Die Anschläge vom 11.September 2001 auf die Türme des World Trade Centers in New York und auf das amerikanische Verteidigungsministerium in Washington trafen Amerika. Aber sie galten der ganzen westlichen Welt. Sie galten auch Europa. Und zwischen Amerika und Europa ist seitdem nichts mehr so, wie es einmal war.
Die Terroristen der El Kaida hatten den ganzen Westen herausgefordert. Dabei legten sie bloß, wie uneinig dieser Westen im Umgang mit gewalttätigen politischen Bewegungen ist. So mussten sich die europäischen Staaten nicht nur der Terroristen auf ihrem eigenen Territorium erwehren. Sie mussten sich auch mit einer Führungsmacht auseinandersetzen, die sich in den Augen der Mehrheit der Europäer in ihrem Krieg gegen den Terror gefährlich verrannte.
Der islamistische Terrorismus war und ist kein amerikanisches Problem. Er war in Europa schon zu Hause, als die Türme in New York noch standen. Die Attentäter waren in Deutschland auf ihre Taten vorbereitet worden. Über europäische Konten und obskure Stiftungen lief das Geld für die Einsätze.
Aber erst mit dem Anschlag in Amerika begriffen die Europäer, was sich unter ihren Augen abspielte. Und was mit all seinem Horror auch den alten Kontinent heimsuchen sollte. Am 11. März 2004 schlugen islamistische Terroristen in Madrid während des Berufsverkehrs mit einer ganzen Serie von Bomben zu. 191 Menschen starben und über 2000 wurden verletzt.
Der spanische König Juan Carlos wandte sich in einer Fernsehansprache ans Volk.
"Barbarische Terroristen haben Spanien in tiefsten Schmerz und Verzweiflung gestürzt. Frauen, Männer, Kinder und dazu auch viele Menschen aus anderen Ländern, einfach nur auf dem Weg zu ihren alltäglichen Zielen, zur Schule oder Arbeit, wurden brutal konfrontiert mit Tod und Leid."
Bundeskanzler Gerhard Schröder sprach den Opfern und Angehörigen sein Mitgefühl aus und zeigte sich besorgt über das Ausmaß der Gewalt:
"Diese Dimension, dieses Ausmaß an Terror hat es in Europa in der letzten Zeit nicht gegeben. Natürlich ist damit eine neue Qualität auch verbunden. Das kann ja gar keine Frage sein. Damit werden wir uns sehr, sehr lange auseinandersetzen müssen. Das befürchte ich jedenfalls."
Nur ein Jahr später, am 7. Juli 2005, sprengten sich vier Selbstmordattentäter in drei Londoner U-Bahnen und in einem Doppeldeckerbus in die Luft. Sie rissen 56 Menschen mit in den Tod. 700 wurden verletzt. Premierminister Blair trat beim G-8-Gipfel in Schottland vor die Presse:
"Wir sind gemeinsam entschlossen, diesen Terrorismus zu bekämpfen, der sich nicht gegen eine Nation, sondern gegen alle Nationen gerichtet hat."
Auch die Bundesregierung sah eine allgemeine Bedrohungslage für Europa und trat für Geschlossenheit ein. Innenminister Otto Schily und Außenminister Joschka Fischer:
"Die Anschläge, die in London verübt worden sind, entsprechen den Gefährdungseinschätzungen unserer Sicherheitsbehörden. Es gibt einen weltweiten Gefahrenraum, in dem die Strukturen des islamistischen Terrorismus immer noch handlungsfähig sind. Die Bundesregierung verurteilt diese verbrecherischen Anschläge auf das Schärfste. Unsere unerschütterliche Solidarität gilt jetzt unseren Freunden in Großbritannien. Der Terrorismus darf und er wird sich nicht durchsetzen."
Mit politisch oder ideologisch motivierter Gewalt hatten die Europäer schon vor dem 11. September einige Erfahrung. Sie haben unter den Anschlägen der irischen IRA, der baskischen ETA, der italienischen Brigate Rosse genauso gelitten wie unter denen der deutschen RAF oder der palästinensischen PLO. El Kaida mit seinem weltumspannenden Netzwerk stellte sie aber vor eine ganz neue Herausforderung: Sie mussten eine gemeinsame, innere Sicherheit entwickeln.
Der 11. September wirkte auf die europäische Zusammenarbeit bei der inneren Sicherheit und im Rechtswesen wie ein Beschleuniger. Vieles, was sich vorher mühsam dahinschleppte, war plötzlich möglich.
