Archiv

Krise im DFB
Scout Sen: "Man erstickt ein wenig den Hunger der Spieler"

Die deutsche U21-Fußball-Nationalelf ist in der EM-Vorrunde ausgeschieden. Das verschäft die DFB-Krise zusätzlich. Jugendtrainer Gora Sen kritisiert im Dlf, dass Nachwuchsspieler zu sehr verwöhnt werden und prangert den zu starken Fokus auf Siege an.

Gora Sen im Gespräch mit Maximilian Rieger | 02.07.2023
Deutschlands Yannik Keitel (li.) und Finn Ole Becker sprechen nach dem Ausscheiden bei der U21-Europameisterschaft mit Zuschauern auf der Tribüne.
Nach dem Aus des A-Teams bei der WM in Katar musste der Deutsche Fußballbund mit dem EM-Vorrundenaus der U21 den nächsten Tiefschlag hinnehmen. Die Mängel im Nachwuchssystem werden immer offensichtlicher. (dpa / picture alliance / Sebastian Kahnert)
Das Aus der U21 hat den schwarzen Juni des deutschen Fußballs komplett gemacht. Immer offensichtlicher wird, dass der überakademisierte Ansatz im Nachwuchs nicht funktioniert hat - und die alten Erfolgstugenden vernachlässigt wurden.
Die verpflichtende Einführung von Nachwuchsleistungszentren in den Profiklubs war zu Beginn des Jahrtausends einer der wichtigsten Gründe für den steilen Aufstieg der deutschen Nationalmannschaft: vom EM-Vorrundenaus 2000 zum Weltmeister 2014. Mittlerweile sind sich viele Experten aber auch einig: Was in den Zentren gelehrt und wie es vermittelt wird, ist eine der Hauptursachen für die aktuelle Krise.

Siege als alleinige Währung

Der langjährige Jugendtrainer Gora Sen und der Sportwissenschaftler Leo-Jonathan Teßmann haben darüber ein Buch geschrieben: "Denkfabrik Nachwuchsfußball. Wie können wir es besser machen?" Sen arbeitet seit vielen Jahren als Jugendtrainer, unter anderem auch bei Hertha BSC, und ist Scout für den DFB.
"Es geht um zu viel", sagte Sen im Deutschlandfunk. "Und zwar für alle Beteiligten am Spiel, weil das ganze System durchdrungen ist von wirtschaftlichen Erwägungen. Es ist sehr, sehr viel Geld in diesem Kreislauf Fußball und auch im Nachwuchs." Wegen des vielen Geldes werde auch im Jugendfußball "das unbedingte Herbeiführen von Siegen der alleinige Zweck."

Die Spätzünder werden außen vor gelassen

Deswegen werde der momentan individuell eher schwächere Spieler eher am Rand gelassen und nicht eingesetzt, weil der Einsatz des aktuell besser entwickelten Spielers die Wahrscheinlichkeit erhöhe, dass das Team gewinnt. Daher werden vorallem die körperlich Frühentwickelten eingesetzt, kritisiert Sen den Auswahlprozess von jungen Talenden. Bei Sichtungsturnieren werden Kinder aus dem dritten oder vierten Quartal eines Jahrgangs nur zu 20 Prozent ausgewählt, sagt Sen.
Um dem Wettbewerbsdruck zu begegen, will der DFB deswegen zusammen mit den Landesverbänden und den Vereinen die bisherigen A- und B-Junioren-Bundesligen ab 2024 reformieren. Aus ihnen sollen die U19- und U17-Nachwuchsligen werden. Im Moment kämpfen auch die Jugend-Mannschaften in den Bundesligen gegen den Abstieg. Gerade Vereine aus der Herren-Bundesliga können sich im Kampf um die Talente so einen Abstieg nicht leisten – entsprechend groß ist der Druck, Siege zu erringen.

Der DFB plant die Reform, um den Druck rauszunehmen

Die individuelle Entwicklung der einzelnen Spieler gerate dabei in den Hintergrund, so der DFB. Deswegen schafft er jetzt ein System, in dem die 56 Vereine mit Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) nicht absteigen können. Stattdessen gibt es in der Vorrunde mehrere regionale Staffeln, in denen auch Jugend-Mannschaften von Amateurteams mitspielen können.
Die besten Teams aus diesen Staffeln spielen dann in der Hauptrunde die Meisterschaft aus. Die anderen Teams spielen untereinander in einer sogenannten B-Liga. Dadurch soll es insgesamt zu mehr Duellen auf Augenhöhe kommen. "Das ist ein Mittel, um dem stattfindenden Wahnsinn im Moment zu begegnen", findet Sen.
Wichtig sei auch, den Fokus auf die individuelle Entwicklung der Spieler zu legen. In Deutschland werde dies noch zu selten über spielerische Trainingsformen eingeübt. "Das Spiel lehrt uns die meisten Dinge", meint Sen und deswegen sei es so wichtig, möglichst viel zu spielen. "Die wichtigste Fähigkeit als Profi-Fußballer ist es, anpassungsfähig zu sein", so Sen.
Der Jugendtrainer kritisiert deswegen auch die Atmosphäre an den Nachwuchsleistungszentren. Durch die Konkurenz zwischen den Vereinen würden die einzelnen Klubs viel Geld in die Infrastruktur und in eine Wohlfühlatmosphäre stecken, damit sich die Talente für das entsprechende Nachwuchsleistungszentrum entscheiden.
"Auf diesem Weg erstickt man ein wenig den Hunger der Spieler und der Hunger ist ja eigentlich der Treibstoff der Spieler", analysiert Sen. Die Kraft, das innere Feuer, müsse erhalten und gefördert werden. Das passiere nicht nur auf dem Trainingsplatz, sondern rund um die Uhr, mahnt er an.