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Krippenkinder aus der DDR

Für diesen Band haben ostdeutsche Psychoanalytiker Erwachsene interviewt, die in der DDR in die Krippe gingen und inzwischen selber Eltern sind. In Bezug auf die aktuelle Krippen-Diskussion betonen die Herausgeberinnen die Wichtigkeit dessen, was die damals Betreuten zu wenig bekamen: emotionale Zuwendung und Möglichkeiten zur Selbstentwicklung.

Von Uschi Geiling |
    Die Herausgeberinnen des Bandes, die in der DDR aufgewachsene Berlinerin Agathe Israel und die Westdeutsche Ingrid Kerz-Rühling, haben zusammen mit drei weiteren ostdeutschen Psychoanalytikern 20 ehemalige Krippenkinder interviewt. Diese kamen im frühesten Lebensalter in Betreuungseinrichtungen und sind inzwischen selbst Eltern. Die Motive der Autoren, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, waren, neben professionellem Interesse, eigene Kindheitserfahrungen. Ihre ostdeutschen Erfahrungen, konfrontiert mit denen der anders sozialisierten Westdeutschen, bezeichneten alle Therapeuten als eine "schwierige, emotionale und zugleich erhellende Arbeit".
    Untersuchungsgegenstand war das in Europa einmalige Spezifikum "DDR-Kind": die staatlich-institutionelle Fremdbetreuung aller null- bis drei-jährigen Kinder. Worum ging es? Welche Prägung sollte erreicht werden? Agathe Israel:

    Take 1: " "Es ging um die "Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit", dabei ging man erstens von einem Defizitmodell aus: Kinder sind werdende Erwachsene, alles, was sie noch nicht wissen, wird als Mangel verstanden. Zum Zweiten Kinder sind nahezu grenzenlos formbar. Das ist das "Tabula-rasa"-Modell, also: sie sind "leer" und müssen "gefüllt" werden. Zum Dritten ging man von einem Kollektivierungsmodell aus; Kinder haben sich ein angepasstes, rational-bewußtes und gesellschafts-verpflichtendes Verhalten anzueignen. "

    Dieses sozialistische Erziehungskonzept wurde über ein sog. "einheitliches Erziehungsprogramm" umgesetzt, das praktisch vom 1. Lebenstag an gültig war. Problematisch war der Ansatz insofern, als DDR-Sozialpolitiker annahmen, ein Kind könne sich nur gelenkt von Erwachsenen entwickeln. In der sogenannten "einheitlich geschlossenen Erziehungsfront" wurden die Erzieherinnen praktisch zur Plan-Erfüllung verpflichtet.

    Dass die Kinder möglichst früh in die Krippe kamen, war im "real existierenden" Sozialismus aus mehreren Gründen gewollt: Zum einen brauchte man beide Eltern als Arbeitskräfte, zum anderen wollte man so früh wie möglich mit der sozialistischen Prägung beginnen. Daher waren besonders junge Eltern erwünscht, die passten besser ins sozialistische Erziehungskonzept. Denn: junge Eltern gaben ihre Kleinstkinder in der Regel gern in die Fremdbetreuung. Schließlich war die nicht zuletzt für die häufig überforderten Jung-Eltern hilfreich, anders als für die Kinder selbst.

    Wie wirkte sich die besonders frühe Fremdbetreuung auf die Kleinkinder aus?

    Agathe Israel: " "Die Frühtrennung, also die Aufnahme in den ersten Lebensmonaten, war belastend, vielleicht sogar traumatisierend. Die Kleinstkinder kamen ohne eine Eingewöhnungszeit im Beisein ihrer Eltern in die Krippe. Meist in sehr große Gruppen gleichaltriger Kinder, (also) von Kleinstkindern, oder Babys bis zu 20, über 20 Kinder. Und meist war die tägliche Trennungszeit sehr lang. Die Trennung war so neun und zehn Stunden; und das muss schon als Bruch im kindlichen Erleben angesehen werden."

    Zum Trennungsschmerz kam noch ein weiteres Entwicklungshemmnis hinzu: die Kleinkind-Pädagogen hatten für die individuelle Betreuung und Förderung wenig Spielraum, auf die Kinder einzugehen. Die nicht kindgerechte Betreuung ließ zudem wenig Zeit für die so notwenige emotionale Zuwendung. Dieser Mangel konnte nicht immer von anderen Bezugspersonen - wie Freunden oder Großeltern - kompensiert werden. Die emotionalen Defizite blieben.

    Aus der Neurobiologie und der Psychoanalyse ist bekannt, dass keine Erfahrung verloren geht, sondern im emotionalen Gedächtnis gespeichert wird; dieses Gedächtnis beeinflusst die Verarbeitung der nachfolgenden Erfahrungen. Die Interviewer stellten bei ihren Gesprächspartnern – nicht von ungefähr - immer wieder eine gewisse Gefühlskälte fest, die diese nicht artikulieren konnten:

    " Die Interviews haben uns meist sehr betroffen gemacht, das gerade Nicht-Gesagte, das Nicht-Gefühlte. Also, wir waren dann besonders erschüttert, wenn wir spürten, dass es wenig Gefühl für die eigene Lebensgeschichte gab, dass die Ereignisse wie ein Film erzählt wurden. Und wir waren noch mehr betroffen, wenn es wenig Nachdenken über das eigene Leben gab. Uns schmerzten zum Beispiel besonders die Bemerkungen "Es war halt so", oder "Das haben doch alle so gemacht", "da war doch nichts dabei" . (Also) wenn das nicht nur die Eltern zu ihren Kindern sagten, sondern wenn die Interviewten das über sich selbst auch sagten. - Aber wir waren auch sehr beeindruckt, wie verschieden sich die Lebensläufe gestalteten. Und uns wurde deutlich, das Einheits-DDR-Krippenkind gibt es nicht! "

    Es ging also auch anders: Es gab Kleinstkinder, die verständnisvolle Krippen-Betreuerinnen hatten, die die Vorschriften nicht so ernst nahmen, sondern sich auf ihre Kleinen im Rahmen der engen Möglichkeiten einzustellen versuchten. Hinzu kam ein Netzwerk von verschiedenen Bezugspersonen, das insbesondere bei längerer Krankheit für einen gewissen emotionalen Ausgleich sorgte.

    Die Herausgeberinnen des Bandes betonen – auch im Zusammenhang mit der aktuellen Krippendiskussion – gerade die Bedeutung der emotionalen Zuwendung und der Möglichkeiten zur Selbstentwicklung – letztlich also das, was die analysierten DDR-Krippenkinder nicht genügend bekamen bzw. was ihnen nicht ermöglicht wurde. Neben der materiellen wie räumlichen Ausstattung einer Krippe halten sie vor allem sehr gut ausgebildetes Personal und Kleinst-Gruppen für mindest ebenso wichtig - von einer "Mutti-Politik" à la DDR dagegen wenig. Nach ihrer Überzeugung ist vielmehr eine ausgesprochene Elternpolitik nötig.

    Fazit: Die Untersuchung trägt zur Versachlichung der Diskussion bei. Schließlich bietet sie klare Antworten auf eine kontrovers geführte Diskussion. Ein wichtiges Buch für ehemalige Krippenkinder – genau so wie für Kleinkind-Pädagogen, Erzieherinnen – und nicht zuletzt Sozialpolitiker.

    Agathe Israel, Ingrid Kertz-Rühling (Hrsg.): Krippenkinder in der DDR. Frühe Kindheitserfahrungen und ihre Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und die Gesundheit. Brandes & Apsel, 272 S., 24,90