Und anders als die USA richteten sie ihre Politik nicht an der Maxime aus, dass der Zweck alle Mittel heiligt. Der fortdauernde transatlantische Streit etwa um die Weitergabe der Daten von Bankkunden und von Fluggästen offenbart ein sehr unterschiedliches Verständnis von individueller Freiheit und von Datenschutz.
Mit den Anschlägen von New York ging auch jene Epoche der transatlantischen Arbeitsteilung zu Ende, in der Europa sich über Jahrzehnte hinweg so bequem eingerichtet hatte: Man war zwar Bündnispartner in der NATO, aber man vertraute darauf, dass die Führungsmacht USA die gemeinsame Sicherheit garantiere. Das erste politische Opfer der Anschläge war der Multilateralismus. Die schöne Idee, dass den großen Herausforderungen an die internationale Sicherheit nur noch partnerschaftlich und nur noch auf der Basis des Völkerrechtes begegnet werden sollte, überstand nicht einmal die ersten Stunden nach den Anschlägen.
Das tief verwundete Amerika ließ alle Rücksicht auf seine Freunde und auf die Vereinten Nationen fahren. Im selbst erklärten Krieg gegen den Terrorismus forderte Washington bedingungslose Gefolgschaft ein. Das war ein dramatischer Kurswechsel. In den 90er-Jahren, in der Euphorie über den Fall der Mauer und über den Zusammenbruch der Sowjetunion hatte der alte Präsident George Bush den Europäern noch eine Partnerschaft auf Augenhöhe angetragen. Bushs Nachfolger Bill Clinton setzte ganz auf Multilateralismus.
Bushs Sohn George W. aber, in dessen noch junge Präsidentschaft die Anschläge von El Kaida gefallen waren, wollte von alledem nichts mehr wissen. Nur neun Tage nach den Anschlägen sagte er in einer Rede vor dem amerikanischen Kongress:
"Jeder Staat muss sich jetzt entscheiden, ob er auf unserer Seite steht oder auf der der Terroristen."
Dieses Prinzip: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich, machte Bush zur Grundlage seiner Politik gegen den Terror. Damit löste er im transatlantischen Verhältnis eine schwere und lang anhaltende Krise aus.
Der Konflikt zwischen Amerika und Europa dauert bis heute an. Dabei hatte es am 11.September zuerst so ausgesehen, als ob El Kaida den Westen fest zusammenschweißen würde. Noch am Tag der Anschläge erklärte der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder:
"Dies ist eine Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt. Wer diesen Terroristen hilft oder sie schützt, verstößt gegen alle fundamentalen Werte, die das Zusammenleben unter den Völkern begründen."
Und nur Stunden später zeigte sich Schröder vor dem Bundestag noch überzeugt, dass Amerika nicht blindwütig reagieren werde. Aber er zog auch eine Linie für Deutschland. Eine, die so - oder so ähnlich - wohl auch in den meisten anderen europäischen Ländern gezogen wurde:
"Zu Risiken, auch im Militärischen, ist Deutschland bereit zu Abenteuern nicht. Diese werden von uns dank der besonnenen Haltung der amerikanischen Regierung auch nicht verlangt. Und ich denke, das wird so bleiben."
Das war eine vergebliche Hoffnung. Besonnenheit war in Washington nicht das Gebot der Stunde. Und Partnerschaft schon einmal gar nicht.
Washington wollte weder auf seine Verbündeten hören noch ihnen eine Mitsprache einräumen. Bush, sein Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, Außenminister Colin Powell und Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice setzten sowohl bei dem Angriff auf El Kaida und die Taliban in Afghanistan wie bei dem Krieg gegen den Irak auf das Prinzip der "Koalition der Willigen".
Und die NATO werde man, so hieß es in der amerikanischen Diplomatie ganz offen, nur noch als "toolbox" benutzen, also als einen Werkzeugkasten, aus dem man sich nach Belieben und nach jeweiligem Nutzen bedient.
Eine Demütigung für die europäischen Alliierten ausgerechnet in einer Stunde, in der sich die Allianz hätte bewähren können.
Damit nicht genug. Anfang 2002 nahm Präsident Bush für Amerika auch noch das Recht auf präventive Kriege in Anspruch nahm, weil es eine "Achse des Bösen" gebe, zu der er unter anderen den Irak und Nordkorea zählte. Die meisten europäischen Staaten wollten diesen Weg nicht mitgehen. Am 8. November 2002 zog der damalige französische Präsident Jacques Chirac die rote Linie:
"Es gibt heute die Versuchung, die unilaterale und vorbeugende Anwendung von Gewalt zu legitimieren. Diese Entwicklung ist beunruhigend. Sie widerspricht Frankreichs Vision der kollektiven Sicherheit, welche auf Zusammenarbeit der Staaten, Respektierung des Rechts und der Autorität des UN-Sicherheitsrates beruht. Wenn Bagdad weiterhin die bedingungslose Rückkehr der UN-Inspekteure ablehnt, muss der Sicherheitsrat - und nur er - in der Lage sein, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen."
