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Kriminalitätshoch in Mexiko
"Wir stecken in einer Sicherheitskrise"

Mexiko hat eine der höchsten Mordraten der Welt. Und eine Polizei, die dem kaum etwas entgegenzusetzen hat. Präsident Peña Nieto will jetzt per Gesetz Amtshilfe durch Soldaten erlauben. Aber das könnte zu neuen Problemen führen, befürchten Menschenrechtsaktivisten.

Von Stephan Lina |
    Polizisten stehen bei einem Mordopfer, das unter einem Tuch bedeckt ist
    Ein Tatort in Ciudad Juarez. Im Jahr 2017 verzeichnete das 123 Millionen Einwohner zählende Mexiko rund 30.000 Morde. Die Staatsgewalt scheint dagegen hilflos. (picture alliance / dpa / Diego Aguilar Caudillo)
    Wenn es in der Silvesternacht in Mexiko knallt, dann werden es wohl nicht nur Böller und Raketen sein, die zum Jahreswechsel abgefeuert werden. Rein statistisch steht zu erwarten, dass es auch wieder zahlreiche Schießereien mit Toten und Verletzten geben wird.
    Zwar nicht am Zócalo, dem festlich geschmückten Hauptplatz von Mexiko-Stadt mit der großen Kathedrale und dem Präsidentenpalast. Denn dieser riesige Platz ist bestens überwacht und gilt als sicher. Doch abseits solcher Zentren sieht es ganz anders aus. Das Land hat mit die höchste Mordrate der Erde. Die Zahl der Getöteten liegt inzwischen bei weit mehr als 2.000 pro Monat. In diesem Jahr dürften knapp 30.000 Menschen ermordet worden sein. Tendenziell sind die Zahlen sogar noch gestiegen in den vergangenen Monaten.
    Menschenrechtsorganisationen sprechen von einer Spirale ins Chaos, von einem Zustand der Gesetzlosigkeit. Der Staat reagiert hilflos. Francisco Rivas von der Organisation Observatorio Ciudadano:
    "Wir stecken in einer Sicherheitskrise. Es war noch nie so schlimm. Nicht nur die Mordzahlen sind gestiegen, sondern auch die Statistiken für Überfälle und Raub. Egal ob auf der Straße oder zu Hause, egal ob Autodiebsstahl oder Einbruch."
    Schlecht ausgebildet, schlecht bezahlt, chaotisch organisiert
    Die Polizei ist mit dieser Verbrechensflut völlig überfordert. Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen. Anders als etwa in Deutschland gibt es in Mexiko keine geregelte Ausbildung für die Gesetzeshüter. Nach einer offiziellen Statistik, die vor wenigen Tagen veröffentlicht wurde, hat nur ein Bruchteil der Polizisten auch nur ansatzweise Kenntnisse von Dingen wie dem richtigen Umgang mit Zeugen, Spurensicherung oder den rechtlichen Rahmenbedingungen für den Gebrauch der Dienstwaffe.
    Mexikos Polizei ist ein Wirrwarr vieler Behörden, von der halbwegs vernünftig ausgebildeten Bundespolizei bis hin zu Dorfpolizisten, die 200 Euro im Monat verdienen. Die schlechte Bezahlung ist der Hauptgrund dafür, dass die Polizei in weiten Teilen korrupt ist. Wenn es überhaupt genügend Beamte vor Ort gibt, sagt Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto:
    "Viele Bundesstaaten haben bis heute keine stabilen, zuverlässigen und effizienten Polizeibehörden. Und etwa 600 Orte im Land haben überhaupt keine Polizei. Diese Schwäche der Institutionen wurde von Verbrechern genutzt. Sie haben es geschafft, ihren Einfluss auszuweiten. Dahinter steckt der Versuch, in diesen Gebieten die Macht zu übernehmen."
    Neuer Gummiparagraf soll Militäreinsatz legitimieren
    Mit einem neuen Sicherheitsgesetz will Peña Nieto nun gegensteuern. Schon seit Jahren setzt Mexiko das Militär ein, um die Drogenbanden zu bekämpfen, die in manchen Regionen des riesigen Landes den Staat als Ordnungsmacht abgelöst haben. Das Gesetz soll diesem Einsatz einen legalen Rahmen geben.
