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Krise im Libanon
Kliniken warnen vor dem Kollaps

Korruption, fehlende Devisen und eine horrende Staatsverschuldung: Im Libanon gehen dringend benötigte Medizinprodukte zur Neige. Sie werden kaum noch importiert, weil das Land in einer schweren Wirtschaftskrise steckt. Ärzte warnen vor einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems.

Von Anne Allmeling |
Die vermummte Frau mit roter Mütze blickt in die Kamera und macht mit den Fingern das Victory-Zeichen. Der Hintergrund ist schwarz von dichtem Rauch.
Proteste gegen die libanesische Regierung brachen sich im Oktober 2019 Bahn (Hussein Malla / AP / dpa)
Robin Aghajanian bei der Visite. Seine Patientin ist wohlauf. Vor zwei Tagen wurde die 90-Jährige ins Krankenhaus eingeliefert. Diagnose: Oberschenkelhalsbruch.

"Ich konnte sie operieren. Zum Glück hatten wir das Material vorrätig, das wir brauchten."
Das ist längst nicht mehr selbstverständlich in den Kliniken im Libanon: Schrauben, Prothesen und Implantate fehlen, weil kaum noch Medizinprodukte importiert werden. Dabei sind die Patienten darauf angewiesen.
"In der orthopädischen Chirurgie brauche ich Hilfsmittel, Material; die richtige Prothesengröße für meine Patienten. Man kann die Patienten nicht an das Material anpassen; man muss das Material an die Patienten anpassen. Auf dem OP-Tisch müssen wir alle Größen verfügbar haben."
US-Dollar sind Mangelware
Jahrzehnte lang war das der Standard: Zulieferbetriebe importierten Medizinprodukte aus dem Ausland. Die Kliniken bezahlten dafür in Dollar - ein üblicher Vorgang im Libanon, weil das libanesische Pfund an die US-Währung gekoppelt ist. Doch nun steckt das Land in einer schweren Wirtschaftskrise. Viele Menschen haben das Vertrauen in das libanesische Pfund verloren, und Dollar sind Mangelware.
"Die Importeure brauchen Dollar, aber es gibt keine. Hinzu kommt, dass die Kreditwürdigkeit des Landes und seiner Banken als sehr niedrig eingestuft wurde. Banken in Europa und den USA haben Probleme mit Überweisungen aus dem Libanon", erklärt Sleiman Haroun, Leiter des Haroun-Krankenhauses und Präsident der libanesischen Krankenausgewerkschaft.
"Das hat dazu geführt, dass so gut wie alle Importe von Medizinprodukten im September eingestellt wurden. Die Vorräte, die wir zu dieser Zeit auf Lager hatten, waren ausreichend für vier, fünf Monate. Aber schon jetzt gibt es einen Mangel, weil bereits drei Monate ohne neue Einfuhren vergangenen sind."
Korruption gilt als Hauptursache
Bislang galt der Libanon als eines der fortschrittlichsten Länder im Nahen Osten, wenn es um die Gesundheitsversorgung ging. Selbst während des Bürgerkrieges konnte der Staat Importe aus dem Ausland sicherstellen. Momentan ist das anders.
"Eine solche Situation haben wir noch nie durchgemacht."

Sleiman Haroun hat deshalb einen Brief an die geschäftsführende Regierung geschrieben. Er fordert sie auf, den Krankenhäusern jeden Monat Geld zu überweisen - damit diese die Personalkosten, aber auch die dringend benötigten Medizinprodukte bezahlen können.

Eine Verpflichtung, die die Regierung bereits in den vergangenen Jahren vernachlässigt habe, sagt Aya Majzoub von der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch: "Die Regierung schuldet allein den privaten Krankenhäusern im Libanon 1,3 Milliarden US-Dollar seit 2011. Im Jahr 2019 hat sie noch keine einzige Rechnung beglichen."
Wo das dafür vorgesehene Geld geblieben ist, weiß keiner genau. Klar ist nur, dass die Staatsverschuldung im Libanon mittlerweile auf mehr als 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestiegen ist - eine astronomische Summe. Korruption gilt als Hauptursache. Ein Grund, warum seit knapp zwei Monaten zehntausende Menschen gegen die Mächtigen im Land protestieren - doch eine Lösung zeichnet sich bislang nicht ab.
Der Zusammenbruch ist nah
Im Gegenteil: Zahlreiche Geschäfte im Land haben wegen der Wirtschaftskrise schließen müssen, viele Menschen wurden arbeitslos, und wer nicht dringend medizinische Hilfe braucht, verzichtet sogar auf einen Besuch beim Arzt.
In der Haroun-Klinik ist es in diesen Tagen ungewöhnlich still. Wer es sich erlauben kann, wartet auf bessere Zeiten. Die Ärzte versuchen, die vorhandenen Medizinprodukte so lange wie möglich zu strecken und zuerst den Schwächsten zu helfen, sagt Radiologin Petra Gemayel: "Wir vergeben nur wenige Termine an externe Patienten und konzentrieren uns auf die stationären Patienten, die dringend untersucht werden müssen."
Doch lange, warnt Sleiman Haroun, werde das nicht mehr gutgehen: "Wenn alles so bleibt, wie es ist - und ich habe meinen Brief an den Präsidenten, den Ministerpräsidenten und den Parlarmentspräsidenten, an alle Minister und Abgeordneten im Parlament gerade abgeschickt und sie gewarnt – wenn wir so weitermachten, dann bricht das ganze System spätestens im Januar 2020 zusammen."