Andreas Main: Nun neigt der Spiegel, das Nachrichtenmagazin aus Hamburg, zu Titeln, die manchmal drastisch sind, manchmal auch umstritten. Wer kann es den Kolleginnen und Kollegen auch verdenken? Die müssen im Markt der Aufmerksamkeit bestehen, müssen Geld verdienen. So erklärt sich auch ein Titel, wie in der Ausgabe, die jetzt gut eine Woche alt ist. Ein verschatteter Papst ist dort zu sehen – Franziskus‘ Gesicht komplett verdunkelt. Darunter heißt es: "Du sollst nicht lügen. Der Papst und die katholische Kirche in ihrer größten Krise." Mal losgelöst von den Inhalten der Titelgeschichte: So viel Krise war selten, auch in der vergangenen Woche, als die katholischen Bischöfe, wie von so vielen gefordert, endlich eine wissenschaftliche Studie über den sexuellen Missbrauch durch Kleriker vorlegten und sich entschuldigten bei den Opfern.
Dennoch gab es überwiegend Kritik, viel Negativpresse. Nicht um Kritikwürdiges zu verharmlosen oder Verbrecher im Priestergewand reinzuwaschen, sondern um die Kommunikationsfalle zu besprechen, in der die katholische Kirche steckt, bin ich verabredet mit Oliver Errichiello. Er ist Professor für Markensoziologie und Markenmanagement an der Hochschule Mittweida. Marken und Werbung und Reklame, das ist sein Thema, aber auch die Kirchen. Errichiello lebt in Hamburg, wo er uns zugeschaltet ist. Ein Gespräch, das wir vor der Sendung aufzeichnen beziehungsweise aufgezeichnet haben. Guten Morgen, Oliver Errichiello.
Oliver Errichiello: Guten Morgen.
Main: Herr Errichiello, wie erklären Sie als Markensoziologe dem staunenden Beobachter, dass die katholische Kirche zurzeit einfach nicht aus den Negativschlagzeilen rauskommt?
Errichiello: Das ist schon ein sehr dickes Brett, das momentan vor einer Organisation – und wir sprechen ja jetzt über die Organisation Kirche – ja, gebohrt werden muss oder vor uns, vor der Kirche liegt. Das Problem, das wir tatsächlich haben … und man muss hier, glaube ich, sehr sensibel umgehen, denn, wenn man hier als Markensoziologe spricht, dann darf man bei allem und bei aller Strukturanalyse nicht vergessen, dass es um Menschen geht und das Leid dieser Menschen, dass es aber doch ein strukturelles Problem gibt.
Denn, wenn wir von der Marke Kirche sprechen, dann gibt es sicherlich bei uns allen ein – wir nennen es mal – Set an Vorurteilen, an positiven Vorurteilen, die wir mit der Kirche in Verbindung bringen. Und wahrscheinlich würden wir solche Begrifflichkeiten wie Liebe, Nächstenliebe, Zuneigung, Angenommen-Sein, all diese Begrifflichkeiten mit der Kirche in Verbindung bringen.
"Kernwerte werden ins Gegenteil verkehrt"
Und jetzt passiert etwas, und zwar nicht nur einmal, sondern über Jahre, über Jahrzehnte, wo diese Kernwerte, diese positiven Vorurteile nicht nur ins Wanken geraten, sondern in das Gegenteil verkehrt werden. Das ist für eine Organisation, für ein System, für eine Marke, wenn man so will, natürlich das Schlimmste, was geschehen kann.
Also, ich stehe für bestimmte Werte ein, aber handele auf der konkreten Ebene genau gegenteilig. Wenn so etwas geschieht, dann kann man an sich, wenn man es systematisch versucht zu analysieren, zunächst einmal davon ausgehen: Es wird keine ideale Lösung geben. Es wird niemals die Möglichkeit geben zu sagen, man könnte dieses Problem – mal ganz unabhängig von den Menschen – medial betrachtet oder markensystematisch betrachtet in irgendeiner Art und Weise in kurzer Zeit ins Positive wenden.