Gut ein Jahr nach dem 11.September ging es im Streit zwischen den USA und Europa also schon um sehr grundsätzliche Fragen. Ob man "Krieg" gegen den Terror führen muss, wie die Amerikaner behaupten oder ob es um einen "Kampf" gegen die Terroristen geht, wie die Europäer sagen, das war mehr als nur ein Streit um Worte. Es ging darum, wie man dem Problem am besten beikommt. Vor allem militärisch, wie die USA überzeugt waren?
Die Europäer glaubten das nicht. Spätestens als die USA sich auf Basis ihrer Doktrin vom Krieg gegen den Terror entschlossen, in den Irak einzumarschieren, musste Europa seinen eigenen Weg in der Sicherheitspolitik suchen. Die Hardliner rund um den amerikanischen Präsidenten hatten die USA aus allen multilateralen Zusammenhängen ausgekoppelt. Und sie betrieben auch aktiv die Spaltung der Europäischen Union und der NATO. Allen voran der amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld.
Verärgert darüber, dass sich eine nennenswerte Zahl europäischer Staaten - mit Frankreich und Deutschland an der Spitze - gegen den von ihm geplanten Krieg gegen den Irak ausgesprochen hatten, teilte er die Europäer kurzerhand in "neues" und "altes" Europa ein. Das neue, also "gute" Europa, waren Länder wie Großbritannien, Spanien, Portugal oder Polen, die beim Waffengang gegen Saddam Hussein mitmachten. Das alte Europa, das waren nach Washingtoner Lesart die, die gegen Amerika waren.
Einer von ihnen: der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2003 sagte er Rumsfeld mit Blick auf den geplanten Feldzug gegen den Irak ins Gesicht, was er davon hielt: Nichts.
"Und deswegen ist die erste kritische Frage, die ich stelle: warum diese Prioritätensetzung jetzt. Bis heute, und das sage ich ihnen ehrlich, leuchtet mir das nicht ein. Saddam Hussein ist ein furchtbarer Diktator, das wissen wir alle seit Langem. Er hat Massenvernichtungswaffen gegen den Iran eingesetzt. Er hat den Iran überfallen. Er hat Israel mit Raketen beschossen. Er unterdrückt auf brutalste Art und Weise die Opposition und die eigene Bevölkerung. Das wissen wir alles. Und er versucht, sich in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu bringen. Nur, rechtfertigt das diese Prioritätensetzung angesichts der Bedrohung, die wir seit dem 11.September haben? I am not convinced, that's my problem."
Not convinced - nicht überzeugt: Spätestens seit dieser, für die deutsch-amerikanischen Beziehungen ungeheuerlichen Konfrontation, war eines klar: Es ging nicht mehr nur um strategische Meinungsverschiedenheiten, sondern um eine grundsätzliche Frage. Nämlich darum, wie demokratische Staaten, die sich dem Frieden, den Menschenrechten und dem Völkerrecht verpflichtet fühlen, den Herausforderungen einer Welt begegnen, die immer komplizierter und auch immer gewalttätiger wird.
Aus ihren langen, historischen Erfahrungen heraus, stehen Europäer einfachen Lösungen für komplexe Probleme skeptisch gegenüber. Einem losen, internationalen Terroristennetzwerk, dessen Mitglieder nur schwer zu identifizieren sind, mit militärischen Mitteln und Strategien beikommen zu wollen, schien den Europäern zu einfach, zu wenig Erfolg versprechend. Sie fürchteten, dass die amerikanische Strategie die Krisenregionen im Mittleren Osten nur noch weiter destabilisieren würde.
Die Bedenken seiner alten Partner und Freunde servierte Washington mit einer Neuaufteilung des Westens ab. Robert Kagan, der intellektuelle Marktschreier der Bush-Jahre, titulierte Europa als "Venus" und Amerika als "Mars". Was im Kern nur heißen sollte, dass die Europäer zu feige seien, um zu kämpfen, und dass allein die Amerikaner die gemeinsamen Werte mit der Waffe in der Hand zu verteidigen bereit seien. Verächtlich wurde in Amerika über die europäische Soft-Power geredet. Europa, ein dekadenter und feiger Haufen? Wie tief diese Überzeugung bei konservativen Amerikanern immer noch sitzt, offenbarte Barack Obamas damaliger Verteidigungsminister Robert Gates noch im Juni 2011.
