rechts verschoben und aufgeheizt worden sei.
    „Das hat natürlich Folgen“, so der Soziologe. Allerdings werde inzwischen „an allen Orten“ mit „radikalen Feindbildern“ gearbeitet. Mit der Untergangsrhetorik der AfD legitimierten gewaltbereite Rechtsextremisten ein „Notwehrrecht“. Linksextremisten trügen wiederum, angetrieben von einer „Überlegenheitsattitüde“, zu einem „Klima der Angst“ bei.
    Darüber hinaus hat sich nach Überzeugung Heitmeyers die „Eskalationslogik von Konflikten in dieser Gesellschaft“ verschoben: Statt einer verständigungsorientierten Politik gebe es nunmehr eine „Entweder-oder-Logik“. Diese sei gewaltanfällig.
    Gewalt sei für manche Milieus zu einer Art „Erlebnis“ geworden, sagt der Bielefelder Soziologe Andreas Zick. Der Hass komme aus der Mitte der Gesellschaft: Wenn dort Werte und Normen bröckeln, nehme die Gewalt zu. Man müsse jetzt über die neuen Formen politischer Gewalt sprechen, fordert Zick - denn hinter diesen stünden starke Feindbilder.

    Harald Welzer: Bei der NSDAP war es nicht anders

    Nach dem Angriff auf Matthias Ecke werden Begriffe wie „Erschrecken, Entsetzen, Fassungslosigkeit“ nach Meinung des Soziologen Harald Welzer „inflationär“ verwendet. „Vielleicht täte man besser daran zu verstehen, dass Nazis und Faschisten und Rechtsextreme Gewalt als Mittel der Politik betrachten und immer betrachtet haben“, gibt er zu bedenken.

    Redaktionell empfohlener externer Inhalt

    Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren.

    Rufe nach mehr Polizei gehen nach Auffassung Welzers an der Sache vorbei – „und zwar deswegen, weil man über viele, viele Jahre die Eskalation der Existenz eines manifesten Rechtsextremismus“ ignoriert, verharmlost und nicht ernst genommen habe.
    Bei der AfD erkennt Welzer eine typische Arbeitsteilung mit langer Tradition: Es gebe jene, die bei „Caren Miosga“ säßen, außerdem jene, die im Hintergrund für Theorie sorgten und wiederum andere, die für Bündnisse zuständig seien, „auch mit finanzkräftigen Leuten“. „Und wir haben die Schläger“, betont Welzer. „Das ist aber bei der NSDAP auch nicht anders gewesen.“

    Wie können Politiker besser geschützt werden?

    Einschüchterungsversuche und Eindringen in das direkte private Umfeld seien aktuell in vielen Fällen nicht strafbar, sagt die Grünen-Politikerin Katja Meier. Sie brachte im Mai 2024 in ihrer damaligen Funktion als sächsische Justizministerin einen Gesetzentwurf in den Bundesrat ein, um den Schutz von Amts- und Mandatsträgern zu verbessern.
    Das Gesetz soll politisches Stalking unter Strafe stellen und insbesondere Kommunalpolitiker vor Übergriffen zu schützen. Der Entwurf fand im Bundesrat eine breite Mehrheit, nun muss der Bundestag darüber entscheiden.
    Bei Hass im Netz sei man oft machtlos. „Es gibt keine Identifizierungspflicht, wenn man sich in den sozialen Medien betätigt“, sagt Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD). Trolle und Bots bedrohten nicht nur Menschen, sondern schädigten auch die Demokratie, indem sie Wahlen beeinflussten. Es gebe Möglichkeiten, den Schutz vor Kriminalität, Hass und Hetze im Netz zu intensivieren, aber das sei eine politische Debatte, die weitergeführt werden müsse. Maier betont: Die Gewalt gegen Politiker sei ein gesellschaftliches Thema, das die Polizei allein nicht bewältigen könne.

    Welche Defizite gibt es bei der Demokratiebildung?

    Bildungsforscherin Nina Kolleck weist darauf hin, dass gerade unter jungen Menschen die Gewaltbereitschaft „drastisch“ gestiegen sei, vor allem an den sogenannten extremistischen Rändern. Allerdings sei der Extremismus vielfach bereits in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
    Der Politik wirft Kolleck vor, gerade bei der Bekämpfung von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und von Jugendgewalt, bei Erziehungs- und Bildungsarbeit zu sparen. Wenn Demokratiebildung „so herunter gekürzt“ werde, gleichzeitig aber in den sozialen Medien rassistische, fremdenfeindliche und gewaltverherrlichende Videos dominierten, „dann haben wir hier ein Problem“, so Kolleck.
    Derzeit liegt zum Beispiel das geplante Demokratiefördergesetz der Ampelregierung auf Eis. Kritik an Details kommt vor allem von der FDP. Ziel des Gesetzes ist, Vereine und Organisationen, die sich für die Stärkung der Demokratie, gesellschaftliche Vielfalt und die Prävention von Extremismus einsetzen, langfristig finanziell auszustatten. Bisher müssen sie für jedes Projekt immer wieder neue Förderanträge stellen.

    bth / ema / jfr / rey