Main: Auch, wenn die Verletzungen durch sexuelle Übergriffe nicht zu vergleichen sind mit Manipulationen an Autos bei Volkswagen und sich dies keinesfalls zynisch anhören soll: Aber VW hat Mist gemacht, hat Prügel bekommen, hat dann eine Zeit lang sich bedeckt gehalten und verkauft jetzt wieder gut Autos. Also, würden Sie den Bischöfen empfehlen: Von VW lernen, heißt siegen lernen?
Errichiello: Also … also, es fällt mir schwer, das merken Sie und bei aller Sensibilität, die da immer im Vordergrund stehen muss, da diesen Vergleich zu ziehen, aber wir müssen ihn ziehen, um dort tatsächlich etwas zu erkennen. Und, wenn wir diesen Vergleich VW heranziehen, dann möchte ich Ihr Beispiel noch weiter verstärken. VW hat niemals so viele Autos verkauft wie zu den Hochzeiten des Abgas-Skandals. Es ist unglaublich. Was ist da passiert? Wenn Sie Menschen fragen würden: "Was verbinden Sie mit VW?", dann würden wahrscheinlich solche Kernwerte wie Solidität, Made in Germany, Verlässlichkeit, ein hoher Wiederverkaufswert eine Rolle spielen. Eher weniger wird der Aspekt "grün" oder "umweltfreundlich" beim Kauf eines VW entscheidend sein, zumindest für die Mehrheit der Menschen.
Das führt in der Regel dazu, dass ich sage, na ja, also, es ist eigentlich egal, was du in dem Feld machst, Hauptsache die anderen Kernwerte, für die ich dich eigentlich kaufe, liebes VW, die hast du tatsächlich immer noch realisiert. Das war der Fall. VW ist weiterhin ein solides Auto, das einen hohen Qualitätsstandard hat, das einen weiterhin hohen Verkaufswert hat, und so weiter, und so weiter.
"Vertrauen ist vollständig erschüttert worden"
Main: Und deswegen hinkt der Vergleich mit dem Abgasskandal mit dem Missbrauchsskandal, weil da die Kernwerte verletzt sind?
Errichiello: Vollkommen richtig. Stellen Sie sich mal vor: Tesla … irgendein findiger Journalist oder ein findiger Maschinenbauer würde plötzlich feststellen, dass es in einem Tesla doch einen Verbrennungsmotor gibt, dann würde das die Marke Tesla vollständig zerlegen, denn Tesla steht nun mal als Kernwert für grün.
Aber hier haben wir es eben mit einem anderen Fall zu tun. Wir haben – zurück zur Kirche – Nächstenliebe, Zuneigung, Vertrauen. Und all das ist in dem Moment vollständig erschüttert worden. Man kann in dem Moment keine gute Lösung herbeiführen.
Was machen Unternehmen, wenn sie ihre Kernwerte erschüttern? Sie versuchen dann zu kommunizieren über die Zeit: Wir haben Fehler gemacht. Meistens stellt sich dann ein Vorstandsvorsitzender hin und sagt: "Wir haben Fehler gemacht." Und dann wird das in großen, ganzseitigen Anzeigen in Magazinen als solches noch mal medial begleitet.
Wir alle wissen, so etwas verraucht relativ schnell. Warum ist das so? Weil Schuld immer persönlich ist, weil Schuld niemals abstrakt ist, sondern ich brauche zum Schluss immer jemanden, der für etwas verantwortlich ist. Und das ist natürlich etwas, vor dem wir momentan nicht sagen können, dass wir das tun können. Denn viele, die natürlich dort involviert sind, waren oder sind nicht mehr im Amt oder sind irgendwann herausgenommen worden. Und die, die tatsächlich da Schuld auf sich geladen haben, die müssen natürlich dann bestraft werden. Das wäre der nächste Schritt, um dort in irgendeiner Art und Weise wieder Glaubwürdigkeit zu erreichen. Aber soweit man das beurteilen kann, ist genau dieser Schritt auch momentan im Gange.