"Früher habe ich offen die Sorge geäußert, dass sich die NATO zweiteilen könnte: In die Mitglieder auf der einen Seite, die sich auf humanitäre Aufgaben, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensgespräche spezialisieren und diejenigen, die auf der anderen Seite die harten Kampfeinsätze führen. Also die, die bereit und fähig sind, Preis und Last von Bündnisverpflichtungen zu tragen. Und dann diejenigen, die die Vorteile der NATO-Mitgliedschaft genießen, die Risiken und Kosten aber nicht teilen wollen. Das ist nun keine hypothetische Sorge mehr, das ist heute Realität – und sie ist nicht hinnehmbar."
In einem Punkt hat Gates recht: Die europäischen Regierungen sind trotz gestiegener Bedrohungen unwillig, mehr Geld für die Verteidigung auszugeben. Es ist auch richtig, dass viele der Versprechen, die europäische Regierungen zur Ausstattung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union gemacht haben, nie eingehalten wurden. Es stimmt auch, dass die Union sich über den Einsatz in Libyen gegen Muammar al-Gaddafi zerstritt und dass Frankreich und Großbritannien diesen Einsatz ohne die Hilfe der Amerikaner niemals hätten stemmen können. Was nicht gerade dafür spricht, dass die Europäer auf dem Weg zu einer praktischen, gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik schon erheblich vorangekommen wären.
Doch anders als Gates und so mancher in Washington der Welt einreden möchte, ist die Ansicht, Europa sei die kampfesunlustige und harmoniesüchtige Venus nicht nur simpel, sie ist auch falsch. Als amerikanische Truppen in Afghanistan und im Irak scheinbar von Sieg zu Sieg zogen und die Strategie Washingtons zu bestätigen schienen, einigten sich die Europäer im Dezember 2003 auf eine "Europäische Sicherheitsstrategie". Das war ein vollständiger Gegenentwurf zur amerikanischen Strategie. Im Zentrum des europäischen Denkens steht nach wie vor die Überzeugung, dass keine der neuen Herausforderungen an die Sicherheit rein militärischer Natur ist und dass ihnen deswegen auch nicht nur mit militärischen Mitteln begegnet werden kann.
Der amerikanischen Idee vom vorbeugenden Militärschlag setzten die Europäer das Prinzip der Krisenprävention entgegen, die beginnt, lange bevor eine Krise zum offenen Konflikt wird. Das europäische Prinzip ist einfach, aber revolutionär: Alles, was zur Bewältigung einer entstehenden oder einer schon ausgebrochenen Krise taugt, wird von vornherein zusammengeführt und aufeinander abgestimmt. Im Brüsseler Hauptquartier der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU arbeiten militärische Planer Hand in Hand mit den Spezialisten für zivile Krisenbewältigung und für den Aufbau rechtsstaatlicher Verwaltungen, also mit Richtern, Polizisten, Verwaltungsfachleuten und Ökonomen.
Dieser integrierte Ansatz, den Einsatz von Soldaten untrennbar mit den Instrumenten für den Wiederaufbau eines Staates und einer Gesellschaft und deren Stabilisierung zu verbinden, wurde in den USA lange belächelt. Doch inzwischen haben die Amerikaner und die NATO diesen europäischen Ansatz weitgehend für Afghanistan übernommen. Denn als sich der Krieg am Hindukusch immer länger hinzog und der Widerstand im Land immer größer wurde, begriff auch der amerikanische Generalstab, dass der Krieg militärisch nicht zu gewinnen ist.
Für Afghanistan kommt diese Besinnung vermutlich zu spät. Europäer und Amerikaner aber hat sie nach einem Jahrzehnt, das für die transatlantischen Beziehungen ein verlorenes war, wieder einander näher gebracht. Zwar sehen sie die Welt nach wie vor nicht mit gleichen Augen und werden das wohl auch nicht mehr tun. Aber immerhin: Multilateralismus ist im Washington Barack Obamas kein Schimpfwort mehr.
In seiner Rede an der Berliner Siegessäule betonte Obama im Oktober 2008:
"Amerika hat keinen besseren Partner als Europa. Und jetzt ist es an der Zeit rund um Welt neuen Brücken zu bauen, die so stark sind, wie die, die uns über den Atlantik verbindet."
Zugegeben: Die Europäer haben immer noch Schwierigkeiten, sich als außenpolitische und sicherheitspolitische Akteure selbstbewusst und entschieden auf der Weltbühne zu bewegen. Doch eines haben sie begriffen: Es ist gut, sich auf einen starken Partner wie die USA in einem starken Bündnis wie der NATO stützen zu können. Trotzdem muss Europa in einer sich täglich verändernden Welt auf eigenen Beinen stehen und gehen. Im Zweifel auch allein.