    Allerdings ist es ein Gummiparagraf. Denn es regelt zwar, dass die Soldaten eingesetzt werden können, wenn die nationale Sicherheit bedroht ist. Wann aber genau eine solche Bedrohung vorliegt, das ist eine Frage der Definition und öffnet der Willkür Tür und Tor, so die Kritiker. Zudem verhindere es eine vernünftige Polizeireform, so der Menschenrechtsaktivist Francisco Rivas.
    "Wenn der Staat das Militär schickt, dann nimmt er den Bundesstaaten und Gemeinden jeden Anreiz, die Lage der Polizei zu verbessern. Egal ob es um Gehälter geht, die Ausrüstung, die Ausbildung oder auch die Zahl der Polizisten. Heute regeln in einigen Ortschaften Soldaten sogar den Verkehr, weil es keine Polizisten gibt. Das neue Gesetz zementiert diesen Zustand. Das steht doch im Gegensatz zu all dem, was die Politik immer wieder ankündigt."
    "Dieses Gesetz ist ein Freibrief zum Töten"
    Andere Kritiker formulieren es noch viel schärfer, etwa José Antonio Guevara, der eine nationale Menschenrechtsorganisation leitet. Er befürchtet Willkür und noch mehr Gewalt, wenn schwer bewaffnete Soldaten unter den Bedingungen des Kriegsrechts losziehen:
    "Sie werden auf die Straßen geschickt, ohne Kontrolle und ohne Beschränkungen. Das heißt, sie müssen auch nicht darauf achten, ob ihr Auftrag in Konflikt mit den Bürgerrechten steht. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit wird abgeschafft. Dieses Gesetz ist ein Freibrief zum Töten."
    In Mexiko gibt es viel zu wenig Polizisten. Ein neues Gesetz soll Amtshilfe durch Soldaten erlauben. Praxis ist das längst. Mancherorts, wie hier an einer Landstraße zwischen Acapulco und Mexiko-Stadt, kontrollieren Militärs sogar den Verkehr.
    In Mexiko gibt es viel zu wenig Polizisten. Ein neues Gesetz soll Amtshilfe durch Soldaten erlauben. Praxis ist das längst. Mancherorts, wie hier an einer Landstraße zwischen Acapulco und Mexiko-Stadt, kontrollieren Militärs sogar den Verkehr. (AFP / Francisco Robles)
    Ähnlich sieht es die bekannte Aktivistin Julia Klug. Sie verweist darauf, dass es künftig möglich ist, die Bürger umfassend auszuspähen und zum Beispiel Handy- und Computerdaten abzugreifen. Das Gesetz gebe einem ohnehin schon korrupten Staat
    die Möglichkeit, Kritiker nach Gusto zu bespitzeln und jede Form von Protest brutal zu unterdrücken:
    "Es wird ein Blutbad geben. Sie werden uns massakrieren, wenn wir für ein besseres Land kämpfen. Sie zertrümmern unsere Rechte. Wir werden nicht mehr demonstrieren dürfen, wir werden nichts mehr tun können."
    Statistisch ist Mexiko für Reporter so gefährlich wie Syrien
    Gerade im kommenden Jahr werden in Mexiko scharfe politische Auseinandersetzungen erwartet. Es wird ein neuer Präsident gewählt, und es wird befürchtet, dass die Regierungspartei PRI auch zu unlauteren Mitteln greifen könnte, um ihre Macht zu sichern.
    Während der politische Streit über die künftige Sicherheitspolitik tobt, geht das Morden weiter. Kurz vor Weihnachten wurde der zwölfte mexikanische Journalist in diesem Jahr erschossen. Er hatte über Korruption von Behörden recherchiert. Damit ist Mexiko für Reporter ebenso gefährlich wie das Kriegsland Syrien.
    Die zunehmende Kriminalität bedroht unterdessen auch die wirtschaftliche Stabilität des Landes. Industrieverbände fürchten, dass irgendwann ein Punkt erreicht ist, an dem ausländische Investoren einen Bogen um Mexiko machen. Bereits jetzt ist es in manchen Gegenden nicht mehr möglich, einen Lastwagen unbewacht losfahren zu lassen. Überfälle auf Trucker sind zur Epidemie geworden.
    Die Hersteller von Produkten wie Spirituosen oder Elektronikwaren greifen inzwischen zum Selbstschutz. Sie heuern schwer bewaffnete private Sicherheitsdienste an. Für Transporte – etwa zum Hafen von Veracruz – stellen sie Konvois zusammen, die nur bei Tageslicht fahren, begleitet von den Wächtern in gepanzerten Fahrzeugen.