"Sehr, sehr langsame Heilung"
Main: Also, die katholische Kirche geht den Weg von mehr Transparenz, sie entschuldigt sich, sie hat die wissenschaftliche Studie vorgelegt, bekommt dennoch immer weiter Prügel. Also, würden Sie dann jetzt den Weg der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals weitergehen? Oder müsste die Marketingstrategie geändert werden?
Errichiello: Man darf niemals das Produkt von der Marke trennen. Die Marke ist immer – immer – das Resultat einer Leistung, die erbracht wird. Wenn dem so ist, dann geht es zunächst einmal darum, dass ich nur faktisch eine Veränderung innerhalb der Kirche feststellen kann, wenn ich tatsächlich auch Taten bemerke, wenn es immer wieder diesen Aufarbeitungsprozess gibt, wenn es immer wieder vielleicht auch offene Foren gibt. Große Unternehmen stellen dann beispielsweise Internetseiten ins Leben, wo sie sozusagen den Stand der Forschung immer wieder darstellen, wo sie für den Dialog bereitstehen, und so weiter. Das sind alles Maßnahmen, die man ergreifen muss, aber die niemals das Problem lösen, sondern wahrscheinlich langsam, sehr, sehr langsam heilen können.
Main: Es geht also kein Weg daran vorbei, die harte Kärrner-Arbeit des Ausmistens vorzunehmen?
Errichiello: Ja, in der Tat geht es genau um diese Fragestellung. Also, wenn wir eben nicht "Werbe-Inseln" produzieren wollen – in Anführungsstrichen – die dann das Problem noch weiter verschärfen würden, dann geht es jetzt darum, tatsächlich in der Fläche wieder vollständig Kirche zu sein, in allen Bereichen dieses Problem anzugehen, mit den Menschen, mit den Gläubigen zu kommunizieren. Sicherlich führt das zu Irritationen, aber – und das ist eben auch der Punkt – dieses Problem darf sicherlich niemals vergessen werden, aber mit der Zeit geht es darum, diesen Konflikt nicht zu lösen, das kann man nicht. Das wird es nicht geben, sondern zum Schluss geht es darum, langsam wieder Vertrauen aufzubauen. Und was heißt eigentlich Vertrauen? Wenn man sich das noch mal genau anschaut, wenn man auch noch mal vielleicht zurückgeht auf den Grandseigneur der deutschen Soziologie, Niklas Luhmann, der eben sagt: "Vertrauen ist ein Mechanismus, um Transaktionskosten zu senken." Das heißt, Vertrauen habe ich immer nur in Vertrautes. Ich muss jetzt auf diese spezifische Art und Weise kontinuierlich weitersenden und diesen Dialog suchen – in allen Bereichen.
"Kirche muss klares Angebot machen"
Main: Herr Errichiello, Kirche und Werbung, Kirche und Marke – wir haben dieses heiße Eisen am besonders heißen Eisen des Missbrauchsskandals angepackt. Jetzt mal losgelöst von Krisensymptomen und grundsätzlich: Darf Kirche für sich werben?
Errichiello: Das Spannende ist, wenn man tatsächlich mit Kirchenvertretern über dieses merkwürdige Thema Marke, Kirche spricht, dann merkt man zunächst einmal ein Zucken. Und das finde ich auch nachvollziehbar. Man geht ja zunächst einmal davon aus, dass Marke irgendetwas ist für Joghurts, für das Mineralwasser oder vielleicht auch noch für das Auto.
Dass eine Kirche Marketing betreibt, dass sie wirbt, das mag uns zunächst einmal schwer von den Lippen gehen. Das kann ich in einer gewissen Art und Weise nachvollziehen. Zunächst aber geht es erst einmal darum, wenn man es eben soziologisch betrachtet, dann ist eine Marke etwas, was unser Leben strukturiert.