Mehr zum Thema:
Sammelportal 9/11 - Zehn Jahre danach
Die Terroristen der El Kaida hatten den ganzen Westen herausgefordert. Dabei legten sie bloß, wie uneinig dieser Westen im Umgang mit gewalttätigen politischen Bewegungen ist. So mussten sich die europäischen Staaten nicht nur der Terroristen auf ihrem eigenen Territorium erwehren. Sie mussten sich auch mit einer Führungsmacht auseinandersetzen, die sich in den Augen der Mehrheit der Europäer in ihrem Krieg gegen den Terror gefährlich verrannte.
Der islamistische Terrorismus war und ist kein amerikanisches Problem. Er war in Europa schon zu Hause, als die Türme in New York noch standen. Die Attentäter waren in Deutschland auf ihre Taten vorbereitet worden. Über europäische Konten und obskure Stiftungen lief das Geld für die Einsätze.
Aber erst mit dem Anschlag in Amerika begriffen die Europäer, was sich unter ihren Augen abspielte. Und was mit all seinem Horror auch den alten Kontinent heimsuchen sollte. Am 11. März 2004 schlugen islamistische Terroristen in Madrid während des Berufsverkehrs mit einer ganzen Serie von Bomben zu. 191 Menschen starben und über 2000 wurden verletzt.
Der spanische König Juan Carlos wandte sich in einer Fernsehansprache ans Volk.
"Barbarische Terroristen haben Spanien in tiefsten Schmerz und Verzweiflung gestürzt. Frauen, Männer, Kinder und dazu auch viele Menschen aus anderen Ländern, einfach nur auf dem Weg zu ihren alltäglichen Zielen, zur Schule oder Arbeit, wurden brutal konfrontiert mit Tod und Leid."
Bundeskanzler Gerhard Schröder sprach den Opfern und Angehörigen sein Mitgefühl aus und zeigte sich besorgt über das Ausmaß der Gewalt:
"Diese Dimension, dieses Ausmaß an Terror hat es in Europa in der letzten Zeit nicht gegeben. Natürlich ist damit eine neue Qualität auch verbunden. Das kann ja gar keine Frage sein. Damit werden wir uns sehr, sehr lange auseinandersetzen müssen. Das befürchte ich jedenfalls."
Nur ein Jahr später, am 7. Juli 2005, sprengten sich vier Selbstmordattentäter in drei Londoner U-Bahnen und in einem Doppeldeckerbus in die Luft. Sie rissen 56 Menschen mit in den Tod. 700 wurden verletzt. Premierminister Blair trat beim G-8-Gipfel in Schottland vor die Presse:
"Wir sind gemeinsam entschlossen, diesen Terrorismus zu bekämpfen, der sich nicht gegen eine Nation, sondern gegen alle Nationen gerichtet hat."
Auch die Bundesregierung sah eine allgemeine Bedrohungslage für Europa und trat für Geschlossenheit ein. Innenminister Otto Schily und Außenminister Joschka Fischer:
"Die Anschläge, die in London verübt worden sind, entsprechen den Gefährdungseinschätzungen unserer Sicherheitsbehörden. Es gibt einen weltweiten Gefahrenraum, in dem die Strukturen des islamistischen Terrorismus immer noch handlungsfähig sind. Die Bundesregierung verurteilt diese verbrecherischen Anschläge auf das Schärfste. Unsere unerschütterliche Solidarität gilt jetzt unseren Freunden in Großbritannien. Der Terrorismus darf und er wird sich nicht durchsetzen."
Mit politisch oder ideologisch motivierter Gewalt hatten die Europäer schon vor dem 11. September einige Erfahrung. Sie haben unter den Anschlägen der irischen IRA, der baskischen ETA, der italienischen Brigate Rosse genauso gelitten wie unter denen der deutschen RAF oder der palästinensischen PLO. El Kaida mit seinem weltumspannenden Netzwerk stellte sie aber vor eine ganz neue Herausforderung: Sie mussten eine gemeinsame, innere Sicherheit entwickeln.
Der 11. September wirkte auf die europäische Zusammenarbeit bei der inneren Sicherheit und im Rechtswesen wie ein Beschleuniger. Vieles, was sich vorher mühsam dahinschleppte, war plötzlich möglich.
Und anders als die USA richteten sie ihre Politik nicht an der Maxime aus, dass der Zweck alle Mittel heiligt. Der fortdauernde transatlantische Streit etwa um die Weitergabe der Daten von Bankkunden und von Fluggästen offenbart ein sehr unterschiedliches Verständnis von individueller Freiheit und von Datenschutz.
Mit den Anschlägen von New York ging auch jene Epoche der transatlantischen Arbeitsteilung zu Ende, in der Europa sich über Jahrzehnte hinweg so bequem eingerichtet hatte: Man war zwar Bündnispartner in der NATO, aber man vertraute darauf, dass die Führungsmacht USA die gemeinsame Sicherheit garantiere. Das erste politische Opfer der Anschläge war der Multilateralismus. Die schöne Idee, dass den großen Herausforderungen an die internationale Sicherheit nur noch partnerschaftlich und nur noch auf der Basis des Völkerrechtes begegnet werden sollte, überstand nicht einmal die ersten Stunden nach den Anschlägen.
Das tief verwundete Amerika ließ alle Rücksicht auf seine Freunde und auf die Vereinten Nationen fahren. Im selbst erklärten Krieg gegen den Terrorismus forderte Washington bedingungslose Gefolgschaft ein. Das war ein dramatischer Kurswechsel. In den 90er-Jahren, in der Euphorie über den Fall der Mauer und über den Zusammenbruch der Sowjetunion hatte der alte Präsident George Bush den Europäern noch eine Partnerschaft auf Augenhöhe angetragen. Bushs Nachfolger Bill Clinton setzte ganz auf Multilateralismus.
Bushs Sohn George W. aber, in dessen noch junge Präsidentschaft die Anschläge von El Kaida gefallen waren, wollte von alledem nichts mehr wissen. Nur neun Tage nach den Anschlägen sagte er in einer Rede vor dem amerikanischen Kongress:
"Jeder Staat muss sich jetzt entscheiden, ob er auf unserer Seite steht oder auf der der Terroristen."
Dieses Prinzip: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich, machte Bush zur Grundlage seiner Politik gegen den Terror. Damit löste er im transatlantischen Verhältnis eine schwere und lang anhaltende Krise aus.
Der Konflikt zwischen Amerika und Europa dauert bis heute an. Dabei hatte es am 11.September zuerst so ausgesehen, als ob El Kaida den Westen fest zusammenschweißen würde. Noch am Tag der Anschläge erklärte der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder:
"Dies ist eine Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt. Wer diesen Terroristen hilft oder sie schützt, verstößt gegen alle fundamentalen Werte, die das Zusammenleben unter den Völkern begründen."
Und nur Stunden später zeigte sich Schröder vor dem Bundestag noch überzeugt, dass Amerika nicht blindwütig reagieren werde. Aber er zog auch eine Linie für Deutschland. Eine, die so - oder so ähnlich - wohl auch in den meisten anderen europäischen Ländern gezogen wurde:
"Zu Risiken, auch im Militärischen, ist Deutschland bereit zu Abenteuern nicht. Diese werden von uns dank der besonnenen Haltung der amerikanischen Regierung auch nicht verlangt. Und ich denke, das wird so bleiben."
Das war eine vergebliche Hoffnung. Besonnenheit war in Washington nicht das Gebot der Stunde. Und Partnerschaft schon einmal gar nicht.
Washington wollte weder auf seine Verbündeten hören noch ihnen eine Mitsprache einräumen. Bush, sein Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, Außenminister Colin Powell und Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice setzten sowohl bei dem Angriff auf El Kaida und die Taliban in Afghanistan wie bei dem Krieg gegen den Irak auf das Prinzip der "Koalition der Willigen".
Und die NATO werde man, so hieß es in der amerikanischen Diplomatie ganz offen, nur noch als "toolbox" benutzen, also als einen Werkzeugkasten, aus dem man sich nach Belieben und nach jeweiligem Nutzen bedient.
Eine Demütigung für die europäischen Alliierten ausgerechnet in einer Stunde, in der sich die Allianz hätte bewähren können.
Damit nicht genug. Anfang 2002 nahm Präsident Bush für Amerika auch noch das Recht auf präventive Kriege in Anspruch nahm, weil es eine "Achse des Bösen" gebe, zu der er unter anderen den Irak und Nordkorea zählte. Die meisten europäischen Staaten wollten diesen Weg nicht mitgehen. Am 8. November 2002 zog der damalige französische Präsident Jacques Chirac die rote Linie:
"Es gibt heute die Versuchung, die unilaterale und vorbeugende Anwendung von Gewalt zu legitimieren. Diese Entwicklung ist beunruhigend. Sie widerspricht Frankreichs Vision der kollektiven Sicherheit, welche auf Zusammenarbeit der Staaten, Respektierung des Rechts und der Autorität des UN-Sicherheitsrates beruht. Wenn Bagdad weiterhin die bedingungslose Rückkehr der UN-Inspekteure ablehnt, muss der Sicherheitsrat - und nur er - in der Lage sein, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen."