Also, heutzutage, wenn man sich mal anschaut, wie oft wir allesamt in Markenzusammenhängen agieren, dann merkt man, dass man eigentlich aus der Geschichte gar nicht herauskommt.
Vor diesem Hintergrund geht es natürlich darum, dass sich auch eine Kirche heutzutage in einer Welt, die immer komplexer wird, die in einer gewissen Art und Weise eben immer weniger Orientierung bietet, ein klares Angebot macht. Wofür stehen wir eigentlich? Was kannst du bei uns finden? Und, wenn ich das mache, wenn ich versuche, eben Menschen für mich zu gewinnen, für meine Idee, für meine Idee auch von Gemeinschaft, dann macht es Sinn, im Zusammenhang von Kirche auch den Begriff der Marke zu verwenden.
"Der Missionar ist vielleicht die erste Form des Werbers"
Main: Ich frage jetzt mal flapsig. Wird so der Werbe-Fuzzi zum Missionar?
Errichiello: Nein. Wenn der Werbe-Fuzzi sich nur mit sich selbst beschäftigt und sagt, ich habe da eine kreative Idee, dann ist es hochkritisch. Wenn aber ein Werbe-Fuzzi versucht zu verstehen, dass Marke immer das Resultat von ganz spezifischen Ursachen ist, die dann ihre Wirkung zeigen in bestimmten Bildern, die die Menschen haben, Erwartungshaltungen, und ich zunächst einmal mich damit befassen muss, was machen wir denn eigentlich auf der Fläche, was bedeutet denn heutzutage Glaube, was bedeutet denn heutzutage Kirche und wie bringe ich das jetzt in eine Art und Weise an die Menschen, an die Öffentlichkeit, die interessiert, dann kann man schon davon sprechen, dass ein Missionar – und vielleicht ist es tatsächlich die erste Form auch des Werbers – auf diese Art und Weise tätig werden kann.
"Werbung wird vollkommen überschätzt"
Main: Es gibt ja durchaus auch Menschen, die genervt sind von Werbung. Manche hören zum Beispiel den Deutschlandfunk, weil er werbefrei ist. Welche Chancen in Zeiten der Reizüberflutung hat denn Werbung für Kirchen? Also, dringt das überhaupt noch durch?
Errichiello: Nein. Das Schlimme ist, dass Werbung heutzutage vollständig überschätzt wird. Ich glaube, dass man heutzutage tatsächlich nur noch über die gute Empfehlung von Freunden, von Bekannten so etwas bekommt wie Gehör. Das bedeutet eben auch, wir müssen diesen ganz klassischen Begriff von Werbung – Plakat, Spot – zunächst einmal zur Seite stellen. Sondern was wir machen müssen, ist: Glaube, Kirche konkret erfahrbar machen. Was bedeutet das? Es bedeutet: Mir nützt nichts, die 37. hübsche Broschüre zu erstellen. Sondern viel, viel wichtiger ist es, dann, gerade, wenn ich in der Fläche nicht mehr so präsent bin, in den Orten, wo ich tatsächlich noch Kirche bin, dann – man könnte sagen – Flagship-Stores zu errichten und dort das zu spielen. Wir sprachen über die positiven Vorurteile, die Kirche heutzutage immer noch evoziert, tatsächlich das ad extenso und in einer Stärke zu spielen, die eben sehr besonders ist.
Ich muss dann da sein für Kinder. Ich muss dann da sein für Alte. Ich muss dann da sein für Menschen, die meine Hilfe brauchen. Ich muss dann tatsächlich so etwas sein wie ein zentraler Punkt, um Gemeinschaft zu erfahren. Das ist die eigentliche Aufgabe. Und dann sprechen wir von resonanzstarker und wirksamer Werbung.
Main: Kirche und Marke, Kirche und Missbrauch – Einschätzungen waren das von Oliver Errichiello, Professor für Markensoziologie und Markenmanagement an der Hochschule Mittweida. Danke Ihnen, Oliver Errichiello, nach Hamburg.
Errichiello: Vielen Dank.