Gut ein Jahr nach dem 11.September ging es im Streit zwischen den USA und Europa also schon um sehr grundsätzliche Fragen. Ob man "Krieg" gegen den Terror führen muss, wie die Amerikaner behaupten oder ob es um einen "Kampf" gegen die Terroristen geht, wie die Europäer sagen, das war mehr als nur ein Streit um Worte. Es ging darum, wie man dem Problem am besten beikommt. Vor allem militärisch, wie die USA überzeugt waren?
Die Europäer glaubten das nicht. Spätestens als die USA sich auf Basis ihrer Doktrin vom Krieg gegen den Terror entschlossen, in den Irak einzumarschieren, musste Europa seinen eigenen Weg in der Sicherheitspolitik suchen. Die Hardliner rund um den amerikanischen Präsidenten hatten die USA aus allen multilateralen Zusammenhängen ausgekoppelt. Und sie betrieben auch aktiv die Spaltung der Europäischen Union und der NATO. Allen voran der amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld.
Verärgert darüber, dass sich eine nennenswerte Zahl europäischer Staaten - mit Frankreich und Deutschland an der Spitze - gegen den von ihm geplanten Krieg gegen den Irak ausgesprochen hatten, teilte er die Europäer kurzerhand in "neues" und "altes" Europa ein. Das neue, also "gute" Europa, waren Länder wie Großbritannien, Spanien, Portugal oder Polen, die beim Waffengang gegen Saddam Hussein mitmachten. Das alte Europa, das waren nach Washingtoner Lesart die, die gegen Amerika waren.
Einer von ihnen: der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2003 sagte er Rumsfeld mit Blick auf den geplanten Feldzug gegen den Irak ins Gesicht, was er davon hielt: Nichts.
"Und deswegen ist die erste kritische Frage, die ich stelle: warum diese Prioritätensetzung jetzt. Bis heute, und das sage ich ihnen ehrlich, leuchtet mir das nicht ein. Saddam Hussein ist ein furchtbarer Diktator, das wissen wir alle seit Langem. Er hat Massenvernichtungswaffen gegen den Iran eingesetzt. Er hat den Iran überfallen. Er hat Israel mit Raketen beschossen. Er unterdrückt auf brutalste Art und Weise die Opposition und die eigene Bevölkerung. Das wissen wir alles. Und er versucht, sich in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu bringen. Nur, rechtfertigt das diese Prioritätensetzung angesichts der Bedrohung, die wir seit dem 11.September haben? I am not convinced, that's my problem."
Not convinced - nicht überzeugt: Spätestens seit dieser, für die deutsch-amerikanischen Beziehungen ungeheuerlichen Konfrontation, war eines klar: Es ging nicht mehr nur um strategische Meinungsverschiedenheiten, sondern um eine grundsätzliche Frage. Nämlich darum, wie demokratische Staaten, die sich dem Frieden, den Menschenrechten und dem Völkerrecht verpflichtet fühlen, den Herausforderungen einer Welt begegnen, die immer komplizierter und auch immer gewalttätiger wird.
Aus ihren langen, historischen Erfahrungen heraus, stehen Europäer einfachen Lösungen für komplexe Probleme skeptisch gegenüber. Einem losen, internationalen Terroristennetzwerk, dessen Mitglieder nur schwer zu identifizieren sind, mit militärischen Mitteln und Strategien beikommen zu wollen, schien den Europäern zu einfach, zu wenig Erfolg versprechend. Sie fürchteten, dass die amerikanische Strategie die Krisenregionen im Mittleren Osten nur noch weiter destabilisieren würde.
Die Bedenken seiner alten Partner und Freunde servierte Washington mit einer Neuaufteilung des Westens ab. Robert Kagan, der intellektuelle Marktschreier der Bush-Jahre, titulierte Europa als "Venus" und Amerika als "Mars". Was im Kern nur heißen sollte, dass die Europäer zu feige seien, um zu kämpfen, und dass allein die Amerikaner die gemeinsamen Werte mit der Waffe in der Hand zu verteidigen bereit seien. Verächtlich wurde in Amerika über die europäische Soft-Power geredet. Europa, ein dekadenter und feiger Haufen? Wie tief diese Überzeugung bei konservativen Amerikanern immer noch sitzt, offenbarte Barack Obamas damaliger Verteidigungsminister Robert Gates noch im Juni 2011.
"Früher habe ich offen die Sorge geäußert, dass sich die NATO zweiteilen könnte: In die Mitglieder auf der einen Seite, die sich auf humanitäre Aufgaben, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensgespräche spezialisieren und diejenigen, die auf der anderen Seite die harten Kampfeinsätze führen. Also die, die bereit und fähig sind, Preis und Last von Bündnisverpflichtungen zu tragen. Und dann diejenigen, die die Vorteile der NATO-Mitgliedschaft genießen, die Risiken und Kosten aber nicht teilen wollen. Das ist nun keine hypothetische Sorge mehr, das ist heute Realität – und sie ist nicht hinnehmbar."
In einem Punkt hat Gates recht: Die europäischen Regierungen sind trotz gestiegener Bedrohungen unwillig, mehr Geld für die Verteidigung auszugeben. Es ist auch richtig, dass viele der Versprechen, die europäische Regierungen zur Ausstattung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union gemacht haben, nie eingehalten wurden. Es stimmt auch, dass die Union sich über den Einsatz in Libyen gegen Muammar al-Gaddafi zerstritt und dass Frankreich und Großbritannien diesen Einsatz ohne die Hilfe der Amerikaner niemals hätten stemmen können. Was nicht gerade dafür spricht, dass die Europäer auf dem Weg zu einer praktischen, gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik schon erheblich vorangekommen wären.
Doch anders als Gates und so mancher in Washington der Welt einreden möchte, ist die Ansicht, Europa sei die kampfesunlustige und harmoniesüchtige Venus nicht nur simpel, sie ist auch falsch. Als amerikanische Truppen in Afghanistan und im Irak scheinbar von Sieg zu Sieg zogen und die Strategie Washingtons zu bestätigen schienen, einigten sich die Europäer im Dezember 2003 auf eine "Europäische Sicherheitsstrategie". Das war ein vollständiger Gegenentwurf zur amerikanischen Strategie. Im Zentrum des europäischen Denkens steht nach wie vor die Überzeugung, dass keine der neuen Herausforderungen an die Sicherheit rein militärischer Natur ist und dass ihnen deswegen auch nicht nur mit militärischen Mitteln begegnet werden kann.
Der amerikanischen Idee vom vorbeugenden Militärschlag setzten die Europäer das Prinzip der Krisenprävention entgegen, die beginnt, lange bevor eine Krise zum offenen Konflikt wird. Das europäische Prinzip ist einfach, aber revolutionär: Alles, was zur Bewältigung einer entstehenden oder einer schon ausgebrochenen Krise taugt, wird von vornherein zusammengeführt und aufeinander abgestimmt. Im Brüsseler Hauptquartier der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU arbeiten militärische Planer Hand in Hand mit den Spezialisten für zivile Krisenbewältigung und für den Aufbau rechtsstaatlicher Verwaltungen, also mit Richtern, Polizisten, Verwaltungsfachleuten und Ökonomen.
Dieser integrierte Ansatz, den Einsatz von Soldaten untrennbar mit den Instrumenten für den Wiederaufbau eines Staates und einer Gesellschaft und deren Stabilisierung zu verbinden, wurde in den USA lange belächelt. Doch inzwischen haben die Amerikaner und die NATO diesen europäischen Ansatz weitgehend für Afghanistan übernommen. Denn als sich der Krieg am Hindukusch immer länger hinzog und der Widerstand im Land immer größer wurde, begriff auch der amerikanische Generalstab, dass der Krieg militärisch nicht zu gewinnen ist.
Für Afghanistan kommt diese Besinnung vermutlich zu spät. Europäer und Amerikaner aber hat sie nach einem Jahrzehnt, das für die transatlantischen Beziehungen ein verlorenes war, wieder einander näher gebracht. Zwar sehen sie die Welt nach wie vor nicht mit gleichen Augen und werden das wohl auch nicht mehr tun. Aber immerhin: Multilateralismus ist im Washington Barack Obamas kein Schimpfwort mehr.
In seiner Rede an der Berliner Siegessäule betonte Obama im Oktober 2008:
"Amerika hat keinen besseren Partner als Europa. Und jetzt ist es an der Zeit rund um Welt neuen Brücken zu bauen, die so stark sind, wie die, die uns über den Atlantik verbindet."
Zugegeben: Die Europäer haben immer noch Schwierigkeiten, sich als außenpolitische und sicherheitspolitische Akteure selbstbewusst und entschieden auf der Weltbühne zu bewegen. Doch eines haben sie begriffen: Es ist gut, sich auf einen starken Partner wie die USA in einem starken Bündnis wie der NATO stützen zu können. Trotzdem muss Europa in einer sich täglich verändernden Welt auf eigenen Beinen stehen und gehen. Im Zweifel auch allein.
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